Gaby Schumacher

Das Lied der Liebe

Es fröstelt den alten Mann, der dort einsam in seiner ärmlichen Wohnung am Fenster hockt und deprimiert nach draussen blickt. Doch das, was er sieht, hebt seine Stimmung kein bisschen. Er wird nur noch trauriger. Statt auf kleine Gärten oder wenigstens ein paar Bäume und Wiesen schaut er gegen die graue kahle Mauer des nächst stehenden Hochhauses. Kein Grün mildert diesen Anblick. Da sind nur kalte Steine...sonst nichts!

Der Greis erinnert sich an bessere Zeiten.

An Jahre, in denen er als erfolgreicher Geschäftsmann zur feinen Gesellschaft der Stadt zählte und sich vor Einladungen kaum retten konnte. Er war wegen seiner Anständigkeit, Hilfsbereitschaft und seines freundlichen Wesens hoch angesehen. Doch gerade deshalb gab es viele Neider, die ihm beruflich und privat sehr zusetzten. Schließlich brachten sie ihn durch eine eiskalte Intrige in Verruf. Die Bemühungen seiner Anwälte entlasteten ihn letztendlich zwar vor dem Gesetz, doch sein gesellschaftliches Ansehen bekam einen unkittbaren Riss. Er verlor seine Stellung und sogar sein gesamtes Vermögen. Die freundschaftlichen Kontakte verebbten mehr und mehr, bis er eines Tages feststellen musste, dass er ganz allein da stand. Selbst seine Familie mied ihn. Niemand besuchte den alten Mann.

Inzwischen ist die Sehnsucht nach Gesellschaft verdrängt. Mittlerweile hat er sich mit der ihn umgebenden Einsamkeit arrangiert, lebt von seinen Erinnerungen.

Wieder einmal naht das Weihnachtsfest. Anders als in all den Jahren zuvor regen sich in seinem Herzen Gefühle, die zu empfinden er sich notgedrungen eine lange Zeit seines Lebens verboten hat. Nein, er will sie nicht Oberhand gewinnen lassen. Zu groß ist seine Angst, die Mitmenschen könnten ihm ein zweites Mal solch grausame psychische Verletzungen zufügen wie damals. So ringt er mit sich...vergeblich! Er verliert diesen Kampf aus Verbitterung.

Fast unmerklich schleicht sich Neugier ein. Er sitzt an seinem Fenster und lauscht dem anderen Leben da draussen. Einem Leben, das für ihn fremd geworden ist, das die mannigfachen Geräusche des vorweihnachtlichen Treibens ihm jedoch wieder näher bringen.  Zögerlich beobachtet er die emsigen Menschen, die mit den Vorbereitungen für das Christfest beschäftigt hin- und her hasten.

Ein paar Minuten später dann bricht etwas endgültig den Schutzwall der Zurückgezogenheit in seinem vergrämten Herzen. Eine Gruppe munter über den Gehweg hopsender Kinder zieht seinen Blick auf sich. Von ihren strahlenden Gesichtern liest er die erwartungsvolle Freude auf das kommende Fest ab. "Ja", seufzt der alte Mann, "ihr werdet es warm und gemütlich haben, mit Vater und Mutter vor dem Baume stehen, frohe Lieder singen und wunderschöne Geschenke vorfinden. Ihr wisst nicht von mir, der ich arm und einsam bin."

Es rührt sich etwas in seiner Seele, dass er seit Jahren verloren glaubt. Der Wunsch in ihm wird drängender, dass Weihnachten auch für ihn zu einem besonderen Fest  wird und etwas Schönes bereit hält. Erschrocken über sich selbst, versucht er von dieser Regung rasch Abstand zu finden. Alles wird ablaufen wie in den vielen Jahren zuvor: Er wird keinen Besuch bekommen und auch selbst  niemanden aufsuchen. Der einzige Trost am Heiligabend wird ein kleiner Christbaum sein. Vielleicht eine der letzten übrig gebliebenen Tannen vom Weihnachtsbaummarkt, krummer als andere gewachsen und deshalb von den Menschen missachtet.

Wachgerüttelt aus seiner Apathie übermannen den alten Mann Trauer und Verzweiflung. Er, der ehemals souveräne Geschäftsmann, findet den Weg des Gebetes, richtet seine Worte demütig flehend an "Ihn", der allen zuhört. "Bitte lass mich zu Weihnachten auch ein wenig glücklich sein. Das wird mir dann die Einsamkeit für ein paar Stunden erleichtern!"

Heiligabend. Wie in jedem Jahre hat der alte Mann ein winziges Bäumchen erstanden, es in seinem Zimmer aufgestellt und mit ein paar Kerzen und etwas Lametta geschmückt. Allein die richtige Weihnachtsstimmung ist den Anderen vorbehalten, die dieses Fest in der Gemeinschaft mit Familie und Freunden feiern.

Der alte Mann sitzt in seinem Sessel und schaut auf sein kleines Bäumchen. An diesem Abend friert er nicht. Dagegen ist ihm eigenartig feierlich zumute. Er freut sich an dem flackernden Licht der Kerzen, genießt die von den Flammen ausgehende wohltuende Wärme und schließt seine Augen, um diese für ihn ungewöhnliche Stimmung von ganzem Herzen zu geniessen.

Als er sie wieder öffnet, entfährt ihm ein leiser Schrei der Überraschung. In seinem Zimmer wirbeln silbrig glänzende Schneeflöckchen, die sich auf die Zweige des Bäumchens nieder senken. Als blütenweiße Decke verzaubern sie jene schüttere Tanne nach und nach in eine strahlende Schönheit. Der silbrig blitzende Schnee wird vom Kerzenlicht noch zusätzlich mit einem güldenen Schimmer geschmückt. Die Tanne steht dort gleich einem wunderbar funkelnder Diamant. Die Augen des Alten halten sich an dieser Pracht fest. In seinem Herzen empfindet er Wärme und Geborgenheit.

Plötzlich, als sei es des Wunders noch zu wenig, öffnet sich wie von Engelshand das Fenster der kleinen Stube, um einem wunderschönen Vogel Einlass zu gewähren, dessen Gefieder in sämtlichen Farben des Regenbogens glänzt. Er flattert auf die Spitze des Bäumchens und läß sich dort nieder.

Dann öffnet der Vogel seinen Schnabel und trillert ein Lied, so fein und soo jubelnd, dass dem alten Mann die Augen wässrig werden. Tränen der Dankbarkeit und des Glücks schwemmen seinen Kummer hinweg. Sie befreien ihn von all der seelischen Pein, deren Gefangener er so lange gewesen ist.

Ja, es ist ein ganz besonderes Weihnachten.
Sein(!) Weihnachten.
Er ist der Liebe begegnet!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Wörterworte von Iris Bittner



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