Es war früher Nachmittag, am 24. Dezember.
Oma hatte sie warm eingepackt, wie eine Zwiebel. Ein Unterhemd dünn, ein Hemdchen dicker, etwas kratzig, einen dünnen Pullover, einen dickeren, einen Mantel mit Goldknöpfen, dicke Strümpfe auch kratzig, eine Wollmütze, Schal, Handschuhe, noch kratziger, Schuhe, die viel zu klein für die dicken Strümpfe waren....
Schließlich sollte die Kleine zum naheliegenden Rodelberg gehen.
Doch sie hatte es sich anders überlegt. Sie wollte Oma heute am Heiligabend eine Freude machen.
Draußen war es bitterkalt. Sie kannte den Waldweg, denn sie war ihn oft mit Oma im Sommer und Herbst gegangen. Er führte zu den Bauernhöfen, und dort konnte man Eier und Milch kaufen. Auf halber Höhe musste man die Bahngleise überqueren. Das war immer sehr aufregend. Oma schärfte es ihr ein, stehen zu bleiben, zu lauschen, nach links und rechts zu schauen, und dann erst schnell über die Gleise zu laufen. Doch heute sah alles anders aus.
Es hatte geschneit, der schmale Waldweg war kaum zu erkennen. Kein Mensch hatte eine Spur im Schnee hinterlassen.
Die Kleine kletterte die Böschung im Wald hinauf. Dadurch war sie schneller oben.
Und sie wusste, warum sie den Weg verließ, denn dort wachsen keine Christrosen.
Das Laub war rutschig und nass. Manchmal kroch sie wie ein kleiner Hund auf allen vieren. Die Nase fing an zu laufen, doch warum hat man einen Ärmel?
Sie hätte sicher ihr Taschentuch gar nicht gefunden, denn in Handschuhen ist man so ungeschickt.
Sie lief kreuz und quer, immer auf der Suche nach Christrosen, die aus der dünnen Schneedecke an geschützten Plätzen hervor schauten. Da stand eine. Wie schön.
Es war eine Knospe. Sie hatte eine kleine Schneemütze auf. Ihr Herz hüpfte.
„Jetzt habe ich eine“, dachte sie. „Die nehme ich für Oma mit“. Das Pflücken war gar nicht einfach und der Handschuh war im Weg. Ab in die Manteltasche damit.
Der Stiel war hart und gefroren und sehr kurz. Die Kleine räumte das schützende Laub um die Pflanze weg. Sie wollte nicht nur die Knospe haben. Zehn Zentimeter lang musste er sein, das kannte sie von Omas Vase.
Sie knipste ganz vorsichtig mit ihren kleinen Fingernägelchen die Christrose ab.
Doch nur eine? „Die sieht ja ärmlich aus in der Vase“, da nehme ich noch ein Blatt mit“, dachte die Kleine. „ Es müssen mindestens drei Blüten sein“.
An einer besonders geschützten Stelle fand sie ein richtiges „Christrosennest“.
Sie kam aus dem Staunen gar nicht heraus. Geschickt pflückte sie eine Blüte nach der anderen. Im Nu hatte sie ihr Händchen voll.
Nun aber nichts wie nach Hause. Die Hand tat ihr weh. Doch der Handschuh blieb in der Manteltasche.
Nun aber schnell bergab. Manchmal rutschte sie aus. „Wie wird mein Mantel aussehen? Macht nichts, den bringe ich schon wieder sauber, Oma wird schon nichts merken.“ Die Pflanzen hielt sie fest. Sie waren das wichtigste.
Durch das Kreuz- und Quergehen hatte sie sich verirrt. Sie fand den Weg nicht mehr. Das Herzlein klopfte. Angst kroch in die Glieder und ein paar Tränen liefen die Wange hinunter.
„Lieber Gott, hilf mir“, das war ein kleines Stoßgebet, das sie nach oben richtete. Sie kletterte wieder hinauf, fand irgendwann die vertrauten Bahngleise, den Weg zum Überqueren und dann rannte sie den Waldweg herunter.
Nun war ihr alles wieder vertraut.
Die Christrosen versteckte sie hinter dem dicken Vorhang im Flur bei Oma. Den Mantel bürstete sie ordentlich mit der Schuhbürste sauber. Eine andere gab es nicht. In die nassen Schuhe stopfte sie Zeitungspapier.
In ihrer Abwesenheit war bei Oma das Christkind gekommen. Es roch nach Tanne, nach Kakao und Weihnachtsplätzchen und neue Schuhe standen da.
„Da bist du ja, du kommst gerade recht, hast du schöne, rote Bäckchen“, hörte sie Oma sagen. „ Das Christkind war da!“
Und die Kleine holte ihr Sträußlein hervor, sah in Omas verwunderte, gütige Augen und strahlte sie an: „Für Dich, vom Christkind.“
Von ihrer Angst, den Tränen und dem Gebet erzählte sie Oma nichts.
© C.W.