Franz Preitler

Ein Familienleben gerät außer Kontrolle

Es scheint so, als würde sich Andreas wünschen zu träumen. Dicke Schneeflocken fallen willenlos vom Himmel. Es ist ein Tag nach Weihnachten, still und leise. Der Christbaum steht wunderschön geschmückt im Zimmer. Die Kugeln glänzen im Licht und trotzdem findet niemand Freude daran. Im Radio spielen Weihnachtslieder.

Andreas spürt, wie unruhig er jetzt wird, sich Mühe gibt zu lächeln. Es ist nur ein beiläufiges Lächeln. Ein schier furchtbarer Schmerz durchbricht seine Brust. Ihm wird immer mehr klar, das kann kein normaler Tag in seinem kleinen Leben sein. Endlose Stunden, an denen er sein ganzes Glück verliert. Warum auch, sollte man die geliebte Familie verlassen müssen, wenn alles noch vor kurzem in Ordnung schien. Nein, wahrscheinlich ist der Umstand schon sehr lange nicht mehr in Ordnung, nur tat jedes Familienmitglied lediglich so, als wäre alles bestens und man überspielte die ganze Sache einfach. Andreas weiß nicht warum er sich jetzt ganz plötzlich diese Fragen stellt, wenn sie sein Herz so quälen. Darauf gibt es in diesem Moment auch keine Antwort.

Seine geliebte Mama kommt bei der Türe herein, sie ist ein Mensch mit vielen Stärken, jetzt zum Beispiel versucht sie noch viel stärker zu wirken. Es gelingt ihr auch immer wieder. Aber gerade heute nicht, weil sie innerlich spürt, dass sie das letzte Mal bei der Türe reinkommt, wenn Andreas hier ist. Alle im Raum wissen es, senken den Kopf und trotzdem sind die Blicke auf sie gerichtet. Sie sieht Papa an, der zum Einverständnis nickt. Das sollte eine Art von Zeichen, ein Wink sein, etwas zu tun.

Dann schaut sie Andreas an, der dasitzt wie ein Häufchen Elend und sagt: „Andreas, die Großeltern warten bereits auf dich!“ Nun ist es ganz still geworden im Zimmer, die Köpfe aller sind noch gesenkt, man hört lediglich eine Fliege summen. Mama überlegt noch mal und ihr schmal gewordenes Gesicht mit den großen blauen Augen wirkt sehr angespannt. „Andreas, hast du nicht gehört!“ Er sitzt noch immer ruhig und nachdenklich auf der schwarzen Couch, seine Verzweiflung ist ihm in sein kleines Gesicht geschrieben. In der Hand hält er sein Buch, das gestern unter dem Christbaum lag. Er umklammert es förmlich. „Schroom“ ein Frosch erzählt die Geschichte von Schroom, ein Pilzling, von einem Stern gefallen. Er sucht nach der Liebe, trifft dabei merkwürdige Gestalten und zieht in den Süden. In das Land wo die Zitronen wohnen. Andreas träumt immer wieder mit diesem Buch, ebenfalls auf einem Stern zu leben – die ewige Liebe finden. Wie gerne wäre er jetzt auf dem Weg dahin. Ansonsten ist Andreas ein sehr aufgewecktes, lustiges Kind. Aber seit Mama mehr Zeit bei Ärzten und in Krankenhäuser verbringt als zuhause, ist er ganz ruhig und nachdenklich geworden. Liegt nächtelang wach in seinem Bett und beobachtet die Sterne. „Wo fliegen die Sterne hin?“ „Wo sind die Träume, wenn man wach ist?“

Vorige Woche belauschte er die Eltern und so fing er auch das Wort Krebs auf, als Mama vom Arzt zurück kam. Den Tag weiß er noch ganz genau, es schneite in der Nacht sehr viel und er baute für seine Mama einen Schneemann. Direkt beim Eingang zum Garten steht er da, seine kleine Schreibtafel vorne, wo er mit Kreide drauf schrieb:

„Du bist die beste Mama“. Als sie dann sein Zimmer betrat, standen ihr immer noch Tränen in den Augen, sagte aber nichts. Also dachte sich Andreas, es muss ein Geheimnis zwischen ihr und Papa sein, so belauschte er dann das Gespräch der beiden. Diese Gedanken, schwirren gerade wieder in seinem kleinen Kopf mit den blonden Locken umher. Mit einem Ruck hüpft er von der Couch, nimmt seinen Rucksack und geht ganz ruhig ins Vorzimmer. Dort stehen zwei Koffer, die auch mitzunehmen sind. Seine blauen Kulleraugen werden feucht und er schreit ganz laut: „warum“  sagt, mir doch warum darf ich nicht hier bleiben“. Sein Heulen endet mit tiefen langen Seufzern und er geht aus dem Haus, als wäre ihm sein allerliebstes Gut auf der Welt für immer genommen worden. Hin zum Auto, in dem Großvater schon auf ihn wartet. Dieser ist sehr streng und zischt: „räume die Sachen ein, wir fahren jetzt.“ Der Blick des Mannes ist auffordernd, irgendwie ganz unkontrolliert. Andreas denkt sich nur, es wird alles schlimmer werden. Gerade erst ist er in die Volksschule gekommen, er lernte auch neue Freunde kennen. Jetzt soll er in die Stadt ziehen, eine neue Schule mit fremden Klassenkameraden besuchen und bei den Großeltern wohnen. Man kann sehen, wie er seine Gedanken still in sich sammelt, auf eine schwierige Zeit blickt. Auf irgendwas, aber er weiß nicht was so Schlimmes auf ihn zukommen wird. Er spürt nur Angst und Furcht vor dieser neuen Umgebung. Andreas tritt noch mal vom Auto weg, dreht sich um und sieht in die Augen seiner Mama, er erkennt ganz trübe Augen, die nicht mehr leuchten so wie einst, wenn sie an seinem Bettchen Märchen erzählte. Sie schüttelt den Kopf und weint, wie schwer krank muss ein Mensch sein, um sein geliebtes Kind wegzugeben? Sehr schwer krank, sie starrt Andreas eindringlich an, er kann ihren Schmerz erkennen und versteht erst in diesem grausamen Augenblick warum er gehen muss. Sie holt tief Luft und ruft ihm nach „ich werde dich sehr bald zurückholen mein Liebling, ich liebe dich!“ „Ja, Mama ich werde auf dich warten, bis du wieder ganz gesund bist, will dich immer besuchen kommen. Ich liebe dich doch auch so sehr!“ Traurig steigt er in das Auto vom wartenden Mann, langsam fährt der Wagen weg vom Hof. Andreas blickt zurück und winkt mit seiner rechten Hand ganz leicht.  Sie fahren fort vom geliebten Zuhause, der vertrauten Geborgenheit. In eine neue Stadt voller Gefahren und Ängste, aber auch voll von neuen Erkenntnissen und Erfahrungen und seine zusammen gepressten Lippen beben ein wenig. Seine Oma hat vor drei Jahren diesen Mann geheiratet, eigentlich ist er gar nicht sein richtiger Großvater. Vielleicht weckt das auch ein Unbehagen in ihm.  Er zittert vor Angst, man kann ihn kaum mehr Luft holen hören. Andreas schließt die Augen, denkt an „Schroom“, wie er Frau Vanille Kipferl trifft und mit ihr im Wanderhaus glücklich ist. Er sieht seinen schönen Baum im Garten, wo er immer spielte, die Welt noch in Ordnung war.  Die Autofahrt war sehr anstrengend, schien unendlich zu sein. „Jetzt, packe mal deine Sachen im Zimmer aus, dann werde ich nach dir sehen“  so der strenge Mann, als sie im Haus ankommen. Deine Oma ist noch bei ihrer Schwester. Andreas geht ins Zimmer, am liebsten würde er die Türe zusperren, sich einfach verkriechen. Das Zimmer ist sehr ordentlich zusammengeräumt, da steht auch der Großvater schon in der Türe. Er kommt langsam auf ihn zu, drängt ihn in die Ecke. Sein Buch, das er noch immer in der Hand hält, fällt langsam zu Boden. Im Zimmer wird es dunkel. Andreas sieht und spürt die Schatten auf ihn losgehen. Schließt seine Augen, ein innerlicher Kampf beginnt, den er eines Tages gewinnen wird. Gemeinsam mit Zitrone und Frau Vanille Kipferl wird er dann zurück nachhause ziehen. Zur geliebten Mutter, auch wenn sie vielleicht nicht mehr im Haus ist. Irgendwo wird sie weiterleben, auf ihn warten. Vielleicht im Land, wo die Zitronen wohnen. Die Liebe ist dort, wo die Sterne hinfliegen denkt er sich und fliegt davon.  Er möchte noch etwas sagen, aber bringt keinen Ton heraus. Denkt, dieser Moment macht die Realität unfair, nimmt ihm jede Kraft. So kann doch nicht das Leben sein. Irgendwann wird alles wieder gut. Vielleicht erfüllt sich nächste Weihnachten sein größter Wunsch. Zurück zur geliebten Familie, wo er einst so glücklich war.

Es handelt sich hier um eine wahre Geschichte. Für mein Buch "flüchtige Schatten im Winter" habe ich mich mit vielen Menschen getroffen, so wie auch mit diesem jungen Mann, der mir dann "seine Geschichte" erzählte.Franz Preitler, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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flüchtige Schatten im Winter von Franz Preitler



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