Norbert Schimmelpfennig

Zusammenwirken von Computervirus, Zeitungs-Enten und Werwolf

 

An einem sonnigen Tag im Dezember standen verschiedene Menschen am Fluss und beobachteten eine Gruppe Enten, denen sie ab und an Brot zuwarfen, worauf die Enten kurz untertauchten. Ein paar hundert Meter flussaufwärts lag die Universität. Hier, in der Nähe der Mündung in einen längeren Fluss, aber erstreckten sich Parkanlagen und die Altstadt. Der Lärm der Straße war kaum zu hören, lauter war da das Quaken der Enten.

 

So standen hier zwei Geschwister mit ihren Großeltern. Die Kinder verbargen ihre blonden Haare unter Wollmützen, Oma und Opa ihre schon ergrauten Haare unter Pelzmützen.

Der zwölfjährige Paul Peter, der sich gern Pauter nannte, fragte seine Großeltern:

„Wann gehen wir wieder nach Hause?“

Worauf seine Großmutter erwiderte:

„Ist doch so schönes Wetter, wir bleiben noch. Am Computer

habt ihr schon lange genug gespielt!“

Jetzt fragte seine elfjährige Schwester Karoline Else, die sich gern Karolse nannte:

„Warum die Enten nur nicht weiter schwimmen?“

Da entgegnete ihr Großvater:

„Du weißt doch, wie der Bürgermeister von Wesel heißt?“

„Ja: Esel!“

„Und ebenso ist dir auch bekannt, was die Studenten essen?“

„Ja: Enten!“

„Siehst du, und deshalb trauen sich die Enten nicht weiter in Richtung der Universität!“

Als jetzt wieder zwei Enten und ein Küken nach Brot tauchten, das Küken gar mit einer Silberkette um den Hals samt Silberring mit Diamant, die ein offenbar frustrierter Liebhaber ins Wasser geworfen hatte, meinte Pauter, während er auf die Enten deutete:

„Dich da nenne ich jetzt Quak-Untertauch-Untertauch-Quak und dich dort Untertauch-Quak-Quak-Untertauch!“

Da meinte seine Schwester: „Dich lässt das System von Null-Eins-Eins-Null von deinen Computerbits wohl gar nicht los!“

Er streckte seine Zunge heraus und fuhr fort:

„Aber dich kleines Entlein nenne ich Üntertäuchchen!“

Jetzt kam ein Zeitungsverkäufer vorbei und rief aus:

„Wer möchte ein paar Zeitungsenten haben?“

Der Großvater kaufte ihm eine kleine Zeitung ab und meinte sogleich:

„Das hier ist wirklich eine Ente; hört einmal her:

Vor ein paar Tagen saß hier am Fluss eine Jury aus drei Personen: Eine Frau und zwei Männer, einer hatte schon fast eine Glatze, der andere noch volles Haar. Für ein Casting ließen sie eine Menge an Bewerbern vorsingen. Als einige von denen schon so schlecht gesungen hatten, dass die Jury sich die Ohren zuhielt oder in die Knie ging, gab der Mann ohne Glatze eine Warnung in Form eines Wergedichtes von sich, nämlich:

 

Wer hier singt

und andere dadurch in die Knie zwingt,

wird ins Wasser geschmissen

und dort von der Kälte und den Hechten gebissen!"

 

Der Großvater warf die Zeitung gleich weg. Sein Enkel aber wickelte darin heimlich eine CD-Rom ein, welche ein Student, der bei ihnen im Dachgeschoss wohnte, für ihn gebrannt hatte - mit dem Computerspiel TEXT RAIDER oder DIE VIER WERGEDICHTE, das eigentlich erst ab 16 Jahren freigegeben war.

 

Leider nahmen dabei alle - zunächst - auch den Artikel in dieser Zeitung nicht ernst, in dem vor einem Computervirus gewarnt wurde, der von einem Programmierer, welcher gerade seine Kündigung erhalten hatte, in ebendieses Spiel einprogrammiert worden war – und dieser Virus sollte in einer Vollmondnacht aktiviert werden und bewirken, dass eine Spielfigur nach einem Zufallsprinzip aus dem Spiel in die Wirklichkeit heraus springen sollte.

Allerdings sollte, was immer diese Figur in der wirklichen Welt anrichtete, wieder ungeschehen gemacht werden, falls dieser Wechsel eine weitere unangenehme oder unappetitliche Begebenheit, wie in der Zeitungsente, zur Folge hätte und zudem jemand dadurch auf ein weiteres Wergedicht käme - und dann sollte sich auch der Virus selbst eliminieren.

 

Bald darauf brach eine Vollmondnacht an. Da kam es, dass Pauter mitten im Spiel, als er außerdem das Fenster geöffnet hatte, um das Mondlicht herein zu lassen, zum Abendessen gerufen wurde, während gerade Lori Craft, die Heldin des Spieles, einem Werwolf gegenüber treten sollte. Der Virus traf nun diesen Werwolf und beförderte ihn aus dem Spiel heraus in die Wirklichkeit. Den Werwolf hielt es dann nicht in diesem Zimmer, sondern er sprang, als Pauter gerade wieder hereinkam, dem Vollmond entgegen durch das geöffnete Fenster und rannte hinunter zum Fluss, wo er Nahrung witterte. Sogleich schnappte er sich auch das kleine Üntertäuchchen, welches immer noch den Silberring mit Diamant in seinem Schnabel hielt. In seiner Gier verschluckte der Werwolf das Küken gar lebendig, welches dann in seinem Magen erwachte und anfing, mit dem Schnabel und dem Diamantring dagegen zu hacken. Der Diamant war scharf; und da Werwölfe bekanntlich mit Silber getötet werden können, fiel dieser alsbald tot in den Fluss - und das kleine Üntertäuchchen konnte sich frei hacken.

Der Kontakt mit dem Werwolf aber hatte bewirkt, dass es zu einer Werente geworden war und jetzt im Vollmondlicht Menschengestalt annahm.

Pauter hatte dieses Geschehen von Ferne beobachtet, trat nun zu der Werente, die zu einem jungen Mädchen mit schwarzen Haaren mutiert war und sich langsam vom Boden erhob, und meinte zu ihr:

„Da wird sich meine Karolse über eine Schwester freuen – oder einer der Studenten über eine zum Verknallen – also komm schon!“

 

Er und seine Schwester gaben das Mädchen gegenüber den Großeltern als eine Freundin aus, deren Eltern vorübergehend verreisen mussten. Und in der Tat wetteiferten die Studenten darum, der Mensch gewordenen Werente die Stadt zu zeigen.

Einmal ging sie auch mit zu der Mensa über dem Fluss und stand in der Schlange mit an, die sich vor dem Loch gebildet hatte, durch das es zu dieser Mensa hinunter ging.

 

Am folgenden Abend fragte die Werente die Großeltern:

„Wie ich gehört habe, nennt man euer Auto auch Ente?“

„Ja, das tut man!“ erwiderte der Großvater; und das Mädchen fragte weiter:

„Könnte man da nicht solche Autoenten aus Schokolade backen, für die Studenten, die so lange für ihr Essen anstehen müssen?“

„Ja, schon“, meinte die Großmutter. "Ich werde dir zeigen, wie das geht!"

Am nächsten Tag stellte sich die Werente in ihrer Mädchengestalt vor der Mensa auf, als die Schlange gerade am längsten war, und bot kostenlos ihre Schokoenten an. Sehr viele Studenten nahmen ihre kleine Zwischenmahlzeit gerne an. Doch nach einer Weile wunderte sich einer ihrer Mitbewohner, dass alle, welche die Schokolade gekostet hatten, etwas davon wieder ausspuckten. Nachdem er selber probiert hatte, fand er die Schokolade zwar schön süß, fragte aber:

„Was hast du denn da noch rein getan?“

Dem entgegnete sie:

„Die Großeltern sagen immer, bevor sie sich ins Auto setzen, dass sie ihre Papiere mitnehmen müssen. Daher dachte ich, dass auch in die Schokoautos Papier rein müsse, und habe die Zeitung aus Pauters Zimmer mit hinein gebacken!“

 

Tags darauf hatte irgendjemand, ein Hausmeister oder eine sonstige autorisierte Person, vor dem Mensaeingang ein Schild hingestellt, mit der Aufschrift:

 

Wer hier viel isst

und dabei das Runterschlucken vergisst,

wird bald nach seinem letzten Wort gefragt

und dann von sämtlichen Viren gejagt!

 

Als die Werente dieses Schild berührte, war der Fluch des Computervirus gelöst, wie in der "Zeitungsente" angekündigt - und sie verwandelte sich wieder in ein normales Entenküken und watschelte zurück ins Wasser. Die Umstehenden rieben sich die Augen - nur die elfjährige Karolse und der zwölfjährige Pauter glaubten daran, dass dies tatsächlich passiert war.

 

Am folgenden Sonntag standen die beiden mit ihren Großeltern abermals am Fluss. Der Verkehr auf der nahe gelegenen Straße war gering, das Quaken der Enten und Schwäne lauter. Die Großmutter fragte:

„Wird euch nicht kalt? Ihr habt heute noch gar nicht am Computer gespielt! Wollen wir dann gehen?“

Da schüttelte ihre Enkelin den Kopf; und deren Bruder erwiderte:

„Nein, wir beobachten lieber noch weiter die kleine Ente, die dort mit dem Silberring im Schnabel spielt!“

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