Dieter Hartkopf

Hannes

 
Es ist Vorweihnachtszeit. Draußen ist es ungemütlich kalt und der Wind treibt die schweren, weißen Flocken vor sich her, die schon seit Stunden aus dem verhangenen Dezemberhimmel zur Erde schweben und die ganze Stadt mit einem weichen, weißen Tuch überzogen haben.
 
Zwischenzeitlich ist es dunkel geworden, ich sitze mit Freunden um den wärmenden Kamin im Wohnzimmer, die Holzscheite knacken und knistern , und der Feuerschein überzieht die Wände mit einem unwirklichen, anheimelnden Licht. Wir reden nicht viel, nippen an den Tassen mit dampfendem Tee und knabbern an selbst gemachten Plätzchen, als das Feuer plötzlich aufflackert und schemenhaft einen alten Teddybären erkennen lässt, dessen Knopfaugen nun lebhaft aufleuchten.
 
„Von dem konntest du dich wohl nicht trennen“, ruft Manfred lachend und die Freunde stimmen in das Gelächter ein. „Nein“, erwidere ich ernsthaft, „denn dieser Teddybär ist mit einer Geschichte verbunden, die ich als Kind erlebt habe und die ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen kann!“
 
Neugierig geworden, bedrängen mich die Freunde, zu erzählen. Da tauchen die verblassten Bilder meiner Kinderzeit wieder lebhaft in mir empor, und während wir näher an das wärmende Feuer rücken, führen mich meine Gedanken zurück, und nach einer langen Pause beginne ich meine Geschichte:
 
„Ich war damals fünf Jahre alt und wir lebten in einem kleinen Dorf nicht weit von hier. In der Nachbarschaft wohnte ein Junge namens Hannes, der so alt war wie ich, und da wir uns gut verstanden, spielten wir jeden Tag zusammen. Hannes war damals mein bester Freund.
 
Zu meinem fünften Geburtstag hatte ich einen Teddybären geschenkt bekommen, den ich liebevoll Heiner nannte. Ich schleppte ihn immer auf meinen Streifzügen mit, die ich zusammen mit Hannes unternahm, und Heiner war uns beiden ein echter Kamerad geworden. Wir redeten mit ihm und er mit uns, wobei ich sein Sprecher war und mir für ihn eine hohe Fieselstimme ausgedacht hatte.
 
Da Heiner an jedem verwegenen Unternehmen teilnahm, sah er auch nach einiger Zeit entsprechend aus. Bei einer Prügelei mit Stadtkindern war ihm ein Arm ausgerissen worden, den die Gegner als Beute betrachtet und nicht mehr hergegeben hatten, seine Schnute war verschmiert mit Schokolade und sein Fell war abgewetzt und fleckig. Trotzdem liebten wirHeiner so, wie er war!
 
Viel zu schnell war der Sommer vorüber gegangen, und an einem kalten Novembermorgen erklärte mir meine Mutter, dass ich eine zeitlang nicht zu Hannes hinüber gehen dürfe, da er sehr krank sei. Ich bedrängte sie mit Fragen, aber sie gab mir keine rechte Antwort, und so zog ich mich mit Heiner in meinen Schmollwinkel zurück. Ohne den Spielkameraden war mir langweilig, der Himmel war trübe, und Trübsal beherrschte auch meine Gedanken. Zu ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich so richtig einsam und überflüssig.
 
Die Tage vergingen, ohne dass ich Hannes besuchen durfte, aber ich wurde abgelenkt durch die emsigen Weihnachtsvorbereitungen, die unser Haus mit Geschäftigkeit und Leben erfüllten. Ich durfte beim Plätzchenbacken helfen, bastelte Weihnachtssterne aus Stroh und buntem Papier, und die Vorfreude auf den Heiligen Abend ließ mich nicht mehr so oft an Hannes denken, ja ich muss sagen, dass er mir in dieser kurzen Zeit schon ein wenig fremd geworden war.
 
Als das Glöckchen zur Bescherung geklingelt hatte, stand ich mit glänzenden Augen vor dem hell erleuchtenden Weihnachtsbaum, und nachdem wir gemeinsam „Stille Nacht, Heilige Nacht“ gesungen hatten, packte ich aufgeregt meine Geschenke aus, die mir das Christkind gebracht hatte. Da sagte auf einmal meine Mutter zu mir: „Wenn du willst, darfst du zum Hannes hinüber gehen und ihm fröhliche Weihnachten wünschen!“
 
Erstaunt blickte ich auf und hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, dass ich so lange nicht an meinen Spielkameraden gedachte hatte. Dann aber freute ich mich, ihn zu sehen, klemmte mir Heiner unter den Arm und rannte zum Nachbarhaus hinüber. Seine Mutter öffnete mir die Tür und als ich mit eiligen Schritten die Treppen zu seinem Zimmer hinauf polterte, legte sie warnend einen Finger auf ihre Lippen zum Zeichen, dass ich leise sein solle.
 
So trat ich behutsam ein. Hannes lag im Bett und sah so elend und blass aus, dass ich ihn fast nicht wiedererkannt hätte. Erst wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte, aber als Hannes mir zublinzelte, setzte ich mich zu ihm aufs Bett und streckte ihm Heiner entgegen, den er auch gleich begrüßte und liebevoll in den Arm nahm.
 
Über was wir redeten, weiß ich heute nicht mehr, aber ich kann mich erinnern, dass seine Augen ernst und übernatürlich groß waren. Er kam mir wie ein Erwachsener vor, der weit, weit über mir stand und mit dem fröhlichen Spielkameraden, den ich in Erinnerung hatte, nichts mehr gemeinsam hatte.
 
Während wir uns unterhielten, stützte Hannes sich manchmal im Bett auf, aber dann stöhnte er plötzlich auf und ließ sich in die Kissen zurück fallen, wo er dann mit geschlossenen Augen minutenlang vor sich hindämmerte.
 
Da fühlte ich die Tränen in mir aufsteigen, weil er mir so leid tat und weil ich so hilflos war, denn ich spürte, dass er sehr, sehr krank sein musste und vielleicht nie wieder gesund werden würde.
 
Ich war froh, als seine Mutter ins Zimmer kam und sagte, dass ich nun gehen müsse. Ich gab Hannes die Hand, die sich trocken und heiß anfühlte, und dann flüsterte ich ihm zu Abschied, einer plötzlichen Eingebung folgend, zu, dass er Heiner behalten dürfe, für immer und ewig; es sei mein Weihnachtsgeschenk und er solle immer gut auf ihn aufpassen!
 
Ich stürzte die Treppen hinunter ins Freie, lief ein paar Schritte und lehnte mich dann an das verschneite Gartentor, wo ich minutenlang zum Gotterbarmen weinte. Der Schmerz schüttelte mich so, dass er fast meine Kinderseele zerriss; ich hatte meinen Heiner, den ich über alles liebte, für immer hergegeben, und mit einem Mal wusste ich auch, dass ich Hannes verlieren würde, dass er schon auf der Schwelle des Todes gestanden hatte, als ich ihn verließ.
 
Unaufhörlich liefen mir die Tränen über die Wangen; es war ein Strom, der nicht versiegen wollte, voller Verzweiflung und voller Ohnmacht, ich war meinen Gefühlen hilflos ausgeliefert, es gab kein Entrinnen und keinen Trost, und damals erfuhr ich zum ersten Mal, dass es Schmerzen gibt, die niemand heilen und niemand lindern kann.
 
Hannes starb am zweiten Weihnachtsfeiertag und meine Eltern ersparten mir, mit auf die Beerdigung zu gehen. Als ich ein paar Wochen später vom Kindergarten nach Hause kam, saß Hannes Mutter bei uns in der Küche, und als sie mich sah, lief sie auf mich zu und drückte mir Heiner in den Arm. „Ich danke dir für dein großes Opfer“, sagte sie, „aber Hannes braucht ihn jetzt nicht mehr, dort, wo er jetzt ist, ist er glücklich, viel glücklicher, als ein Mensch jemals hier auf Erden sein kann!“
 
Das Feuer ist verloschen, als ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe. Draußen stürmt es noch immer, und die schweren, weißen Flocken wirbeln um den Häuserblock. Die Freunde schweigen nachdenklich und ich schaue zu Heiner hinüber, der auf dem Bücherregal hockt mit nur einem Arm, verschmierter Schnute und abgewetztem, fleckigen Fell. Irgendwie sieht er traurig aus, als habe er mitgefühlt und mitgelitten, und in diesem Augenblick liebe ich ihn wieder so, wie ich ihn als Kind geliebt habe!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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