Birgit Wolf

Lancelot

„Ich muss hier raus!“ Mit einem genervten Kopfschütteln hastete Martin aus dem Wohnzimmer, griff im Flur nach seiner Winterjacke und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Wie gehetzt eilte er die Steinstufen im Treppenhaus des Kölner Altbaus hinunter. Dunkel war es, denn unten im Erdgeschoss brannte schon seit Wochen die einzige Lampe nicht mehr. Er kannte das schon, wenn eine Glühbirne den Geist aufgab, dauerte es oft lange, bis der Hausmeister sich erbarmte und sie auswechselte.

Seine Schritte verlangsamten sich allmählich, je mehr er sich vom Haus entfernte. ‚Weihnachten, so ein nervtötendes dummes Zeug,’, dachte er ärgerlich, ‚Pflichten, Geschenke kaufen für irgendwelche blöden Verwandten, schleimiges Getue, Friede, Freude, Eierkuchen... so eine sentimentale Scheiße!’

Martins Nerven waren angespannt.

Die Kinder, die ständig an seinen Hosenbeinen gezerrt hatten, weil sie es nicht abwarten konnten, bis endlich das Glöckchen klingelte, die gehetzte Frau, die verschwitzt und abgekämpft  putzte und zwischen Kochtöpfen und Glitzerpapier hin und her sprintete –

schließlich kamen am Nachmittag alle möglichen lieben Verwandten, Eltern und Geschwister.

Von wegen Entspannung, von wegen Fest der Liebe.

Ob sie sich nicht einen Moment zu ihm setzen wollte, hatte er Lisa gefragt. Sie hatte bitter gelächelt und geantwortet: „Wie soll ich das denn schaffen?“

Nein, das konnte es nicht sein.

Während Martins Zorn verrauchte und er gedankenverloren durch die eisige Kälte die Straße hinunter schlenderte, begann es in seinem Kopf zu kreisen.

Der letzte Arbeitstag saß ihm noch im Nacken. Alle anderen hatten schon in der Kantine Weihnachten gefeiert, während er sich all diese Vorwürfe hatte anhören müssen... Ihr Ergebnis, Herr Kunze, lag deutlich unter unseren Erwartungen... das muss im nächsten Jahr deutlich, ich sagte deutlich, besser werden. Die Zahlen lassen keinen Spielraum für eine Weihnachtsgratifikation. Das werden Sie sicherlich einsehen...

Fröhliche Weihnachten, Herr Kunze.

Martin war der Punsch im Hals stecken geblieben, als er kurz darauf die Kantine betreten hatte, aus der ihm eine warme Dunstglocke aus Zimt- und Glühweingeruch entgegen schwappte. Widerlich, hatte er gedacht, alles ist unehrlich, falsch, diese Heuchelei....

Oder Andi. Sein bester Freund Andi.

Mein Gott, er erinnerte sich nicht einmal, in welchem Kindergartenjahr sie sich kennen gelernt hatten. Und jetzt? „Was soll ich denn machen? Da kann ich Dir auch nicht helfen.“

Danke, Andi.

Die Raten fürs Auto, die Hypothek auf dem Haus, im Januar waren die Zahlungen fällig, und keinen würde interessieren, woher das Geld dafür kam.

Martin dachte an das chinesische Essen mit einem Kunden in der vorletzten Woche und den Papierschnipsel aus seinem Glückskeks, auf dem gestanden hatte „Wenn Du eine helfende Hand suchst, findest Du sie am Ende Deines Armes.“

Ja, dachte er bitter, das wird wohl stimmen. Wenn es eng wird, ist man plötzlich verdammt allein.

Irgendetwas ließ ihn erschauern, ein Luftzug wehte ihm von hinten in den Kragen seiner Winterjacke. Mechanisch zog Martin den wärmenden Stoff um sich zusammen und spürte im gleichen Moment ein seltsames, weiches Geräusch neben sich.

Ein Vogel streifte ihn ganz leicht an der Schulter, während er vorbei flog, behäbig und mit langsamen Flügelschlägen zog er einen Halbkreis und verschwand dann wieder aus seinem Blickfeld.

Was für eine große Taube, dachte Martin und schüttelte sich, ich habe wohl geträumt. das Ding sah aus dem Augenwinkel aus wie eine Art Marabou, so ein Vogel mit großen Flügeln, weich, weiß – nein, das ist doch Einbildung.

Real jedoch waren die knirschenden Schritte auf dem vereisten Boden des Bürgersteigs neben ihm. „Entschuldigen Sie – es ist selten, dass jemand am Heiligabend bei der Kälte allein draußen herum läuft,“ sagte der grauhaarige Mann neben ihm höflich, „darf ich fragen, wohin Sie gehen?“

„Dürfen Sie“, knurrte Martin, „heißt aber nicht, dass ich antworte.“

„Ja. Ah ja.“

„Weihnachten. Das ist doch was für schwule Heulsusen und kleine Kinder.“

„Auch.“

„Es geht mir auf die Nerven!“ Martin reagierte gereizt, und doch hatte er das Gefühl, dem Mann antworten zu müssen. „Wer sind Sie eigentlich? Kennen wir uns?“

„Also – zumindest kenne ich Sie. Mein Name ist Lancelot.“

Martin kicherte hysterisch. „Ach. Ich dachte, so heißen nur Ritter aus dem Mittelalter.“

„Ich bin schon recht alt.“ Der grauhaarige Herr lächelte und steckte die Hände in die Taschen.

„Und was wollen Sie von mir?“

„Hm – eigentlich nichts, nur nett sein.“

„Nett. Nett! Gegen das Wort bin ich allergisch!“

„So.“

„Ja, allergisch!“ Martin fühlte heißen Zorn in sich aufsteigen. „“Nett sind sie doch alle, nur wenn es ums Geld geht oder wenn man wirklich Hilfe braucht, dann ist plötzlich keiner mehr nett. Ihr seid alle gleich, alle! Weihnachten, heilige Nacht, Fest der Liebe - pah! Das ist doch nur ein Haufen Lügen!“

Erst jetzt bemerkte Martin, wie sich die zarte Person neben ihm mehr und mehr aufrichtete, gerade wurde, zu einer erstaunlichen Größe heranwuchs und schließlich direkt vor ihm stehen blieb.

„Mumpitz!“ sagte Lancelot streng und baute sich in all seiner Größe vor ihm auf, die weißen Flügen steil nach oben gerichtet. „Banause! Du hast nichts begriffen!“ Seine Hand richtete sich mit vorwurfsvoll gestrecktem Zeigefinger nach unten gegen Martins Brust.

Irritiert und mit einem verlegenen Grinsen schüttelte Martin seinen Kopf und antwortete krächzend „Was bist Du denn für ein komischer Heiliger?“

„Ich bin Dein Engel.“

Er sprach langsam und sehr deutlich.

Martin kicherte hysterisch. „Das ist ja lächerlich. So ein Quatsch. Pass auf, dass sie Dich nicht in die nächste Klapsmühle stecken!“ Immer noch kichernd sah er an Lancelot herunter, bis sein Blick unten angekommen war. Erst verstand er es gar nicht, es wirkte so selbstverständlich, er spürte nur ein seltsam flaues Gefühl im Magen und sah noch einmal genau hin. Wieder und wieder. Dann formten sich die Worte hinter seiner Stirn: ‚Er hat keine Füße. Oder – er steht nicht auf dem Boden. Er steht auf... nichts. Er schwebt – oder – oder – ich sehe keine Füße. Das geht doch gar nicht, es ist nicht möglich...’

Es wurde still. Martin war schwindlig, und noch während er die Augen schloss, fragte er in all seiner Verzweiflung „was willst Du denn?“

„Hör auf, Dich selbst zu bemitleiden, und geh nach Hause!“ hörte er die Antwort wie durch einen dumpfen Schleier, „Und denke daran: Deine Familie kann nichts dafür. Was immer Euch geschieht, Ihr könnt mit allem fertig werden. Ein Auto kann man verkaufen, mit einer Bank kann man reden. Aber ohne Liebe.. ohne sie bist Du allein.“

„Was?“

„Die Liebe ist die stärkste Kraft der Welt. Heute ist Weihnachten. Spürst Du es denn nicht?“

Die Stimme schien in den kalten Nebelschwaden des Winterabends zu verhallen.

Martin lehnte sich an einen Laternenpfahl, die Kälte des eisigen Metalls drang durch den Ärmel seiner Jacke.

Stimmt, dachte er, was auch immer das war, es hatte Recht.

Und jetzt gehe ich nach Hause.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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