Uwe Keßler

Wer heimwerkert hat mehr vom Leben (2) Das Weihnachtsgeschenk

 
Alle Jahre wieder beschert uns die Weihnachtszeit die Frage: „Was schenke ich meinen Lieben?“
Auch Kordelia Wiesner beschäftigte diese Frage. Auf der Suche nach einer Antwort war sie in einem Baumarkt gelandet. Auf keinen Fall konnte sie ihrem Gatten noch einmal mit den als S:O:S: bekannten Gaben überraschen. Letztes Jahr hatte er von seinen Eltern, von ihren Eltern, von ihr selbst und von Tante Elli je eine Krawatte bekommen. Demonstrativ hatte er am Abend alle vier gleichzeitig getragen, eine Tat, die fast zu einer familiären Ausnahmesituation geführt hatte. Dieses Jahr sollte so was nicht noch einmal passieren. Von ihrer Freundin und einem Prospekt in der Tageszeitung hatte sie den Rat bekommen, ihren Göttergatten mit etwas Werkzeug zu bedenken. Zum einen kommen die meisten Männer ja bekanntlicher weise nicht aus dem Baukastenalter raus, zum anderen können sie sich so nicht mehr vor fälligen Reparaturen drücken. Kordelia Wiesners Wahl fiel auf eine Bohrmaschine mit 100 W Leistung, die gerade im Angebot war. Anfangs wollte sie tatsächlich zu einem Akkuschrauber greifen, doch der eifrige Verkäufer hatte ihr davon abgeraten. Wenn Sie wirkliche Freude unterm Weihnachtsbaum verbreiten wolle, so würde ihr das nur mit einem Profigerät gelingen. Und tatsächlich, ihr Ehemann hatte genau das Leuchten in den Augen, das ein Knabe hat, der gerade seine erste Eisenbahn unter dem Weihnachtsbaum entdeckt. Schwiegervater und Onkel Ernst zollten begeistert Respekt. Es war im Nachhinein eines der schönsten Weihnachtsfeste, an das sich Kordelia erinnerte. Nur eines hatte Kordelia Wiesner nicht bedacht. In einer Vier – Zimmer - Mietwohnung gibt es nicht unbedingt viel zu bohren.
 Anfangs deutete ja auch nicht viel auf die bevorstehende Katastrophe hin. Und was war schon dabei, dass Günter sein neustes Spielzeug nach der Arbeit rausholte und bestaunte. Allerdings hätte ihr auffallen sollen, dass er seine Bohrmaschine noch vor ihr begrüßte. Auch wurde in nächster Zeit alles gedübelt, was sich nur an der Wand befestigen ließ. Das große Bild mit dem röhrenden Hirsch über dem Sofa (Schließlich war es ein Erbstück und sollte keinen Schaden nehmen), die Regale im Kinderzimmer (Was, wenn den Kindern eines auf den Kopf fällt?) und selbst das Gewürzregal in der Küche wurden fest mit 10er Dübel und Schrauben mit der Wand verankert. (Stell dir mal vor, es fällt runter und wir haben die Glassplitter von den Gewürzgläschen im Essen). Und das war erst der Anfang. Selbst die Möbel wurden sauber an der Wand befestigt.
 Kordelia war dies erst aufgefallen, als ihr im Bad die Haarbürste herunterfiel und unter dem Tischchen neben dem Waschbecken rutschte. So sehr Kordelia auch an dem Tischchen rüttelte und zerrte, es lies sich kein Millimeter verrücken. Erst nachdem sie sich das Möbel näher angesehen hatte, hatte sie bemerkt, dass es direkt an der Wand haftete. Der Grund dafür waren rund sechs Schrauben archaischen Ausmaßes, die das Tischchen an der Wand hielten, egal wer wie fest daran rütteln würde. Zunächst wusste Kordelia nicht, was sie davon halten sollte. Und dann versetzte ihr die innere Stimme den Befehl, sich doch einmal näher im Bad umzusehen. Und siehe da, Kordelias Befürchtungen wurden schon bestätigt, als sie sich den Spiegel ansah. Auch dieser war, unverrückbar fest mit vier Schrauben gesichert. Beim Waschschränkchen, der Waschmaschine, dem Wäschetrockner, dem kleine Schränkchen… allen war dasselbe Schicksal widerfahren. Lediglich die Klobrille ließ sich noch bewegen. Nachdenklich kratzte sich Kordelia am Kopf. Schließlich setzte sie ihre Nachforschungen in dem Rest der Wohnung fort. Als sie damit durch war, beschloss sie, ihren Göttergatten zur Rede zu stellen. Wirklich alle Möbelstücke, die an der Wand standen, waren auch durch Schrauben mit ihr verbunden worden.
     „Was willst du denn? So sind wir im Falle eines Erdbebens sicher“ entgegnete Günter. Und Kordelia ließ es erst einmal dabei beruhen. Gut, die ganze Sache war recht seltsam. Doch was konnte man dagegen tun? Selbst Jutta Hansen, eine Jugendfreundin Kordelias wusste keinen Rat. Dabei war Günter sich sicher darüber im Klaren, dass Kordelia dieses Tun gar nicht schätzte. Sie hatte nämlich herausgefunden, dass er ihre Abwesenheit ausgenutzt hatte, um seinem Treiben nachzugehen. Immer wenn sie einkaufen war, oder einen Friseurtermin hatte, dann hatte er zur Bohrmaschine gegriffen. „Vati schafft das schon unter fünf Minuten“ krähte Jonas, der Jüngste stolz, für den das ganze ein Spiel und somit ein Heidenspaß war. Meike, die inzwischen schon zwölf Jahre zählte sah das etwas anders: „Mutti, Vati fängt an verrückt zu spielen, so bald du das Haus verlässt“ So ganz nebenbei hatte Meike erwähnt, das Vati eine Hechtrolle über den Wohnzimmertisch eingeübt hatte, um schneller zu seiner Bohrmaschine zu kommen. Außerdem hatte er sehr hartnäckig versucht, seine Tochter davon zu überzeugen, dass ihre Puppen viel besser an der Wand aufgehoben wären. Auch Frau Holzner, Familie Müller, Herr Breidscheid und die anderen Parteien im Mietshaus fingen an, sich über den Lärm aus der Wohnung der Wiesners zu beschweren. „Das hört sich wie beim Zahnarzt an!“ so Herr Breitscheid, der die Ausmaße eines Türstehers hatte, und sich so ganz nebenbei anbot, Günters „Zahnprobleme“ auf ganz eigene Weise zu lösen. Kordelia versprach, ihn um Hilfe zu bitten, wenn es denn wirklich sein müsste und verabschiedete sich. Gut, ein Plan musste her, und bald hatte Kordelia auch schon die rettende Idee. Wenn Günter ihre Abwesenheit nutzte, um die Nachbarschaft zu nerven, dann durfte er eben nicht mehr allein zu Hause sein. Einkaufen ging sie eben dann, wenn Günter im Büro war. Oder noch besser, sie ließ ihn einkaufen. Dann war er wenigstens beschäftigt und kam nicht auf dumme Gedanken. Und andere Termine ließen sich ebenfalls auf den Vormittag verschieben. Und alles war wieder in Ordnung. Nun ja, Günter machte einen ziemlichen Flunsch und beim Abendessen und am restlichen Abend waren seine einzigen Themen Motorhämmer, Akkuschrauber, Stich- und Kettensägen, und sonst noch alles Werkzeug, was mit und ohne Motor angetrieben wurde. Bald schon aber suchte sich Günter Betätigung außer Hause. Brei diversen Telefonaten konnte sich Kordelia davon überzeugen, was für einen geschickten Mann sie hatte, der nicht davor scheute, bei seiner Verwandtschaft hilfreich Hand anzulegen, wenn es ums renovieren ging. Und wenn Günter mit seinen Freunden loszog… Nun, die würden schon aufpassen, sagten sie jedenfalls. Aber auch dann, wenn die Verwandtschaft noch so groß ist, irgendwann ist auch bei denen alles gedübelt und verstiftet, das hätte Kordelia wissen müssen. Anfangs deutete auch nichts auf die bestehende Katastrophe hin. Günter war ruhig, die Kinder konnten auch nichts Verdächtiges melden und auch aus der Nachbarschaft kamen keine Beschwerden. Stutzig aber wurde Kordelia schon, als sie in einer Boulevardzeitung einen Artikel mit der Überschrift „Jack, the Driller“ fand. Einer oder mehrere unbekannte hatten eine Hauswand durchlöchert, ein Auto war ebenfalls Opfer dieser Aktion geworden. Und in den nächsten Wochen wurde es immer schlimmer. Auch Günters Arbeitgeber hatte einiges zu berichten. Er hatte extra bei Wiesners zuhause angerufen, um mitzuteilen, dass Günter, wenn er seine Bohrmaschine noch einmal ins Büro mitnehmen würde, nicht mehr zu kommen bräuchte. Zwar hänge das Bild des Firmengründers nun besser und sicherer, als es je vorher gehangen habe, und man wolle auch nicht undankbar sein. Doch schließlich beschäftige man ja eine Abteilung, die nur mit der Instandhaltung der Firma beschäftigt sei und man wolle diese ja nicht arbeitslos machen. Auch von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Instandhaltung seihe abzuraten. Das Verstiften der Schranke vor dem Parkplatz war keine wirklich gute Idee gewesen. Nicht nur, dass die Instandhaltung zwei Stunden damit zu tun hatte, die Schranke wieder beweglich zu machen. Nein, auch hatte der Rückstau vor dem Parkplatz den Verkehr empfindlich gestört und viele Kollegen waren zu spät am Arbeitsplatz erschienen.
Auch in der Nachbarschaft regte sich plötzlich wieder was. „Frau Wiesner, ihr Mann hat wieder angefangen!“ war die kurze Mitteilung die Kordelia von Frau Holzner im Flur bekam.
Kordelia Wiesner suchte darauf hin die gesamte Wohnung nach neu befestigten Möbelstücken oder auch Löchern in der Wand ab. Allerdings ohne Erfolg, worüber sie doch sehr erleichtert war. Zum einen weil sie die Begegnung mit Herrn Breidscheid nicht vergessen hatte, zum anderen war ein neuer Artikel über „Jack, the Driller“ in der Zeitung erschienen. Kordelia sammelte sich kurz. Herr Breidscheid hatte sich noch nicht gemeldet und wie in aller Welt hätte Günter zwei Blocks entfernt eine Hauswand durchlöchern sollen? Schließlich brauchte die Bohrmaschine Strom und wo sollte er den herbekommen? Einen Generator besaß er ja nicht. Möglicher weise hatte Frau Holzner sich ja auch geirrt, und jemand anders aus dem Haus hatte eine Bohrmaschine angeworfen. So ungewöhnlich war der Besitz und die Nutzung solcher Gerätschaften schließlich ja nicht. Kordelias Göttergatte allerdings schien wesentlich ausgeglichener zu sein, und das, obwohl er sein Spielzeug nicht mehr mit zur Arbeit nehmen durfte. Dieser Umstand machte sie schon ein wenig nervös.
     „Günter, sag mal, hast du von diesem Verrückten gehört? Ich meine, diesen Kerl, den sie >Jack, the Driller< nennen?“
     „Äh, nö, wieso fragst du?“
     „Du hast nichts davon gehört? Es stand doch so viel in der Zeitung darüber“
    „Nun kann schon sein“
     „Hast du nun was darüber gelesen oder nicht?“
     „Möglicherweise. Es steht halt viel in der Zeitung. Ich kann mich nicht an alles erinnern!“
     „Du kannst dich nicht an einen Typen erinnern, der Löcher in fremder Leute Hauswände bohrt? Günter, sei mir nicht böse, aber das ist das sonderbarste, was hier in den letzten zwanzig Jahren passiert ist. Das ist sogar noch schräger als die Sache mit dem Mörder, der in eine Polizeiwache spaziert, um die auf ihn ausgesetzte Belohnung zu kassieren. Und das ist in den USA passiert. Da sind die Leute doch um einiges merkwürdiger als hier. Man stelle sich nur vor, hier in der Nachbarschaft lebt ein hochgradig verrückter, der nachts Löcher in fremder Leute Autos bohrt“
    „Hochgradig verrückt? Glaubst du nicht, dass das ein wenig hart ist?
    „Ein wenig hart? Ich höre wohl nicht recht. Das ist mindestens Vandalismus, wenn nicht noch was schlimmeres. Und dann mit einer Bohrmaschine. Sei mir nicht böse Günter aber dieser Kerl ist noch verrückter als du“
    „Na, du bist mal wieder reizend heute Abend. Und überhaupt, woher willst du denn überhaupt wissen, dass das ein Mann ist? Es kann genau so gut eine Frau sein“
    „Was redest du da? Man könnte meinen, du kennst diesen Irren“
    „Ach was. Aber du denkst zu sehr in Klischees. Es ist doch gut möglich, dass es auch eine Frau sein könnte. Oder glaubst du nicht, dass auch eine Frau eine Bohrmaschine bedienen kann?“
    „Aber warum sollte eine Frau so etwas tun?“
    „Aber das weiß ich doch nicht. Ich sagte doch nur, dass auch eine Frau eine Bohrmaschine bedienen kann“
    „Ja, auch eine Frau kann eine Bohrmaschine bedienen. Aber es widerstrebt all meinen Vorstellungen, dass eine Frau nachts, wenn alle schlafen ihre Umgebung mit einer Bohrmaschine malträtiert. Das hört sich doch mehr nach einem Durchgeknalltem Heimwerker an“
    „Möglicherweise ist das aber auch eine Art von Protest“
    „Wogegen denn? Gegen eine heile Umwelt? Oder gegen die hohen Käsepreise?“
    „Aber das weiß ich doch nicht. Vielleicht ist es ja auch eine Art von Kunst!“
    „Was sollte das für ein Künstler sein? Einer der ins Gefängnis gehört. Der muss doch wissen, dass er eine Unmenge an Schaden anrichtet“
    „Na ja, dann ist es eben eine neue art von Untergrundkunst. Du weißt doch, wie diese Graffitisprayer. Die verursachen doch auch riesige Schäden. Sogar in Millionenhöhe. Stand jedenfalls in der Zeitung“
    „Wie Graffitisprayer! Nur mit Bohrmaschinen! Also ehrlich Günter, erst sagst du, das ist eine Frau und dann es sind Graffitisprayer…“
     „Du drehst mir das Wort im Munde um. Ich sagte, es könnte eine Frau sein. Es könnte! Das ist etwas völlig anderes als wenn ich sagen würde, dass es eine Frau ist. Ich wollte damit nur sagen, dass du nicht einfach die Hälfte der Bevölkerung ausschließen solltest, nur weil du glaubst, dass es ein Mann ist. Selbst du hast zugegeben, dass eine Frau eine Bohrmaschine bedienen kann“
     „Du wirst doch wohl zugeben müssen, dass wesentlich mehr Männer mit Handwerkszeug hantieren, als Frauen“
     "Nun, vielleicht ist es ja eine Frau, die will, dass man denkt, dass es ein Mann ist. Und jetzt geh ich ins Bett, bevor du noch sagst, dass ich es bin. Gute Nacht!“
So gut war die Nacht dann doch nicht, denn als Kordelia so gegen vier aufwachte, lag Günter nicht im Bett. Auch in der Wohnung war er nicht. Also schlich Sie im Morgenmantel durch das Treppenhaus hinab. Aus dem Keller hörte sie Geräusche, und tatsächlich war es ihr Göttergatte. Was er genau in ihrem Keller tat, konnte sie im halbdunkel nicht sehen. Aber Hauptsache, er werkelte nicht draußen herum und bohrte Löcher in Hauswände, Fahrzeuge oder Verkehrschilder. Also lief sie wieder in die Wohnung und legte sich hin. Günter kam ein paar Minuten später.
Trotzdem hatte Kordelia die diffusesten Alpträume:
Wieder hatte Jack the Driller zugeschlagen, diesmal Hatte er neben einem Trafokasten, einer Platane und einer Verkehrsampel auch einen kleinen Hund erwischt. Das Fernsehen berichtete ausführlich darüber. „Ja schauen sie mal, man denkt an nichts böses, und dann das…“ eine grauhaarige Frau im braunem Pelzmantel hielt einen Yorkscher Terrier hoch, der mit Bohrlöchern übersäht war. Das Tier bellte traurig. „Mein armer Wutzi, jetzt zieht es hier überall durch“ Wutzi bellte zustimmend.
    „Meine Damen und Herren, wir befinden uns direkt am Tatort dieses scheußlichen Verbrechens“ fuhr der Reporter fort. Seine Brille und Krawatte waren mit Bohrlöchern übersäht. „Kommissar Hilti, können Sie uns nähere Einzelheiten berichten?“
    „Nun, er ist unheimlich schnell und sehr präzise, sehen sie hier“ Der Kommissar hielt dem Reporter seinen Hut und seine Waffe hin, beides völlig zerlöchert.
    „Nun, meine Damen und Herren Sie sehen, es breitet sich immer weiter aus“ erzählte der Reporter, dessen Kleidung wesentlich mehr Löcher aufwies, als noch vor ein paar Augenblicken. Kordelia sah sich in ihrem Traum weiter um, nur um festzustellen, dass sich dort noch mehr Löcher befanden. Sie saß im Fernsehsessel, der völlig durchlöchert war. Ebenfalls der Fernseher, in den sie hineinstarrte und in dem ein besorgter Reporter immer löchriger wurde. Der Kommissar hielt ein Phantombild des Täters in die Kamera, das Günters Bohrmaschine zeigte. Zu allem Überfluss war auch das Bild zerlöchert. Auch die Tapeten, Zimmerwände und das restliche Mobiliar waren mit Bohrungen übersäht. Und dann hörte sie den Lärm. Ein Geräusch wie beim Zahnarzt, nur viel lauter. Kordelia folgte diesem Ton bis in die Küche. Angsterfüllt öffnete sie dem Kühlschrank. Dort saß Günter und bohrte mit seiner Bohrmaschine Löcher in einen riesigen Käse und lachte dabei wie ein Verrückter.
 Am anderen Morgen war der „Katzenjammer“ noch immer nicht verflogen. Der Alptraum und der Mangel an Schlaf rissen noch immer an Kordelia. Günter war zur Arbeit und die Kinder in der Schule, Zeit sich ein wenig zu sammeln. Es ist schon verrückt, was man sich alles zusammenträumen kann. Und dennoch… Der Traum war zu wahr, um schön zu sein. Sämtliches Mobiliar war an den Wänden befestigt, alle Bekannten, Verwandten und Freunde waren von Günters Heimwerkereien beglückt worden und selbst im Betrieb hatte er sich ausgetobt. Eigentlich hätte er nun Zeit, sich anderen Dingen zu widmen. Doch er hatte Blut geleckt und wollte mehr. Und das war nun ein Grund, sich hoch zuraffen und nachzusehen, warum der Göttergatte sich um vier Uhr Nachts im Keller herumtreibt.
     „Frau Wiesner, ich muss mich wundern, wie Sie nachts bei dem Krach schlafen können“ es schien, als habe Frau Holzner nur darauf gewartet, das sich die Wohnungstüre bei Wiesners öffnet.
     „Krach? Nein, Frau Holzner, ich habe nichts gehört. Sind sie denn sicher, dass es mein Mann war?“
     „Ja aber natürlich! Die Geräusche dieser Maschine kenne ich nur all zu gut. Mal abgesehen davon, ihr Mann ist der einzige, der so manisch ist, dass er die Bohrmaschine auch nachts anwirft.“
    „Die anderen Mieter haben aber sich noch nicht gemeldet, auch Herr Breidscheid nicht…“
    „Ja, wo leben sie denn, hinterm Mond? Die Müllers sind letzte Woche ausgezogen, von wegen dem Lärm. Die Kaspari ist auf Mallorca auf Urlaub. Und der Hansen, der würde doch nie etwas sagen, dieses Muttersöhnchen. Und der Breidscheid, der ist verschwunden“
    „Was meinen Sie bitte mit verschwunden?“
     „Nun, man hat ihn ja hin und wieder im Treppenhaus gesehen, aber seit einer ganzen Weile ist er weg. Ich hab aus Neugier mal geklingelt, aber er macht nicht auf, und ans Telefon geht er auch nicht. Keiner weiß wo er ist“
     Kordelia nickte abwesend und versprach, mit ihrem Mann über die nächtliche Benutzung der Bohrmaschine zu reden. Mit flauem Gefühl im Magen setzte sie ihren Weg in den Keller fort. Wenn Herr Breidscheid nicht zu Hause war, konnte er sich auch nicht beschweren. Und Kordelia erinnerte sich mit grausen an ihren Alptraum. Das Geräusch in ihrem Traum hatte nur all zu echt geklungen. Mit zitternden Händen öffnete sie die Tür zu ihrem Kellerraum. Auf den ersten Blick ließ sich nichts Verdächtiges finden, alles wirkte normal. Erst, als sie einen Wust aus alten Möbeln und leeren Marmeladeneimern aus dem Weg geräumt hatte, sah sie es: Verlängerungskabel! Nicht eine Rolle, nicht zwei, nein, mindestens zwanzig Rollen mit Verlängerungskabeln, die zusammen mindestens 500 m überbrücken konnten, alle fein säuberlich aufgerollt und griffbereit unter ein Regal geschoben. Kordelia wurde kreidebleich. Ihr Mann war Jack the Driller. Der Verrückte, der Nachts fremde und die eigenen Wände durchlöcherte. Nun galt es drastische Maßnahmen zu ergreifen. Fieberhaft suchte sie nach dem Tatwerkzeug, nach der Verführerin, die aus einem biederen Angestellten einen Triebtäter gemacht hatte. Doch weder im Keller noch in der Wohnung war sie fündig geworden. Und das konnte nur eines bedeuten: Günter war soweit, dass er seine und die Existenz seiner Familie aufs Spiel gesetzt hatte. Gut, vielleicht war es dieses mal noch unbemerkt geblieben. Aber nichts desto trotz musste sie ihren Göttergatten von dieser Höllenmaschine trennen. Und sei es mit einem Brecheisen. Da dies eine etwas heftigere Auseinandersetzung im Hause Wiesner zu werden drohte, schickte sie ihre Kinder zu Tante Jutta, als diese von der Schule heimgekehrt waren. Eine Entscheidung, die sie im Nachhinein nie bereut hatte.
Günter kam gegen fünf von der Arbeit, fröhlich und gelassen, wie immer. Eher beiläufig erkundigte er sich nach dem Verbleib der Kinder, Kordelias doch eher finstere Mine übersah er geflissentlich. Was sich allerdings schnell änderte.
    „Du bist Jack the Driller“ Günter sah eine zu allem entschlossene und zum Kampf bereite Furie ins Gesicht.     „Aber Schatz, was redest du da?“
    „Schatz´ mich nicht. Ich weiß, dass du der Verrückte bist, der die gesamte Nachbarschaft terrorisiert“
    „Terrorisiert, das ist doch ein wenig hart, meinst du nicht?“
    „Deinetwegen sind bereits die ersten Nachbarn ausgezogen. Du rennst nachts auf die Straße, um Hauswände, Autos und Verkehrsschilder zu durchlöchern. Abstreiten ist völlig zwecklos. Günter, ich habe die Verlängerungskabel im Keller gefunden!“
    Günter war Kreidebleich geworden. „Das beweist aber nichts“ murmelte er dann.
    „Das beweist nichts? Gott erbarme, wer hat schon 500 Meter Verlängerungskabel im Keller? Selbst Handwerksbetriebe werden wohl kaum so viel brauchen. Zeig mir deine Tasche!“
    „Meine Tasche? Warum denn?“
    „Spiel nicht den Unschuldigen! Ich habe die Wohnung und den Keller durchsucht, und konnte dein Lieblingsspielzeug nicht finden. Erinnerst du dich noch, worüber wir gesprochen haben? Und du hast mir persönlich versprochen, die Bohrmaschine nicht mehr mit ins Büro zu nehmen? Ach Günter, Du hast wieder unser leben aufs Spiel gesetzt, nur wegen einer Bohrmaschine!“
    „Aber ich habe die Bohrmaschine nicht mit ins Büro genommen“ sagte Günter und presste seine Aktentasche derartig dicht an den Körper, als würden diese seine inneren Organe enthalten.
    „Beweise es. Mach sie auf!“
    „Kordelia, ich bin entsetzt, über dein Maß an Misstrauen mir gegenüber. Das habe ich nicht verdient…“
    „Beweise du mir erst einmal, dass du mein Vertrauen verdienst. Also, her mit der Tasche!“
    „Nein!“
    „Los, her damit!“ Kordelia griff nach der Tasche, Günter hielt dagegen. Beide zogen mit Leibeskräften, als würde ihr Leben davon abhängen. Und nun zeigte es sich, wie gut es war, dass Günter alle Möbel fest gedübelt hatte. Sonst wäre mehr als nur einige Stühle umgefallen.
Das allgemeine Gerangel um die Tasche wurde durch die Türklingel unterbrochen. Sie läutete nicht nur eine kurze Pause, sondern auch gleichzeitig die nächste Runde ein. Vor der Tür standen drei Polizisten
    „Herr Wiesner, wir müssen mal mit Ihnen sprechen! So wie es aussieht hat jemand das Verwaltungsgebäude ihrer Ehemaligen Firma mit Bohrlöchern verschandelt. Da sie gestern fristlos entlassen worden sind, meinte der Personalchef, dass es sich um einen Racheakt von ihnen handeln könnte“   
    „Du hast deinen Job verloren?“ Kordelia war fassungslos „Aber warum denn?“
    „Tja, da gab es wohl eine Vereinbarung über die Mitnahme und Benutzung von eigenem Handwerkszeug, die ihr Mann wohl gebrochen hat. Darum würden wir ihn gerne auf dem Revier verhören. Da gäbe es nämlich noch diese andere Sache. Sie haben doch sicher von >Jack the Driller< gehört“
     „Ha, ich habe eine Waffe und keine Hemmungen, sie zu benutzen!“ Günter öffnete die Aktentasche, zog die Bohrmaschine heraus und richtete sie auf die Beamten. Diese waren sich zunächst nicht sicher, was sie tun sollten. Nachdem Günter zum einen nicht aufhörte, die Bohrmaschine auf die Beamten zu richten und diese Geste mit einem sehr nachhaltigen „Wrrrui, wrrui“ zu unterstreichen und sich zum anderen dabei immer weiter in die Wohnung zurückzog, schritten die Herren jedoch zur Tat. Kordelia sah fassungslos, wie zwei uniformierte Männer Günter in die Mangel nahmen und versuchten im die Tatwaffe zu entreißen. Und dann passierte etwas, was nicht nur die Polizisten überraschte, sondern auch Kordelias abstruseste Träume doch sehr in die Nähe der Realität rückte. Natürlich wehrte sich Günter, und das Knäuel aus einem Ehemann und zwei uniformierten Beamten kam ins straucheln und schlug gegen die Wand, die Nachgab, als würde sie nur aus gepressten Sägespänen bestehen. Noch bizarrer war der Anblick von Herrn Breidscheids, den irgendwer fein säuberlich an seiner Kleidung an die Wand gedübelt hatte. Und so wie Herr Breidscheid aussah, hing er schon eine Weile dort. „Um Gotteswillen, einen Schraubenzieher; schnell!“ reif einer der Beamten, als er sich von dem ersten Schrecken erholt hatte.
Günter wurde weggebracht. Die Männer, die dies taten trugen eine Uniform, wenn auch keine grüne. Kordelia würde umziehen müssen. Nicht, weil ihr Göttergatte einige Löcher gebohrt hatte. Nein, Günter war so fleißig gewesen, dass das Sechs – Parteien Mietshaus abgerissen werden musste. Nicht nur in der eigenen Wohnung, nein auch in der Wohnung Herrn Breidscheids hatte er sich hemmungslos ausgetobt. Und da Wohnungen von Familie Müller und Frau Kasparis im Moment leer standen, hatte er auch dort zugeschlagen. Als Ergebnis war die Statik des Hauses so schwer geschädigt, dass es akut Einsturz gefährdet war und umgehend abgerissen werden musste. Dies erklärte ihr ein Kommissar, während Sanitäter den völlig erschöpften Herrn Breidscheid abtransportierten, der irgendwas von Monsterdübeln faselte.
Nun, die Zeit vergeht, auch dann, wenn sie nicht alle Wunden heilt. Kordelia hatte ein neues Zuhause und eine Arbeit angenommen. Insbesondere letzteres war nötig, weil die Eigentümer den von Günter verursachten Schaden ersetzt haben wollten. Und auch Frau Kaspari schrie laut nach Schadensersatz. Sie war eine Woche, nachdem das Haus abgerissen worden war, nach Hause gekommen. Oh man, wie hatte sich die gewundert. Die Versicherung weigerte sich natürlich zu zahlen. Kordelia konnte der Gesellschaft diesbezüglich nicht einmal böse sein. Nur konnte sie für den entstandenen Schaden natürlich nicht allein aufkommen. Man stelle sich vor, ein ganzes Mietshaus… Dies und ähnliches ging ihr durch den Kopf, als sie die Stufen zum Haus von Jutta Hansen emporstieg. Ein hübsches Häuschen, in dem es ganz sicher das eine oder andere zu werkeln gab…
     „Hallo Kordelia! Du bist aber früh dran“ wenigstens auf Jutta war verlass. So konnte Kordelia hin und wieder die Kinder bei ihrer alten Schulfreundin „parken“. Und hin und wieder war auch ein gemütlicher Plausch drin. Wie in den guten, alten Zeiten. Auch dann, wenn einige Themen von Kordelia als etwas unbequem empfunden wurden.
    „Sag mal, mit deiner Arbeit, ist das jetzt sicher?“
    „Ja, die Probezeit habe ich überstanden. Und mein Chef sagte mir, dass ich weiterhin zum Stab gehöre“
    „Sei mir nicht böse, aber ich hätte diesen Job nie angenommen. Ich meine, nach allem, was passiert ist, ausgerechnet in einer Fabrik, die Bohrmaschinen herstellt anzufangen. Mich wundert es, dass sie dich überhaupt eingestellt haben. Ich meine, nachdem was alles in den Zeitungen stand…“
    „Nun, mein Chef hat einen sehr gesegneten Sinn für Humor“
    „Ja, aber belastet dich diese Arbeit denn nicht?“ „Die ist nicht belastender für mich als die Fragen meiner Kollegen, ob ich es tatsächlich mit dem >Power Driller< getrieben habe“
    „Da du gerade von ihm sprichst, wie geht es Günter nun? Macht er Fortschritte?“
    „Ach, Jutta, das ist schwer zu sagen. Erst dachte man, er wäre auf dem Weg der Besserung, aber dann haben sie bei ihm Werkzeuge gefunden, die er aus Einweggeschirr gebastelt hat. Ich fürchte, er wird noch eine ganze Weile brauchen, bis er endlich rauskann. Ich bin dir darum auch so dankbar, dass du auf die Kinder aufpasst, während ich ihn besuche. Der Besuch in der Psychiatrie ist für die beiden doch sehr belastend“
    „Ja, natürlich, schließlich sind es ja noch Kinder“
    „Ach, sag mal, was machen die beiden eigentlich? Du weißt schon, zeigen sie irgendwelche abnormen Verhaltensstörungen? Ich möchte nicht, dass sie wie Günter enden“
    „Neinnein, mach dir mal keine Sorgen. Wenn sie nicht gerade Hausaufgaben machen oder ich sie zu einem Brettspiel überreden kann, dann sitzen sie vor dem Computer und spielen >World of Doom< oder >Splatterfist vier<, also diese ganz normalen Ballerspielchen“
     „Oh gut, das ist sehr beruhigend. Wenigstens verhalten sie sich wie normale Kinder“ „Meeeike, Jooonas, eure Mutter ist da“ auf Juttas Rufen kamen die Kinder aus dem Fernsehzimmer gelaufen und umarmten ihre Mutter. Nachdem sich Kordelia von ihrer Freundin Verabschiedet hatte, trat sie mit den Kindern an der Hand ihren Heimweg an. Gut, mit Günter war nicht alles so gelaufen, wie sie es geplant hatte. Aber wenigstens würden die Kinder normal aufwachsen.                                  
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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