Linda Ruthenberg

Der Porzellanengel


Schon seit Stunden saß sie auf einer Bank vor dem Geschäft und starrte diesen kleinen Engel in der Schaufensterablage an. Langsam wurde es kalt und dunkel. Auf ihrer Haut spürte sie die Kälte, die durch die Kleidung hindurch drang, doch sie störte sich nicht weiter daran. Auch dass die Straßen sich langsam leerten, ließ sie unbekümmert. Einzig und allein diesem kleinen Engel hinter der dicken Fensterfront schenkte sie ihre gesamte Aufmerksamkeit. Wieder ist ein Jahr rum, dachte sie sich, wieder sieht kurz vor Weihnachten alles wunderschön und festlich geschmückt aus und auch der Engel steht wieder wohl behütet im Warmen fertig für den Verkauf. Vollkommen nackt in seiner Kleidung und doch thront er mit einer Anmut, die besagt „sieh her, ich habe nichts zu verbergen“. Der Ausdruck in seinen Augen ist Stolz, geprägt durch einen Unterton von Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit, die dieses Wesen nicht unnahbar erscheinen lassen. Wie viele Passanten, dachte die Frau weiter, mögen täglich an ihm vorbeigehen, wie viele von ihnen ließen ihn unbeachtet und wie viele von ihnen schenkten ihm einen bemitleidenden Blick, um dann doch kurz darauf weiter hastig ihres Weges zu schreiten. Es war bereits die zweite Vorweihnachtszeit, die er dort stand.

Sie stellte sich vor, wie sie ihn eines Tages kaufen würde und zu sich nach Hause bringt. Wie sie ihn auf den Kaminsims stellt, auf dem sie extra einen Platz für ihn gelassen hätte. Ihre Kinder würden ankommen und diesen Engel bestaunen, danach gäbe es ein festliches Essen, bevor sie dann alle gemeinsam die Geschenke öffneten und einfach nur dieses Fest genießen würden.

 Im Laden gingen die Hauptlichter aus, nur die dekorative Fensterbeleuchtung blieb noch an. Kurz darauf kam der Verkäufer hinaus und schloss den Laden ab. Als er seinen Heimweg antrat, fiel sein Blick kurz auf die Frau, doch ohne irgendeine Veränderung seiner Mimik stellte er seinen Kragen auf und mummelte sich in seinen dicken Mantel, der ihn auch für den Rest seines Heimweges warm halten würde.

 Nun ergriff auch sie ihre Tüten und erhob sich, ging ein paar Schritte auf das Schaufenster zu und lachte den Engel an. Sie stellte ihre Tüten ab und setzte sich vor die Eingangstür, die versetzt zu den Schaufenstern, etwas in den Laden hineinragte. Sie drückte sich an die Eingangstür, um ein bisschen von der Wärme zu erhalten, die jene aus dem Ladeninnern nach außen leitete. Auch von dieser Position konnte sie den kleinen Engel betrachten. Nun wirkte es, als wenn er sich vor sie stellte um sie vor dem Rest der Welt zu beschützen. Eine Träne kullerte aus ihren Augen, als sie diese schloss um langsam einzuschlafen und davon zu träumen wie es wäre, wenn sie eines Tages diesen kleinen Porzellanengel kaufen könnte.


 

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