Klaus-Peter Behrens

DIe Weihnachts-Mission


„Heiligabend fällt dieses Jahr aus!“
Irritiert sah der Weihnachtsmann von dem beeindruckenden Stapel der noch abzuarbeitenden Wunschzettel auf, der wie ein kleiner Berg auf seinem rot lackierten Schreibtisch thronte und musterte den Besucher mißbilligend, der es gewagt hatte, so einfach in sein Büro zu stürmen. Natürlich Vingo, ging es ihm durch den Kopf, während ein tiefer Seufzer seiner Brust entfleuchte. „Was ist denn nun schon wieder?“, fragte er den aufgebrachten Elfen, dessen Kopf gerade einmal über die Tischkante reichte. Aber die mangelnde Größe stand in keinem Verhältnis zu dem aufbrausenden Wesen des Elfen. Seine spitzen Ohren wackelten bedenklich als er Luft holte, um seinen Unmut kund zu tun.
„Die Produktion für Actionfiguren läuft auf Hochtouren“, knurrte er.
„Das hör ich gern“, brummte der Weihnachtsmann, lehnte sich zurück und faltete die Hände über seinem, sich bedenklich spannenden Wams.
„Die Nachtschicht der Zwerge hat einen neuen Rekord im Verpacken von Computerspielen aufgestellt, und im Testlabor wird gerade eine neue Generation von Spielzeugpistolen im Science Fiktion Look zum Verschenken freigegeben.“
„Bestens, bestens“, freute sich der Weihnachtsmann, „und was soll dann der Zwergenaufstand? Entschuldigung“ brummte er, als sein Assistent, der Zwerg Zwolgo, verärgert von seiner Arbeit aufsah. „War nicht so gemeint.“
Dann wandte er sich wieder Vingo zu, der seine beiden Arme aufgebracht in die Seiten gestemmt hatte und den Weihnachtsmann aus Augen, die an grüne Jade erinnerten, fast ein wenig mitleidig ansah.
„Fällt Euch gar nichts auf?“, fragte Vingo. Irritiert sah der Weihnachtsmann sich um. Die Vorbereitungen für den Abend des Jahres liefen auf Hochtouren. Alles lief wie am Schnürchen. Sein Wams war frisch gebügelt, der Schlitten wurde gerade einer Generalinspektion unterzogen und selbst Rudolf das Rentier gab dieses Jahr Ruhe. Was wollte man mehr? Der Weihnachtsmann wußte es nicht und schüttelte daher zögerlich den Kopf. Worauf beim gehörnten Rentier wollte dieser Elf bloß hinaus?
„Seht Euch mal die Wunschzettel an. Wenn Ihr nur einen ernsthaften Wunsch darunter findet, der den Geist der Weihnacht widerspiegelt, striegle ich ab morgen die Rentiere.“
„Nun...“, hub der Weihnachtsmann an, der gerne einen weiteren Rentierstriegler gehabt hätte, zumal Rudolf in letzter Zeit sehr struppig aussah, aber innerlich zugeben mußte, daß Vingo Recht hatte. Die Wunschzettel lasen sich in der Tat allesamt wie eine Bestellliste auf einer fragwürdigen Internetseite für Kriegsbedarf und hatten mit dem Geist der Weihnacht weniger zu tun, als er mit dem Osterhasen. „...die Wünsche von heute sind eben ein wenig anders als früher“, räumte der Weihnachtsmann ein.
„Ein wenig anders? Begreift Ihr es wirklich nicht? Ihr seid für die Kinder von heute nichts anderes mehr als eine Witzfigur! Eine farbenfrohe Scharade, die ohne zu meckern liefern soll. Ein Werbegag für Limonade, ein Relikt längst vergangener Zeiten, an das keiner mehr glaubt, und das wollen wir nicht länger hinnehmen.“
Der Weihnachtsmann war sprachlos.
„Und was ist mit der kleinen Tina?“ hielt er in Erinnerung an eine nicht ganz so stille Nacht Vingo entgegen, der jedoch nur abwinkte.
„Das ist Jahre her“, erwiderte er mit einem Seufzen in der Stimme. „Seit dem ist nichts Vergleichbares mehr passiert. Heute sind wir degradiert zu einem Lieferservice.“
„Was gedenkt ihr Elfen dagegen zu tun?“, fragte der Weihnachtsmann frustriert. „In den Streik zu treten? Die Produktion auf Holzeisenbahnen umzustellen oder eine Lebkuchenfabrik aufzumachen?“
„Falsch, nicht wir, sondern Ihr werdet etwas unternehmen müssen, wenn Ihr wollt, daß Weihnachten heute nicht ausfällt.“
„Ich“, ächzte der Weihnachtsmann, „habe heute jede Menge Termine. Schlitteninspektion, Rentierprobeflug, Routenplanung und so weiter. Du kennst das ja. Da ist kein Platz für zusätzliche Marketingaktionen.“
„Ts, ts, ts“, bemerkte Vingo ironisch, der den sich windenden Weihnachtsmann betrachtete, als habe er ein störrisches Kind vor sich, während er aus den Tiefen seiner grünen Kleidung einen Stab hervorholte. Er versprühte kleine Leuchtsterne. „Die Belegschaft hat entschieden“, verkündete er in energischem Ton, während der Weihnachtsmann in seinem roten Wams zu schwitzen anfing. Das Ganze klang nicht gut.
„Ihr wollt auf dem Schlitten mitfahren?“, versuchte er, die Situation zu retten, während er in böser Vorahnung den Stab nicht aus den Augen ließ. Vingo schüttelte den Kopf und betrachtete Zwolgo mit einem vernichtenden Blick, der bei der Frage erfreut mit dem Kopf genickt hatte und nun plötzlich ein feuriges Interesse für die noch zu bearbeitende Post entwickelte. So eifrig hatte Vingo den Zwerg selten erlebt.
„Ihr habt bis heute Abend achtzehn Uhr Zeit, ein Kind, das den Glauben an den Weihnachtsmann verloren hat, davon zu überzeugen, daß es ihn doch gibt, ohne daß Ihr offenbaren dürft, daß Ihr der echte Weihnachtsmann seid. Ein Zauber wird verhindern, daß man Euch erkennt und Ihr auf Fragen, ob Ihr der echte Weihnachtsmann seid oder ähnliches, antworten könnt. Ihr würdet eine böse Überraschung erleben, solltet Ihr es versuchen. Und nun viel Glück.“ Mit einer theatralisch anmutenden Geste hob Vingo den Zauberstab, der eine Leuchtspur aus bunt glitzernden Sternen hinter sich herzog. „Wir alle vertrauen auf Euren Erfolg. Zeigt uns, daß der wahre Geist der Weihnacht noch immer lebt und unsere Aufgabe am Nordpol nicht sinnlos ist.“
Ein gleißender Sternenblitz schoß aus der Spitze des Stabes und ließ die Umgebung verblassen. Der Weihnachtsmann hatte plötzlich das Gefühl, in ein mit grellen Sternen angefüllten Abgrund zu fallen.
„Wo schickst du mich hin?“, brüllte er aus Leibeskräften, während er in erschreckendem Tempo tiefer und tiefer fiel.
„Nach Hamburg“, tönte schwach die Stimme des Elfen, den der Weihnachtsmann nur noch als blasses Schemen weit über ihm erkennen konnte. Dann verschluckte ihn endgültig die Kaskade aus bunten Sternen, und der Weihnachtsmann wußte, daß er die ungewöhnlichste und vielleicht wichtigste Reise seines Lebens antrat.

Schneeflocken wirbelten im einem verspielt anmutenden Reigen durcheinander und versperrten Svenja die Sicht auf den verwilderten Garten jenseits des alten Fensters. Der Wind ließ das alte Dachgebälk ächzen, als ahne das Haus, was ihm demnächst bevorstehen würde. Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder dem Brief zu, der vor ihr auf dem Schulschreibtisch lag. Das blütenweiße Papier stand im krassen Gegensatz zum alten Holz des ausrangierten Schulschreibtisches, den Svenja so liebte. In nüchternen Worten hatte sie nun Schwarz auf Weiß, was sie seit Monaten nicht wahr haben wollte, aber tief in ihrem Inneren immer befürchtet hatte.
Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß das Waisenhaus mit Wirkung zum 31.01. des kommenden Jahres geschlossen wird.
Es folgte eine lapidare Begründung, die sich im Wesentlichen auf die hohe Vermittlungsrate der letzten Monate und den maroden Zustand des Objekts bezog sowie eine Andeutung zwischen den Zeilen hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft.
Das darf doch einfach nicht wahr sein, dachte Svenja und schlug mit der Faust derart wütend auf den Schreibtisch, daß sich Stuka erschrocken schnatternd von ihrem Ruhekissen erhob und aufgeregt mit den Flügeln schlagend durch das Zimmer watschelte.
„Tut mir leid Stuka, leg dich wieder hin“, beschwichtigte Svenja die aufgebrachte Graugans, die seit dem Herbst fest zum Inventar des Hauses gehörte. Vorwurfsvoll schnatternd watschelte Stuka wieder zu ihrem Kissen, nicht jedoch ohne einen sehnsuchtsvollen Blick nach draußen zu werfen, wie Svenja mitfühlend registrierte.
Die Gans vermißte den Sommer.
Vielleicht bedauerte sie es ja, es ihren Artgenossen nicht gleich getan und in den Süden gezogen zu sein, aber mit einem gebrochenen Flügel wäre das kaum möglich gewesen.
„Du hast Glück gehabt, daß dir das ausgerechnet bei uns passiert ist, sonst wärst du vermutlich als Braten geendet“, neckte sie die leise schnatternde Gans in Erinnerung an den Tag, als sie Stuka verletzt im Garten gefunden und versorgt hatte. Der Gans hatte die Pflege so gut gefallen, daß sie einfach nach ihrer Genesung geblieben und zum Liebling der Kinder geworden war. Svenja schmunzelte bei der Erinnerung, doch dann fiel ihr Blick wieder auf den Brief, und die Gegenwart holte sie unerbittlich ein.
All das Vertraute um sie herum war dem Untergang geweiht.
Was aus ihr wurde, war ihr dabei nicht so wichtig. Ganz anders fühlte sie aber, wenn sie an die  Zukunft der Kinder dieses Heims dachte. Insbesondere an die Zukunft eines Kindes. Die Adoptionsverfahren waren abgeschlossen oder standen kurz vor dem Abschluß. Nur für ein Kind hatte sich bisher keiner interessiert.
Für Lisa.
Mit ihren fünf Jahren war sie das älteste Kind im Waisenhaus und damit alles andere als im vorteilhaften Vermittlungsalter. Jüngere Kinder waren gefragter. Svenja hatte das nie verstanden, denn sie hatte das Mädchen mit dem schwarzen Lockenschopf und den blitzenden blauen Augen sofort ins Herz geschlossen. Lisa, die bei einem Autounfall vor drei Jahren ihre Eltern verloren und keine anderen lebenden Verwandte hatte, hatte ihr Herz sofort im Sturm erobert. Svenja hatte sogar schon selbst ein Adoptionsantrag gestellt, war aber gescheitert. Alleinstehend, berufstätig, eine zu kleine Wohnung waren nur einige der Gründe gewesen, warum man ihren sozialen Hintergrund als ungeeignet eingestuft hatte.
Was das Herz fühlte, hatte keiner gefragt.
Genauso wenig wie jetzt.
Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen, und die Stadt das Grundstück an einen Bauunternehmen lukrativ verkaufen.
Es war frustrierend.
Wenn Svenja jemals einen Weihnachtswunsch gehabt hatte, dann jetzt. Aber wer erfüllte einer enttäuschten, allein gelassenen Fünfundreißigjährigen schon noch Wünsche.
Der Weihnachtsmann?
Schön wäre es, aber an Wunder glaubte sie schon lange nicht mehr.

Der Weihnachtsmann hätte viel darum gegeben, wenn ihm ein kleines Wunder geholfen hätte, seine Landung sanft zu gestalten. Doch dem war nicht so. Mit einem schmerzhaften Aufklatschen endete die Reise abrupt in einem mächtigen Schneehaufen, aus dem er sich wie ein schlaftrunkener Bär auf die Füße kämpfte. Wütend wischte er sich den Schnee aus dem Gesicht, und stellte dabei entsetzt fest, daß er statt seines langen, gepflegten weißen Bartes nun über eine kurze, struppige Barttracht verfügte, die jedem Stadtstreicher zu Ehre gereicht hätte. Ein weiteres Abtasten ließ ihn erschrocken aufkeuchen, als er ein kahles Haupt ertastete, bar der üppigen weißen Haartracht, die sein Kopf bis eben noch geziert hatte, und sauber poliert war, wie eine Billardkugel.
Dieser verfluchte Elf! Rentierstriegeln wird dir noch wie ein Erholungsurlaub vorkommen, knurrte der Weihnachtsmann, während er die Inspektion fortsetzte. Natürlich war auch sein schönes rotes, magisch wärmendes Wams verschwunden. Statt dessen trug er nun einen schwarzen, ausgeleierten Rollkragenpullover unter einem grauen, kratzigen Wollmantel, der schon bessere Tage gesehen hatte und eine verblichene blaue Jeans nebst schwarzen Winterstiefeln. Eine Kombination, die mit dem Weihnachtsmann soviel gemein hatte, wie der Osterhase mit den Blues Brothers.
Das konnte ja heiter werden!
Wie sollte er in diesem Outfit bloß überzeugend sein?
Apropos überzeugend sein, rief sich der Weihnachtsmann in Erinnerung und nahm erst einmal seine Umgebung in Augenschein. Offenbar war er zumindest am richtigen Ort gelandet. Unter ihm lag ein Gewässer, in deren Mitte ein mächtiger, beleuchteter Weihnachtsbaum in den Himmel ragte, und am anderen Ufer konnte er die prächtig erleuchteten Fassaden diverser Kaufhäuser entdecken. Na dann wollen wir mal, sprach sich der Weihnachtsmann selber Mut zu, kämpfte sich den kurzen Weg zur Straße hinauf, wo auf mehreren Fahrspuren unzählige Fahrzeuge in beide Richtungen über eine gewaltige Brücke unbekannten Zielen entgegeneilten und machte sich auf den Weg. Es wäre doch gelacht, wenn er in dieser Umgebung nicht ein ungläubiges Kind zum Glauben an den Weihnachtsmann bekehren könnte.

„Es gibt keinen Weihnachtsmann. Genauso wenig, wie den Mann im Mond, ET oder nette Jungs“, brummte Lisa und gab dem kleinen Willi einen liebevollen Tritt, als dieser versuchte, sie in den Fuß zu beißen.
„Natürlich gibt es ihn“, protestierte die dreijährige Tina, die zusammen mit Svenja und ein paar anderen Kindern damit beschäftigt war, mit Hilfe einiger Tannenzapfen, Streichhölzer, Eicheln, Kastanien und Kleber kleine Figuren zu basteln. Eine Beschäftigung, die allen außer Lisa viel Spaß bereitete.
„Und warum hat er mir nie einen Wunsch erfüllt?“, klagte Lisa.
„Vielleicht mag er dich nicht“, überlegte Tina, „dich mag doch sowieso keiner“
„Tina!“, ermahnte Svenja die Dreijährige, während Lisa auf dem Absatz kehrt machte und beleidigt die knarrende Holztreppe ins Obergeschoß hinauf stürmte, wo die Kinderzimmer lagen. Einen Augenblick später knallte eine Tür derart heftig ins Schloß, daß die Fenster leise klirrten. Svenja zuckte zusammen. Als hätte sie nicht schon genug Probleme. Mit einem Seufzen erhob sie sich und ging zur Treppe hinüber. Es war schon ungerecht, daß es keinen Weihnachtsmann gab, der Lisas Wunsch erfüllen konnte, denn Svenja konnte sich gut vorstellen, wie ihr sehnlichster Wunsch aussah.

„Ho, ho, ho, willkommen in unserem Weihnachtsparadies. Ein Stück Schokolade gefällig“, begrüßte den Weihnachtsmann eine Prachtausgabe von Werbeweihnachtsmann, als er vor der glitzernden Fassade eines Kaufhauses anhielt. Um ihn herum wuselten die Menschen  wie die Ameisen auf der Flucht herum. Neid überkam den Weihnachtsmann, als er sein Gegenüber musterte. So sollte eigentlich ich aussehen, dann hätte ich es deutlich leichter, meinen Auftrag zu erfüllen, dachte er und grübelte über seine verfahrene Situation nach. Warum sollte er eigentlich nicht so aussehen? Gut, er durfte sich nicht als wahrer Weihnachtsmann offenbaren, aber niemand hatte ihm verboten, in die Rolle eines Werbeweihnachtsmanns zu schlüpfen. Alles eine Frage der Auslegung, resümierte er, dann wandte er sich an sein Gegenüber.
„Wie bekomme ich so einen Job?“
„Über Herrn Petersen, Personalabteilung, erster Stock. Die haben am Umsatz stärksten Tag des Jahres immer Bedarf. Aber überlege Dir das gut, Kumpel, der Job ist streßig.“
„Wem sagst du das,“, brummte der Weihnachtsmann und verschwand im Inneren des Kaufhauses.
Das Vordringen zu Herrn Petersen gestaltete sich schwieriger, als das Hirndurchzwängen durch einen zu engen Kamin, in dem die Holzkohle noch qualmte. Aber schließlich hatte er es geschafft und wartete auf das erste Bewerbungsgespräch seines Lebens. Verstohlen musterte er den Personalchef hinter seinem beeindruckenden Schreibtisch, dessen Gesichtsausdruck so ausdruckslos war, als habe er sich gerade eine Jahresration Botox injiziert. Der Weihnachtsmann fand es geradezu grotesk, daß ausgerechnet ein Mensch mit der Ausstrahlung eines Grönlandgletschers darüber zu bestimmen hatte, wer für die Kinder den Weihnachtsmann geben durfte. Sein Blick wanderte besorgt zu dem Bewerbungsbogen, den er nach bestem Wissen und Gewissen ausgefüllt hatte und den Herr Petersen nun aufmerksam las. Seine Laune wurde dabei zusehends schlechter. „Nun“, hub er schließlich an und nahm seine Brille ab, „ich bin ein Mann mit Humor....“ Der Weihnachtsmann unterdrückte ein Auflachen, denn seiner Ansicht nach hatte Herr Petersen genauso viel Sinn für Humor, wie ein Eisbär, dem man gerade in die bepelzte Kehrseite getreten hatte. „..aber d a s  läßt selbst mir das Lachen vergehen!“, fuhr Herr Petersen fort. „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“
Aufgebracht fuchtelte er mit dem Bewerbungsbogen vor dem Gesicht des Weihnachtsmanns herum. „Name: Santa Klaus, Alter: zweihundertfünfzig Jahre!“, brachte er mit bebender Stimme hervor. „Wohnsitz: Nordpol!, Erfahrung: circa zwei Millionen Weihnachtsauftritte weltweit, Sonstiges: Rentierflugschein! Sind Sie noch ganz gesund?“, schnappte Herr Petersen.
„Wenn man dem Elf Hippokrates Glauben schenken mag, leide ich lediglich unter leichtem Ischias, aber wir kommen ja alle in die Jahre“, bekundete der Weihnachtsmann gutmütig, während er besorgt beobachtete, wie Herr Petersen ein Glas mit kleinen roten Pillen zutage förderte. „Aber ich weiß gar nicht, warum Sie sich aufregen. Ich dachte, Sie wollten einen überzeugenden Weihnachtsmann“, versuchte er den angeschlagen wirkenden Personalchef zu beruhigen.
„Na schön, was soll’s.“ Ein halbes Dutzend rote Pillen wechselten den Aufenthaltsort. „Man wird ohnehin verrückt in diesem Job, da kann es nicht schaden, wenn man es schon ist.“ Er kicherte nervös. „Sie kennen Ihre Aufgabe?“
„Den Kindern den Geist der Weihnacht nahe bringen und Freude und Frieden auf Erden verbreiten.“
„Das haben wir nicht im Verkaufsprogramm“, knurrte Herr Petersen, der schon wieder mit den Pillen liebäugelte. „Schluß mit den Scherzen. Sie manipulieren die lieben Kleinen so, daß sie ihre Eltern mit Wünschen quälen, die es – welch Wunder – zu Superangeboten in unserem Haus zu erwerben gibt. Also, wecken Sie ihre Bedürfnisse! Hier ist eine Liste mit dem Zeug, das wir noch losschlagen müssen.“
Irritiert nahm der Weihnachtsmann einen DIN A 4 Bogen entgegen, der eine erschreckend lange Aufzählung von fragwürdigem Spielzeug auflistete.
„Sehen Sie zu, daß Sie möglichst viel Monstermanartikel an das Kind kriegen. Davon haben wir noch ein ganzes Lager voll.“
„Monsterman?“, fragte der Weihnachtsmann irritiert.
Statt einer Antwort beförderte Herr Petersen eine circa dreißig Zentimeter hohe Plastikpuppe zutage, deren Gesicht derart furchteinflößend wirkte, daß selbst das unerschrockene Rentier Rudolf Reißaus genommen hätte.
„Monsterman!“, brachte Herr Petersen stolz hervor, dem man eine gewisse Ähnlichkeit mit der Figur nicht absprechen konnte.
„N....ne...nett“, stammelte der Weihnachtsmann, der unwillkürlich zurückzuckte und sich im Geiste eine Notiz machte, auf keinen Fall Monsterman in das Warenproduktmanagement am Nordpol aufzunehmen. Die Elfen würde der Schlag treffen.
„Bart, Kostüm etc. bekommen Sie von Frau Ziernich, unserer Ausrüsterin, außerdem einen Sack mit Werbeartikeln. Das sind Schokoladenweihnachtsmänner, aufgeklebt auf einen Pappweihnachtsbaum, auf dessen Rückseite unsere Special-Angebote zum Festtag aufgelistet sind, allen voran...“
„Monsterman?“, vermutete der Weihnachtsmann.
„Bingo! Ich sehe, Sie haben es begriffen. Und nun, sorgen Sie für Umsatz, und viel Spaß mit den kleinen Plagegeistern.“

Unzählige Schneeflocken wurden vom Wind gegen das Fenster getrieben, blieben kleben, vergingen und hinterließen feuchte Spuren auf dem Fensterglas. Svenja erinnerten sie unwillkürlich an Tränen. Unterhalb des Fensters lag Lisa auf ihrem Bett und hatte den Kopf in ihr Kissen vergraben. Ein Bär mit einer Weihnachtsmütze auf dem Plüschohr saß auf der Fensterbank und schaute traurig mit seinen Knopfaugen auf sie herunter.
„Wünsche gehen in Erfüllung. Man muß nur fest daran glauben“, sagte Svenja leise. Die alten Stahlfedern quietschten, als sie sich zu Lisa aufs Bett setzte und ihr über das Haar strich.
„Ich kann an nichts mehr glauben“, schluchzte Lisa, „und schon gar nicht an den Weihnachtsmann. Alle anderen Kinder werden bald eine Familie haben, nur ich bleibe allein. Und dabei will ich doch nur, daß du meine Mama wirst. Warum geht das nicht?“
„Wer sagt, daß das nicht geht?“
„Du“, schluchzte Lisa. „Du hast gesagt, ich muß vielleicht weg von hier, in ein anderes Heim, ohne dich. Und ich habe doch nur dich. Ich will dich nicht verlieren!“ Das Schluchzen wurde herzzerreißend.
„Das wirst du nie. Heute ist Weihnachten, da gehen Wünsche in Erfüllung, vertrau mir.“
Svenja schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. In Momenten, wie diesen, hatte sie das Gefühl, das ganze Leid der Welt auf ihren schmalen Schultern zu tragen. Sie liebte dieses Kind, aber wie sollte sie ihm erklären, daß es diejenigen, die über Lisas Zukunft zu entscheiden hatten, nicht interessierte?
Wie sollte irgend jemand dies einer verzweifelten Fünfjährigen begreiflich machen?
Svenja wußte es nicht. Rational betrachtet mochte die Entscheidung des Fürsorgeamtes nachvollziehbar sein, mit dem Herzen war sie es nicht. Wenn doch nur ein Wunder geschehen würde.

„Driving home for Christmas....“, raunte Chris Rea mit gewohnt rauchiger Stimme, während der Weihnachtsmann in einem zu engen, zwickenden Kostüm durch die Gänge des Warenhauses schlurfte und die Elfen verfluchte, die ihn in diese Lage gebracht hatten.
„With a thousand memories....“
Wem sagst du das, dachte der Weihnachtsmann wehmütig, der sich verlegen unter der Perücke kratzte. Das Desinfektionsmittel, das ihm Frau Ziernich mit der in die Jahre gekommenen Haartracht in die Hand gedrückt hatte, ließ Schlimmes erahnen. An den Bart wollte er lieber gar nicht erst denken.
„Ich will Schokolade!“
Erstaunt blickte der Weihnachtsmann nach unten und entdeckte an der Hand einer elegant gekleideten Frau einen circa vierjährigen Jungen, der in einen farbenfrohen Parka gekleidet war und ihn herausfordernd ansah.
„Aber gerne, mein Kleiner“, brummte der Weihnachtsmann erfreut und kramte in seinem Sack nach einem Schokoladenwerbeträger. „Freust du dich schon auf den Weihnachtsmann heute abend?“
„Nein, auf Monsterman!“
„Und was ist mit mir?“, fragte der Weihnachtsmann mit gespielter Empörung.
„Du bist nicht echt!“, erwiderte der Kleine mit trotziger Miene, während er versuchte, den Weihnachtsmann gegen das Knie zu treten.
„Wir pflegen eine aufgeklärte Erziehung“, ließ sich die aufgestylte Mutter mit herablassender Stimme vernehmen. Sie machte keine Anstalten, ihrem talentierten Kind das Malträtieren des Weihnachtsmannes zu verbieten. „Wir halten nichts davon, unseren Kindern erst eine Fiktion von einer heilen Welt mit Fantasiefiguren vorzugaukeln, um dann ihr Weltbild wieder einzureißen. Das führt zu psychischen Störungen.“
„Sie sprechen aus Erfahrung?“, vermutete der Weihnachtsmann und erntete dafür einen Blick, der mit der Kälte des eisigen Polarwinds problemlos mithalten konnte.
„Komm, wir schauen mal nach Monsterman. Das ist interessanter, als diese Werbefigur“, lockte sie ihren Sohn.
„Oh jaaahhh, Monsterman“, stimmte ihr Sohn begeistert zu und landete endlich einen Treffer gegen das Knie des Weihnachtsmanns. Ein Leuchten ging über sein Gesicht, als der Weihnachtsmann aufjaulte.
„Dir auch schöne Weihnachten“, rief er dem kleinen Quälgeist hinterher. Gerne hätte der Weihnachtsmann ihm eine Monstermanpuppe hinterher geworfen, aber wenn man gerade mal eine brauchte, war keine verfügbar. 
„Ja, ja, man hat’s schon nicht leicht hier“, ertönte eine mitfühlende Stimme hinter dem Weihnachtsmann. Der drehte sich um und sah sich unvermittelt seinem Ebenbild gegenüber. „Bist wohl auch als Verstärkung für die letzte Schlacht eingekauft worden“, vermutete das Ebenbild und hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Manfred. Tust du mir einen Gefallen?“
Der Weihnachtsmann hob die Augenbrauen, während er automatisch die Hand seines Gegenübers schüttelte.
„Ich will mal einen Happen essen. Kannst du für mich einspringen und an meiner Stelle den kleinen Monstren in der Spielzeugabteilung Geschichten erzählen?“
„Gerne“, erwiderte der Weihnachtsmann, der plötzlich völlig neue Möglichkeiten am Horizont auftauchen sah. Geschichten erzählen, vom Geist der Weihnacht berichten. Ja, das konnte die Rettung sein.
„Danke, hast was gut von mir“, bedankte sich Manfred. Dann wandte er sich ab und tauchte in der Menge unter. Der Weihnachtsmann konnte ein freudiges Grinsen nicht unterdrücken.
Zum Teufel mit Monsterman!
In freudiger Erwartung humpelte er zur Spielzeugabteilung hinüber, wo ein mit rotem Samt bezogener, hochlehniger Stuhl inmitten einer künstlichen Schneelandschaft einladend auf ihn zu warten schien. Lediglich die beiden riesigen Stapel aufgeschichteter Monstermanverpackungen zu beiden Seiten der Kulisse störten ein wenig das idyllische Gesamtbild. Aber das war dem Weihnachtsmann im Augenblick egal. Mit einem Seufzen ließ er sich nieder und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Und die ließen auch nicht lange auf sich warten.
Eine Mutter, mit jeweils einem Kind an der Hand und einem hochgradig gestreßtem Gesichtsausdruck, überantwortete ihm unvermittelt ihren Nachwuchs mit den Worten: „Das ist der Weihnachtsmann. Hört gut zu, was er euch zu sagen hat und was passiert, wenn ihr nicht artig seid.“ Um Unterstützung heischend sah sie den Weihnachtsmann an, dessen Oberschenkel umgehend von den Kindern in Beschlag genommen wurden. Links saß nun ein circa dreijähriges Mädchen mit einer bunten Winterwollmütze. Sein rechtes Bein war von einem etwa doppelt so altem Jungen besetzt, der ein typisches Lausbubengesicht hatte.
„Eine Geschichte, eine Geschichte“, bettelte das Mädchen,
„Ja, mit Monsterman“, ergänzte der Junge. „Kennst du die, bei der Monsterman die Superklaue hat und seinen Gegner damit bis hinter den Saturn schleudert? Die ist echt cool. So eine Klaue wünsche ich mir.“ Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, schlug er mit der Faust auf das malträtierte Knie des Weihnachtsmannes, der ein erneutes Aufjaulen gerade noch unterdrücken konnte.
„Was hast du denn mit der Klaue vor?“, fragte der Weihnachtsmann, dem Schlimmes schwante. Der Junge warf daraufhin einen bezeichnenden Blick zu seiner Schwester, so daß der Weihnachtsmann das Thema lieber nicht vertiefen wollte. Jenseits des Saturn herrschte ein verdammt rauhes Klima, nicht nur für kleine, dreijährige Mädchen.
„Was ist mit der Geschichte?“, quengelte die Kleine wie aufs Stichwort, worauf sich der Weihnachtsmann wieder an seine Mission erinnerte. Ein gütiges Lächeln überzog sein Gesicht. „Aber gerne“, brummte er. „Ich erzähle euch eine Geschichte vom wahren G e i s t der Weihnacht.“
„Geist?“, wisperte das Mädchen mit bebender Unterlippe. Ein untrügliches Zeichen dafür, daß ein Ausbruch, der mindestens dem des Vesuv ebenbürtig wäre, unmittelbar bevorstand. Doch der Weihnachtsmann übersah das drohende Ungemach und fuhr fort, mit tiefer Stimme zu erzählen.
„Es begab sich in einer tiefen, dunklen Nacht..“
„Mamaaa!“
„in einer fernen Stadt namens...“
„Der macht mir Aaaannnngggsst!!!!“
Der Weihnachtsmann zuckte zusammen, als hätte er einen Huftritt von Rudolf abbekommen. Direkt gegen das rechte Knie.
Wie schafften es so kleine Kinder nur, ihr Organ mit der Lautstärke eines Nebelhorns erklingen zu lassen?
„Das war cool, Mann. Besser als Monsterman. Gibt’s davon eine CD? Die würde ich ihr gerne mal nachts vorpielen!“, fragte der Junge begeistert, der grinsend beobachtete, wie sich seine weinerliche Schwester in die Arme ihrer Mutter flüchtete. Der Ausdruck in ihren Augen, mit dem sie den Weihnachtsmann bedachte, hätte selbst den spanischen Inquisitatoren Furcht eingeflößt. Doch der Weihnachtsmann hatte derzeit andere Probleme. Eine Stimme, die gut zu Monsterman gepaßt hätte, erklang plötzlich drohend hinter ihm und veranlaßte nun auch den Jungen, zu seiner Mutter zu eilen.
„Sind Sie noch ganz bei Trost?“, wetterte Herr Petersen, der das Ganze mitbekommen hatte.
„Ich hab doch nur...“, protestierte der Weihnachtsmann.
„...meinen Kindern Angst eingeflößt!“, ergänzte Quengelsuses Mutter giftig den Satz. „Da kaufe ich doch lieber bei der Konkurrenz. Die haben dort mit Sicherheit Fachpersonal!“ Wutschnaubend machte sie auf dem Absatz kehrt und zog ihre beiden Kinder im Schlepptau hinter sich her. Nur der Junge drehte sich noch einmal um und hob den Daumen in die Höhe, dann verschluckte sie die durcheinander wuselnde Menschenmasse.
„Arbeiten Sie für die Konkurrenz?“, fragte Herr Petersen bissig.
„In gewissem Maße. Das ist schwer...“, erwiderte der Weihnachtsmann, doch auch diesmal kam er nicht dazu, den Satz zu Ende zu bringen.
„Bist du der echte Weihnachtsmann?“, fragte ein kleines Mädchen mit ehrfürchtiger Stimme, dessen Vater es behutsam in Richtung Weihnachtsmann schob. Erfreut beugte sich der Weihnachtsmann zu der erwartungsvoll blickenden Kleinen hinunter, indes Herr Petersen dem überrumpelten Vater die Liste mit den Sonderangeboten in die Finger drückte.
„Ich bin der wa wa www, der ww wa...“, stotterte der Weihnachtsmann, verstummte und lief rot an. Nun verstand er, was Vingo gemeint hatte. Er hatte keine Chance zu erklären, wer er wirklich war.
„Ich hab dich nicht verstanden, Weihnachtsmann“, flötete die Kleine.
„Der wawawa..“, versuchte der Weihnachtsmann es erneut, während Herr Petersen schon wieder kleine rote Pillen in sich hineinstopfte.
„Ja, er ist der wahre Weihnachtsmann, und hat ein paar schöne Vorschläge für deine Weihnachtswünsche“, säuselte er und versetzte dem Weihnachtsmann einen Stoß, der ihn beinahe vornüber hätte kippen lassen. „Nun bestätigen Sie das endlich“, fauchte er ihm ins Ohr.
„Der wa wa www www wawawa“, stammelte der Weihnachtsmann unglücklich, worauf sich eine steile Falte auf der Stirn der Kleinen bildete.
„Bist du etwa gar nicht der echte Weihnachtsmann?“
„Doch, das ist er. Glaub mir. Ich kenne seinen Lebenslauf. Er lebt normalerweise am Nordpol.“
„Da ist ihm wohl die Sprache eingefroren“, kommentierte der Vater der Kleinen das Ganze trocken.
„Wawaw www“, protestierte der Weihnachtsmann.
„Komm mit, der Weihnachtsmann ist heute ein wenig überlastet“, tröstete er die Kleine, während Herr Petersen vor Verlegenheit derart rot anlief, als würde für Feuerlöscher werben. Die Konsequenz auf die Glanzvorstellung des Weihnachtsmannes ließ nicht lange auf sich warten. Keine fünf Minuten später fand er sich seines Kostüms beraubt vor die Tür gesetzt wieder.
„Driving home for Christmas...“, empfahl ihm Chris, während der Sicherheitsmann, der ihn freundlich aber bestimmt vor die Tür komplimentiert hatte, deutlichere Worte fand.
„Lassen Sie sich hier nicht wieder blicken! Sie haben Hausverbot. Schöne Weihnachten.“
Der Weihnachtsmann war deprimiert. Einsam und verlassen ließ er sich auf dem breiten Fußgängerweg mit der Menge treiben. Noch nie in seinem Leben hatte er sich am vierundzwanzigsten Dezember so unglücklich gefühlt. In der Ferne schlug die Rathausuhr zweimal und ließ ihn zusammenzucken. Noch vier Stunden, dann war die Frist abgelaufen.  In diesem Moment höchster Not spürte der Weihnachtsmann plötzlich, daß er in einem anderen Teil der Stadt gebraucht wurde. Es war ein unbestimmtes, nicht zu greifendes Gefühl, das ihn an längst vergangene Zeiten erinnerte und seine Schritte zielstrebig über die breite Treppe eines S-Bahneingangs in den Bauch der Erde hinab lenkte. Unzählige Menschen drängten sich dort hinab, während mindestens ebenso viele nach oben strebten, dem Einkaufswahnsinn entgegen. Zum Erstaunen des Weihnachtsmannes spielte eine Etage tiefer eine zerlumpte Gestalt Weihnachtslieder auf der Gitarre und sang dazu. Die Hoffnungslosigkeit im Blick des jungen Sängers rührte das Herz des Weihnachtsmannes, und er machte sich im Geiste eine Notiz, daß hier sein Einsatz erforderlich war. Vielleicht hatte Ruphus, der Elf, eine Idee, wie man dem Unglücklichen helfen konnte, dessen Elend von den meisten vorbei gehenden Menschen ignoriert wurde. Der Weihnachtsmann verstand das nicht. Wie konnte man es nur über das Herz bringen, an diesem heiligen Tag das Leid anderer zu ignorieren? Hatten die Elfen wirklich Recht damit, daß vom Geist der Weihnacht nicht mehr viel übrig war? War Weihnachten tatsächlich nichts anderes mehr, als eine einzige Kauforgie, bar jeglichen Gedankens an das, was hinter diesem Tag stand?
Bedrückt stieg der Weihnachtsmann die nächste, nicht enden wollende Treppe hinab und dachte an Ruphus, der dem Weihnachtsmann mit seinen Zauberkräften schon öfter bei der Erfüllung von Wünschen geholfen hatte, und das nicht nur bei Kindern, erinnerte er sich an eine nicht ganz so stille Nacht, in der sie gemeinsam Harro, den Hofhund, die kleine Tina und ihre Eltern glücklich gemacht hatten. Aber die Hilfe für den vom Schicksal gebeutelten Sänger mußte noch ein wenig warten. Zunächst galt es, die Mission zu erfüllen, anderenfalls würde er niemanden mehr helfen können. Unten angekommen, zwängte er sich in einen überfüllten Waggon. Die Anzeige auf dem Bahnhof verriet das Ziel. „Poppenbüttel“ lautete die Endstation.

Während die Bahnstationen an dem Weihnachtsmann vorbeizogen wie Perlen auf einer Schnur, hatte sich in einem anderen Teil der Stadt Lisa wieder beruhigt. Methodisch zwängte sie sich in ihre warme Winterkleidung und freute sie sich auf das, was nun gemeinsam mit Svenja anstand:
Der Kauf des Weihnachtsbaumes.
Wie im vergangenen Jahr auch bestand Svenja darauf, den Baum erst am Tag des Festes zu kaufen. Ihrer Ansicht nach bekam so wenigstens noch einer der vielen Bäume, der keinen Abnehmer gefunden und ansonsten im Schredder gelandet wäre, die Gelegenheit, ein letztes Mal in seinem Leben die Herzen der Betrachter zu erfreuen.
Außerdem waren Bäume am letzten Tag günstiger.
Das Feilschen mit dem Verkäufer am Bergstedter Markt, der jedesmal den Eindruck erweckte, als würde ihn der Schlag treffen, wenn Svenja ihr Gebot für einen Baum abgab, gehörte daher, ebenso wie das Transportieren des Weihnachtsbaumes auf dem betagten Damenrad, zum festen Bestandteil des Weihnachtsfestes. Zwar lieferte der Händler den Baum gegen ein kleines Entgelt auch an, aber das paßte nicht zu Svenjas Auffassung von Weihnachten. Die Freude war ihrer Ansicht nach größer, wenn der Baum nach mühsamen Transport durch den tiefen Schnee in der guten Stube stand.
„Bist du soweit?“, fragte sie Lisa, die sie mit großen Augen ansah. Das Mädchen nickte nachdrücklich und griff nach der Hand ihrer großen Freundin.
„Na dann los.“ Der kalte Winterwind trieb schwungvoll Schneeflocken in den Flur, als Svenja die alte Eingangstür öffnete. „Wir sind in einer Stunde wieder hier“, rief sie ihrer Kollegin Vera zu, dann verschwand sie mit Lisa in den kalten Wintertag.

In Poppenbüttel angekommen, bestieg der Weihnachtsmann derweil einen rotweiß lackierten Bus, der ihn nach Bergstedt bringen würde. Er wußte noch immer nicht, was ihn dorthin zog, aber er war zuversichtlich, daß er es herausfinden würde. Mit jedem Meter, den er sich seinem Ziel näherte, spürte er mehr, daß er gebraucht wurde und daß sich dort seine Mission vielleicht doch noch erfolgreich beenden lassen würde.
Schon bald wurde die Umgebung ländlicher. Dies gefiel dem Weihnachtsmann schon deutlich besser, als die vom Kaufrausch dominierte Innenstadt. In den meisten Vorgärten der schneebedeckten Einfamilienhäuser spendeten phantasievolle Weihnachtsbeleuchtungen ein warmes Licht, welche das Herz des Weihnachtsmannes erwärmten. Zu seiner Freude, hatte es zudem angefangen zu schneien. Dieses Jahr brauchte niemand von einer weißen Weihnacht nur zu träumen.

„Zehn Euro, das ist mein letztes Wort!“
Der südländisch wirkende Händler rollte bei diesen Worten mit den Augen und rang verzweifelt die Hände, als hätte Svenja ihm vorgeschlagen, für diesen Preis seinen Lieferwagen gleich mit erwerben zu wollen.
„Wollen Sie, daß meine Kinder verhungern und der Hund friert?“, fragte er mit melodramatischer Stimme.
„Eben nicht, darum kaufe ich Ihnen ja einen der letzten Bäume zu einem hohen Preis ab.“
Der Händler hob daraufhin die Hände in einer hilflos anmutenden Geste gen Himmel, als würde er von dort Unterstützung erwarten, doch das Einzige was von dort kam, war jede Menge Schnee. „Womit habe ich das nur verdient?“, beklagte er sich bei niemanden bestimmten, während Svenja, der das Ganze einen Riesenspaß machte, Lisa aufmunternd zuzwinkerte. Wie vorher abgesprochen, schaltete sich nun die Kleine in das Gespräch ein.
„Der hat ja kaum noch Nadeln“, quengelte sie mit Kleinkinderstimme und sorgte so dafür, daß den Händler beinahe der Schlag traf.
„Keine Nadeln“, ächzte er ungläubig, angesichts des satten, üppigen Grüns, in dem sich der Baum präsentierte.
„Und krumm ist er auch.“
„Das Kind braucht dringend eine Brille“, wandte sich der Händler empört an Svenja. Die musterte mit kritischem Gesichtsausdruck die wunderschöne, kerzengerade und mannshohe Nordmanntanne, die ihr der Händler am ausgestreckten Arm präsentierte.
„Lisa hat Recht“, beteuerte sie mit Unschuldsmiene. „Die stammt ja noch aus dem letzten Jahr. Fünf Euro wären angemessener, inklusive Ständer.“

Der Weihnachtsmann hatte derweil sein Ziel erreicht, den Bergstedter Markt. Versonnen blickte er dem Bus hinterher, der schnell im dichten Schneetreiben verschwand. Dann sah er sich sein Ziel genauer an. Sein Blick fiel auf eine hübsche Kirche, zu deren Füßen ein kleiner, gemütlicher Tannenbaumstand die letzten Bäume präsentierte.
War dies der richtige Ort?
Er würde es herausfinden.

Auf dem Weihnachtsmarkt stopfte derweil der Händler die edle Nordmanntanne in ein durchsichtiges Netz. „Acht Euro“, brummte er unwirsch. „Ich bin zu gut für diese Welt.“
„Danke“, sagte Svenja, als der Händler ihr half, den Baum auf ihrem alten Rad so zu plazieren, daß dieser auf dem Lenker und dem Sattel auflag, während der Ständer einen Platz auf dem rostigen, ausgeleierten Gepäckträger fand.
„Bin gespannt, wie weit sie damit kommen werden. Schöne Weihnachten.“
„Schöne Weihnachten und vielen Dank“, erwiderte Svenja, worauf sich ein Lächeln auf die mürrischen Züge des Händlers stahl. Wider Willen mußte er sich eingestehen, daß ihm das Handeln Spaß gemacht hatte. Dann schob Svenja mit Lisas Hilfe das bedenklich ächzende Fahrrad auf den Gehweg hinaus.

Das dreimalige Läuten der Kirchturmuhr ließ den Weihnachtsmann aufblicken. So übersah er vollkommen Svenja, die in diesem Moment das unmögliche Kunststück probierte, den mannshohen Tannenbaum nur auf dem Lenker und dem Sattel balancierend durch den tiefen Schnee zu schieben.
„Vorsicht!“, rief Lisa noch, dann war es auch schon passiert. In einem wilden Durcheinander gingen sowohl der Tannenbaum, Svenja als auch der Weihnachtsmann zu Boden, wobei letzterer unsanft auf dem betagten Fahrrad landete.
„Das war’s dann wohl“, seufzte Svenja, die sich Schnee von der Jacke klopfte und traurig auf ihr beschädigtes Fahrrad hinabsah. Eine eindrucksvolle Acht im Vorderrad signalisierte eine eindeutige Botschaft: Ich fahre nirgendwo mehr hin.
„Und nun?“, fragte Lisa.
„Das tut mir furchtbar leid“, beteuerte der Weihnachtsmann, dessen Gefühl ihm deutlicher denn je signalisierte, daß er am richtigen Ort angekommen war. Er spürte, daß das kleine Mädchen ihn brauchte, auch wenn er den Grund dafür noch nicht erkennen konnte. Der Zauberbann der Elfen hatte noch immer zuviel Macht über ihn, sonst hätte er in dem Kind lesen können, wie in einem offenen Buch. Aber das hieß ja nicht, daß sich das nicht ändern konnte. Mit einem gütigen Lächeln bückte er sich, hob den Tannenbaum hoch und lud ihn sich auf die Schulter. Als Weihnachtsmann war er es schließlich gewohnt, einen schweren Sack zu schleppen, da würde er wohl noch mit einem Baum auf der Schulter zurecht kommen, auch wenn der ganz schön groß war. Ziemlich groß, wenn er ehrlich war. „Ich helfe Ihnen, den Baum nach Hause zu bringen“, bot er Svenja an, nachdem er ihn endlich ausbalanciert hatte.
„Das ist ganz schön weit“, gab Svenja mit besorgtem Blick zu bedenken, als wolle sie sagen, das schaffen Sie nie!
„Das ist das Mindeste, was ich tun kann“, erwiderte der Weihnachtsmann, wobei er sich jedoch fragte, ob er nicht etwas zu voreilig mit seinem Angebot gewesen war. Ganz schön weit war ein höchst dehnbarer Begriff. Schließlich war er schon ein paar hundert Jahre alt und spürte in letzter Zeit immer mehr seinen Rücken. Was Hippokrates wohl dazu sagen würde?
Egal, nun konnte er nicht mehr zurück.
„Na dann folgen Sie mir in die Wildnis“, scherzte Svenja, wobei sich der Weihnachtsmann nicht sicher war, ob sie Spaß machte oder das ernst meinte. Er fürchtete allerdings letzteres. Das würde zu seinem heutigen Tag passen. Fast glaubte er, die Elfen lachen zu hören, als sich das Trio unter Svenjas Führung auf den beschwerlichen Weg machte. Die ersten Meter schritt der Weihnachtsmann dabei noch mit federnden Schritten aus, doch je weiter die Kirche im Hintergrund zusammenschrumpfte, desto mehr geriet er ins Schnaufen. Er hätte seinen roten, magischen Mantel darauf verwettet, daß das Gewicht des Baums in den letzten Minuten um mindestens einhundert Kilo zugenommen hatte. Sein Blick streifte Lisa, die mit undeutbaren Gesichtsausdruck neben ihm herlief. Irgend etwas schien sie zu beschäftigen. „Freust pfff du pfff, pffff dich auf den Weihnachtsmann?“, versuchte er sie aus der Reserve zu locken, wobei Atemwolken wie bei einer betagten Lokomotive, die sich anschickte, einen steilen Paß hinaufzuschnaufen, aus seinem Mund quollen.
„Es gibt keinen Weihnachtsmann!“, sagte Lisa mit einer Bestimmtheit, die den Weihnachtsmann für einen Moment an seiner eigenen Existenz zweifeln ließ. Wie konnte ein so bezauberndes kleines Mädchen bereits den Glauben an den Weihnachtsmann verloren haben? Der Weihnachtsmann wußte hierauf beim besten Willen keine Antwort. Das war traurig. Auf der anderen Seite bot sich hier vielleicht die letzte Möglichkeit, das Ruder noch herumzureißen. Sollte es ihm gelingen, dieses ungläubige Kind zum Glauben an den Weihnachtsmann zu bekehren, würde selbst der bockigste Elf wohl kaum behaupten können, er habe seine Mission nicht erfüllt. Sein Gefühl sagte ihm aber, daß dies nicht der einzige Grund war, warum es ihn hierher gezogen hatte. Er mußte herausfinden, was hinter der Haltung dieses Mädchens steckte. „Was sagt denn pfff deine Mutter pfff dazu, daß du den pffff Weihnachtsmann verleugnest?“, probierte er einen neuen Vorstoß.
„Ich bin nicht ihre Mutter, auch wenn ich es gerne wäre“, warf Svenja ein und erzählte dem Weihnachtsmann die ganze Geschichte. Eigentlich war es nicht ihre Art, sich einem Fremden so anzuvertrauen. Sie wußte selbst nicht, warum sie es tat. Vielleicht lag es daran, daß Heiligabend vor der Tür stand, vielleicht lag es aber auch daran, daß der alte Mann in ihr eine Vertrautheit auslöste, wie sie sie zuletzt in ihrer Kindheit empfunden hatte. Eine vage Erinnerung, die mit Weihnachten zu tun hatte, ohne daß sie sie konkret greifen konnte. Nur ein unbestimmtes Gefühl in ihr flüsterte ihr hartnäckig zu, daß sie den Alten irgendwo schon einmal getroffen hatte, vor langer Zeit. Doch über der Erinnerung lag ein Schleier, den sie nicht zu zerreißen vermochte. Mit einem Seufzen schob sie die Gedanken beiseite. Es gab wahrlich andere Dinge, über die sie sich im Augenblick den Kopf zerbrechen mußte.

Einen Kilometer entfernt saß derweil Stuka, die Gans, in ihrem Weidenkorb und versuchte, das Jauchzen und Lachen der ausgelassenen Kinder um sie herum zu ignorieren. Bedrückt wanderte ihr Blick immer wieder zu der Scheibe, auf der die Kälte wunderschöne Eisblumen gemalt hatte und die Gans an bessere Zeiten erinnerten. Sie war dieses Jahr aus dem Ei geschlüpft und hatte bisher nur den Sommer kennengelernt. Laue Winde, die sie in den blauen Himmel trugen, das Plätschern der leichten Wellen auf ihrem See und der Duft der unzähligen Blüten hatten sie glücklich gemacht. Der Winter hingegen war eindeutig der bisherige Tiefpunkt ihres Lebens. Sie schnatterte unglücklich vor sich hin, als sie an ihren Schwarm dachte, der im Herbst aus ihrem Leben verschwunden und mit Sicherheit besser dran war als sie. Zumindest hatten sie einander. Würde sie ihn je wiedersehen?
Das war ihr größter Wunsch.
Allerdings beunruhigte sie eine andere Sache im Augenblick viel mehr. Wollte man den Gerüchten Glauben schenken, die sie im Schwarm aufgeschnappt hatte, war dies eine verdammt ungünstige Zeit für Gänse in diesem Land. Wenn das Unfaßbare, was man so schnatterte, tatsächlich stimmte, standen einer unglaublichen Zahl von den Artgenossen, denen es nicht gelungen war, im Herbst dieses Land zu verlassen, an diesem Tag ein heißer Abend bevor.
Konnten Menschen wirklich so grausam sein?
Die Gans bezweifelte zwar, daß ihr von den Menschen um sie herum eine Gefahr drohte, aber wer konnte schon sagen, was passieren würde, wenn sie sich plötzlich an alte Traditionen erinnerten und Hunger bekommen sollten? Sie beschloß, wachsam zu bleiben.

„Ich pfff bin pfff am Ende!“
Einem trunkenen Bär gleich stolperte der Weihnachtsmann in den Vorgarten des Kinderheims, das seinen Platz in einem ehemaligen Herrenhaus hatte. Von dem Glanz vergangener Zeiten war allerdings nichts mehr geblieben. Die Schindeln auf dem Dach wirkten, als hätten sie den Winterstürmen weniger entgegenzusetzen, als das Papierhaus der drei kleinen Schweinchen, den Fenstern war der Begriff „Isolierverglasung“ völlig fremd und die Risse in den Wänden waren sogar zahlreicher als die Runzeln im Gesicht von Ektron aus dem Ältestenrat der Elfen. 
„Willkommen in unserem Schloß“, scherzte Svenja und deutete eine übertriebene Verbeugung an, die der Weihnachtsmann lieber nicht erwiderte, aus Angst, hinzufallen und im Schnee zu versinken. Er bezweifelte, daß er aus eigener Kraft je wieder hochkommen würde. „Bringen Sie den Baum in den großen Raum am Ende des Flurs und erschrecken Sie Stuka nicht.“ Mit einer schwungvollen Geste öffnete sie die Haustür und bat ihn, einzutreten. Einem Lastenesel ähnelnd, stampfte der Weihnachtsmann an ihr vorbei.
In der großen Stube bekam Stuka den Schreck ihres jungen Lebens. Ein großer, schwitzender Mann, der einen wunderschönen Baum in der Blüte seines Lebens brutal gefällt hatte und nun als Trophäe durch die Gegend schleppte, stampfte mit der fragwürdigen Eleganz eines angeschossenen Grizzlys in Stukas Leben, ließ den Baum auf den Boden und sich selbst in den einzigen Sessel im Raum fallen. „Bei Rudolfs Nase, bin ich hungrig“, stöhnte er zu Stukas Entsetzen. Dann fiel sein Blick auf die Gans, die stocksteif in ihrem Weidenkorb saß. Selbst das Schnattern war ihr vergangen.

„Meint ihr, wir sollten ihm helfen?“ Nachdenklich blickte Vingo in die Runde.
„Er sieht ein wenig angeschlagen aus“, gab Zwolgo zu bedenken, der gemeinsam mit Vingo und Ruphus um eine Kristallkugel herumstand, die auf einem Wirbel von funkelnden Miniatursternen inmitten eines kleinen Besprechungsraums schwebte und zeigte, in welchen Schwierigkeiten der Weihnachtsmann gerade steckte. Die Stirnseite des quadratischen Raumes bestand aus einer Glasfront und bot einen spektakulären Ausblick auf die Polarlandschaft und tanzenden Nordlichter, doch momentan hatte keiner ein Auge für die Schönheit der Natur. Der Anblick des Weihnachtsmanns, der wie ein asthmatisch schnaufender Bär in einem Sessel saß, war viel spannender.
„Der hat schon ganz andere Dinge durchgestanden“, winkte Ruphus ab. Als Begleiter des Weihnachtsmanns auf seiner alljährlichen Tour konnte er am besten beurteilen, was der Weihnachtsmann so alles durchmachen mußte. „Als er mir damals vom Schlitten fiel, wirkte er deutlich weniger vergnügt als jetzt.“
„Er ist dir vom Schlitten gefallen?“, fragte Zwolgo fassungslos. Ruphus nickte.
„Man sollte nie zu tief über einen Zoo fliegen. Der Rautiergeruch macht die Rentiere nervös“, bekundete Ruphus gleichmütig.
„Er ist in den Zoo gefallen?“ Vingo konnte es kaum glauben.
„Mitten ins Eisbärengehege.“ Ein Grinsen schlich sich bei dieser Erinnerung auf Ruphus Gesicht. „Die Bären waren ganz schön sauer, als er dort ohne Geschenke aufkreuzte.
„Bei Gelegenheit mußt du mir unbedingt mal die ganze Story erzählen“, bettelte Zwolgo.
„Aber zuerst sollten wir überlegen, ob wir nicht zu weit gegangen sind. Habt ihr schon mal daran gedacht, was passiert, wenn er versagt?“, gab Vingo zu Bedenken.
„Ich darf wieder Erz abbauen“, seufzte Zwolgo. „Irgendwo in einem finsteren Loch. Ich bin dafür, ihn zu unterstützen.“
Ruphus nickte zustimmend. „Vielleicht können wir ihm ja ein wenig von dem wiedergeben, was ihn als Weihnachtsmann auszeichnet.“
„Den weißen Bart?“, fragte Zwolgo, worauf Vingo den Kopf schüttelte.
„Nein, ich habe eine bessere Idee.“ Dann hob er den Zauberstab und tippte gegen die Kristallkugel.

Erstaunt betrachtete der Weihnachtsmann die stocksteife Gans. „Diese ausgestopften Tiere wirken verblüffend lebensecht“, murmelte er. Dann spürte er plötzlich ein Prickeln am ganzen Körper, und ein Schleier aus Sternenstaub wirbelte für einen Augenblick um seinen Körper, bevor er sich in nichts auflöste. Stuka schnatterte erschrocken.
„Sieh mal an, du kannst sprechen“, sagte der Weihnachtsmann, dem der traurige Blick in den Augen der Gans zu Herzen ging. Sehnsüchtig wünschte sie sich die Rückkehr ihrer Artgenossen und den warmen Sommer zurück stellte der Weihnachtsmann fest und staunte.
Er konnte wieder die Wünsche anderer erkennen, als wenn er in einem offenen Buch lesen würde. Das versprach neue Möglichkeiten bei der Lösung seiner Aufgabe.
Stuka hingegen spürte mit dem Instinkt des Tieres, daß der große Mann, der sie bis ins Mark erschreckt hatte, gütig und verständnisvoll war und sie nicht als Zwischenmahlzeit betrachtete. Aber das war nicht alles. Stuka legte den Kopf schief und musterte den Weihnachtsmann. Da war noch etwas, das ihn von den anderen Menschen in diesem Haus unterschied. Nur was war das?
„Mach dir keine Sorgen, dein Schwarm hat dich nicht vergessen und wird mit dem Frühling zurückkehren.“
Genau!, stellte Stuka verblüfft fest. Sie konnte verstehen, was er sagte. Bei allen anderen Menschen hatte sie nur an der Klangfarbe der Stimmen ihre Zuneigung erkannt, nicht aber den Inhalt ihrer Worte. Diese waren für Stuka genauso unverständlich gewesen, wie das Quaken der Frösche. Bei diesem seltsamen Mann hingegen war das anders. Und was er sagte, ließ ihr kleines Herz jubeln.
Konnte es wahr sein? Würde ihr Schwarm wirklich zurückkehren?
„Es ist wahr“, sagte der Weihnachtsmann, worauf Stuka voller Freude auf ihn zugewatschelt kam und den Kopf in seinen Schoß legte. Sie schnatterte glücklich und ließ sich vom Weihnachtsmann die Federn streicheln.
„Ich hoffe mal nicht, daß Sie gerade dabei sind, das Abendessen zu rupfen.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte Svenja im Türrahmen und betrachtete nachdenklich das seltsame Paar. Wen hatte sie da bloß angeschleppt?
Der Weihnachtsmann verneinte beleidigt angesichts der ungeheuren Unterstellung und erhob sich schwerfällig, während Stuka zum Fenster watschelte. Wenigstens die Gans hatte er glücklich gemacht. Mit Svenja würde das schon schwieriger werden, ganz zu schweigen davon, daß dies nicht seine vordringlichste Aufgabe war. Dafür kam nur Lisa in Betracht. Aber wie sollte er sie davon überzeugen, daß es den Weihnachtsmann gab?
Hilflos kratzte er sich den kahlen Schädel.
„Haben Sie niemanden, mit dem sie heute Abend feiern werden?“, fragte Svenja, die die  hilflos wirkende Geste falsch interpretierte.
„Das kommt darauf an, wie man das Wort „Feiern“ interpretieren mag“, erwiderte der Weihnachtsmann mit müder Stimme. „Und was ist mit Ihnen. Kommt Ihr Freund heute abend hier her?“
„Nein. Ich .. bin.. seit ein paar Jahren allein.“ Die Traurigkeit in der Stimme Svenjas ließ den Weihnachtsmann aufhorchen.
„Was ist passiert?“, fragte er mitfühlend. Svenja zögerte einen Moment, doch dann überwog das vertraute Gefühl, das sie schon auf dem Weg hierher gegenüber dem Fremden empfunden hatte, und ehe sie sich versah, sprudelte die ganze Geschichte aus ihr heraus. Sie berichtete, wie sie als Verkäuferin in dem kleinen Spielzeuggeschäft am Bergstedter Markt gearbeitet und Tim kennengelernt, der ein Weihnachtsgeschenk für seinen Neffen gesucht hatte. Wie sie zusammengekommen und glücklich gewesen waren. Aber auch, wie die große Liebe ihres Lebens an dem Starrsinn seines einflußreichen Vaters wie an einem scharfkantigen Riff zerschollen war. Der einflußreiche Stadtpolitiker hatte sich für seinen Sohn eine andere Ehefrau als eine Spielzeugverkäuferin gewünscht, und diesem Druck hatte die Beziehung nicht standgehalten. „Und dann habe ich ihn am Weihnachtsabend vor vier Jahren verlassen. Die Anstellung kündigte ich und bewarb mich für diese Stelle. Und hier bin ich nun“, schloß sie ihre Erzählung ab, worauf der Weihnachtsmann ihr dezent ein Taschentuch reichte. Ihr Schneuzen schreckte Stuka für einen Augenblick aus der erwartungsvollen Betrachtung des Sternenhimmels auf.
„Es dauert noch ein wenig, Stuka“, tröstete der Weihnachtsmann die Gans, dann wandte er sich wieder Svenja zu. „Was ist aus ihm geworden?“
Svenja zuckte die Achseln. „Ich habe ihn nie wieder gesehen. Aber nun genug der traurigen Geschichten“, versuchte sie das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, „der Weihnachtsbaum muß aufgestellt werden. Wären Sie so nett, mir dabei zu helfen?“
Der Weihnachtsmann schluckte. Er hatte schon hunderttausende von Weihnachtsbäumen in seinem Leben gesehen, aber einen aufgestellt hatte er noch nie. Betrachtete man die hohe Zahl von Scheidungsanträgen, die dem Ritual des Baumaufstellens jedes Jahr auf dem Fuß folgten, schien dies kein leichtes Unterfangen zu sein.
„Ich glaube, dafür brauchen wir zunächst einen Ständer“, stellte er fest.
Svenja wurde bei diesen Worten blaß. Der Ständer mußte ihr beim Sturz vom Fahrradständer gefallen und in das Gebüsch entlang der Straße gerollt sein. Jedenfalls hatte sie nicht daran gedacht, ihn aufzuheben und mitzunehmen.
„Wandern sie gerne?“, fragte sie.

„Nun schaut euch das an! Die Zeit rennt ihm davon, und er geht spazieren“, stöhnte Ruphus beim Anblick des Weihnachtsmannes, der sich vorn übergebeugt gegen einen Schneesturm stemmte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien die Temperatur der am Nordpol in nichts nachzustehen.
„Ja, ja, er amüsiert sich, und wir haben die Sorgen“, bekundete Zwolgo griesgrämig. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. „Kommt er auf seinem Weg nicht an diesem Spielzeuggeschäft vorbei?“, fragt er nachdenklich.
„Ja, aber vermutlich nicht vor Neujahr, wenn er so weiter macht“, meinte Ruphus.
„Aber die Idee ist nicht schlecht“, räumte Vingo ein. „Du meinst ....“
Der Zwerg nickte nachdrücklich und auch Ruphus verstand worauf er hinaus wollte.
„Na, dann leg mal los“, forderte er Vingo auf.

Der Schnee peitschte gegen die Windschutzscheibe des schnittigen Sportwagens und nötigte den Scheibenwischern Höchstleistung ab. Hinter dem Steuer kämpfte ein gutaussehender, junger Mann mit den widrigen Wetterbedingungen. Er schaffte es kaum, den Wagen auf der spiegelglatten Bergstedter Chaussee zu halten, und dabei war es noch ein gutes Stück hin bis zu seinen Eltern in Wohldorf. Aber das Wetter paßte gut zu seiner Stimmung. Noch immer drückte die Erinnerung an einen Weihnachtsabend vor vier Jahren besonders an diesem Tag auf sein Gemüt und sorgte dafür, daß er sich deprimiert und einsam fühlte. Wer verlor schließlich schon gern die Liebe seines Lebens?
Und das an einem Weihnachtsabend?
Erschrocken trat er auf die Bremse, als in Höhe des Bergstedter Marktplatzes eine Schneeanhäufung auf der gesamten Fahrbahnbreite die Weiterfahrt unmöglich machte. Der Wagen quittierte das Manöver trotz sämtlicher elektronischen Hilfetools mit einem Schlingern, das er kaum ausgleichen konnte, bevor er endlich zum Stehen gelangte. Der Fahrer fluchte. Fast hätte man meinen können, es sei Zauberei im Spiel, die ihm die Weiterfahrt unmöglich und ihn zu seinem Umweg zwingen wollte, den er lieber vermeiden wollte. Den Weg über den Bergstedter Markt, und der würde ihn zwangsläufig an einem bestimmten Geschäft vorbeiführen. Mit einem Kribbeln im Magen setzte er den Blinker.

„Sämtliche Iglus lasse ich sie auf Hochglanz polieren“, fluchte der Weihnachtsmann. Er hatte ja schon viel in seinem langen Leben durchgemacht, aber so schwer, wie dieses Jahr, hatte noch kein Weihnachtsabend begonnen. Noch nicht einmal damals, als der Schlitten durch den TÜV gefallen war. Und dabei stand ihm die eigentliche Tour erst noch bevor, vorausgesetzt, er würde es schaffen, seine Mission zu erfüllen. Aber dazu mußte er zunächst den Ständer holen. Zumindest flüsterte ihm dies seine innere Stimme hartnäckig zu. Um ein Haar wäre auch noch von einem Sportwagen über den Haufen gefahren worden, als er die Straße unterhalb der Kirche überquerte. Dann endlich hatte er den Stand erreicht. Natürlich war niemand mehr da. Selbst die Weihnachtsbeleuchtung war ausgeschaltet, und dabei hätte er die gut gebrauchen können. Der Ständer war nirgendwo zu sehen. Mit einem Ächzen ging er in die Hocke, um die Thujahecke entlang des Wegs näher in Augenschein zu nehmen.

Die Schaufensterdekoration des Spielzeugladens bot eine beleuchtete Winterlandschaft in Miniatur. Eine elektrische Eisenbahn drehte unermüdlich ihre Runden durch die winterliche Idylle. Übergroße Nußknacker ragten wie Riesen zwischen liebevoll bemalten Kerzenhäusern auf, und in der mit Kunstschnee verzierten Schaufensterscheibe spiegelte sich das Gesicht eines jungen Mannes mit nachdenklichem Blick. Der Schneefall durchnäßte seinen teuren Anzug, doch das registrierte er nicht. Er war gefangen in der Vergangenheit.
„Ein wenig zu spät, um noch ein Geschenk zu kaufen.“
Erstaunt drehte sich der junge Mann um und erblickte einen älteren Herrn, der wirkte, als habe er gerade die Arktis zu Fuß durchquert. In der Hand trug er einen Weihnachtsbaumständer. Trotz des desolaten Erscheinungsbildes strahlte der Mann etwas Gütiges aus, das den jungen Mann dazu verleitete, anders zu antworten, als er es normalerweise getan hätte. „Ich bin nur aus einer alten Erinnerung an jemanden, der mir sehr nahe stand und hier gearbeit hat, ausgestiegen, aber jetzt muß ich weiter“, sagte er mit leichter Wehmut in der Stimme. „Schöne Weihnachten.“
Der Weihnachtsmann horchte auf. Also hatte er sich nicht getäuscht, als er den jungen Mann vor dem Schaufenster entdeckte. Das mußte Tim sein. Und plötzlich wußte der Weihnachtsmann, was er tun mußte.
„Schöne Weihnaaacchhh..“, stöhnte er, griff sich theatralisch an die Brust und sackte an der Schaufensterscheibe in den Schnee hinab.
„Bleiben Sie ruhig, ich rufe einen Arzt“, versuchte Tim erschrocken, den vermeintlich angeschlagenen Weihnachtsmann zu beruhigen, während er seine Kleidung nach dem Handy abtastete. Doch der Weihnachtsmann winkte ab.
„Das dauert zu lange, aber wenn sie mich nach Hause fahren könnten, es ist nicht weit?“
Tim schaute skeptisch, angesichts des Vorschlags. War das ganze nur eine Farce? Mit einem Seufzen willigte er ein, schließlich war Weihnachten. „Aber das Ding da kommt in den Kofferraum“, sagte er mit einem Wink auf den desolaten Ständer.

Das drängelnde Klingeln an der Haustür ließ Svenja vor Schreck beinahe die Kiste mit Weihnachtskugeln aus den Händen fallen. Was war denn nun schon wieder los? Mit ein paar schnellen Schritten war sie an der Tür. „Ja, ja, ich komme ja schon“, rief sie, doch als sie die Tür öffnete, blieb ihr die Sprache weg, als sie erkannte, wer da hinter ihrem arg in Mitleidenschaft gezogenen Helfer Einlaß begehrte.
Ihre Jugendliebe Tim.
Das Strahlen, das ihre Augen plötzlich leuchten ließ, brachte den Weihnachtsmann zum Schmunzeln. „Schön, daß Sie sich so freuen, mich wiederzusehen“, brummte er. „Ohne diesen jungen Mann, der so freundlich war, mich herzufahren, hätte ich es allerdings nie geschafft. Kommen Sie doch einen Augenblick herein“, forderte er Tim auf, der sein Glück kaum fassen konnte und dem Weihnachtsmann wie ein Schlafwandler folgte.
„Svenja“, krächzte er. „Bist du das wirklich?“
„Nein, ich bin die Weihnachtsfee, aber was tust du denn hier?“
„Ich hatte vor dem Spielzeugladen angehalten, als dein Bekannter aufgetaucht ist.“
„Vor dem Spielzeugladen? Könnte es sein, daß du nach mir Ausschau gehalten hast?“
Der Weihnachtsmann grinste wie ein Honigkuchenpferd als er das noch immer verliebte Paar betrachtete. Sein Gefühl sagte ihm, daß er das Richtige getan hatte und sich alles zum Guten wenden würde. „Ich sehe, ich bin hier überflüssig. Wird Zeit, daß sich jemand um den Baum kümmert“, verkündete er fröhlich und verschwand in Richtung Wohnzimmer.
„Nat, nat, nat?“, wurde er dort von Stuka begrüßt, die noch immer am Fenster stand.
„Ja, es dauert noch. Geduld ist wohl nicht deine Stärke“, seufzte der Weihnachtsmann. Zufrieden stellte er den Ständer neben dem Baum ab. Dann erinnerte er sich, daß er noch immer nichts gegessen hatte. Mission hin oder her. Verhungert würde er niemanden etwas nützen.
„Lisa, kommst du mal, ich möchte dir jemanden vorstellen“, erklang Svenjas glückliche Stimme im Hintergrund, während der Weihnachtsmann sich auf die Suche nach der Küche begab, neugierig gefolgt von Stuka, die hinter ihm her watschelte. Gegen ein wenig Brot hätte sie nichts einzuwenden.

Der Weihnachtsmann war mit sich zufrieden. Der Kühlschrank hatte zwar nicht allzuviel hergegeben, die Küchenuhr stand auf Viertel vor Sechs, seine Mission hatte er nicht erfüllt, aber all das störte ihn nicht mehr. Immerhin hatte er dem Schicksal auf die Sprünge geholfen und zusammengefügt, was zusammengehörte und damit zwei Herzenswünsche erfüllt. Was wollte er mehr, wenngleich ........
„Tust du mir einen Gefallen?“
Erstaunt stellte der Weihnachtsmann fest, daß Lisa im Türrahmen stand. Sie strahlte mindestens so sehr, wie es der Weihnachtsbaum nach getaner Arbeit tun sollte.
„Svenja hat sich mit Tim wieder vertragen, und Tim hat gesagt, er kann uns helfen, daß ich nicht weg muß. Ich mag ihn. Sein Papa kann helfen, hat er gesagt. Ist das nicht toll“, sprudelte es aus ihr heraus. „Ich habe mir so gewünscht, daß ein Wunder geschieht, und nun ist es passiert.“
„Das freut mich für dich Lisa“
„Nat, nat, nat“, pflichtete Stuka ihm bei, die gerade den Rest einer Brotscheibe vertilgte.
„Aber was habe ich damit zu tun?“
Lisa wurde rot.
„Glaubst du, daß ein Brief an den Weihnachtsmann noch ankommt, wenn du ihn heute noch in den Briefkasten wirfst?“
Ein warmes Gefühl durchströmte den Weihnachtsmann.
„Aber ich dachte, du glaubst nicht an den Weihnachtsmann.“
„Das habe ich doch nur so gesagt, weil ich enttäuscht war, daß meine Wünsche nicht erfüllt wurden“, sagte Lisa leise.
„Weißt du, manchmal muß man nur ein wenig Geduld haben, dann gehen Wünsche auch in Erfüllung.“
„Nat, nat, nat“, bestätigte Stuka.
„Und vielleicht sind deine Wünsche ja auch nie beim Weihnachtsmann angekommen. Hast du sie denn aufgeschrieben und sie ihm geschickt?“
Lisa schüttelte den Kopf.
„Und nun möchtest du ihm deine Wunschliste noch zukommen lassen.“
Erneut schüttelte Lisa den Kopf. Dabei fischte sie einen zerknitterten Zettel nebst Buntstift aus der Tiefe ihrer Kleidung hervor. „Schreib einfach auf, was ich sage“, bat sie.
„Nun gut, dann laß mal hören.“

Lieber Weihnachtsmann,

bitte sei nicht böse, daß ich nicht an Dich geglaubt habe. Heute aber sind so viele Dinge, die  ich mir gewünscht habe, in Erfüllung gegangen, daß ich sicher bin, Du hast hier geholfen. Dafür danke ich Dir. Wenn Du Zeit hast, schau doch einmal bei mir vorbei. Svenja, Tim, Stuka und ich würden uns sehr darüber freuen. Ich glaube, Stuka hat auch noch einen Wunsch. Sei doch so lieb, und erfülle ihn ihr.

Deine Lisa

Der Weihnachtsmann wischte sich unauffällig mit dem Mantelärmel über die Augen, nachdem er die letzten Worte niedergeschrieben hatte.
„Meinst du, er bekommt den Brief noch?“
„Mach dir keine Sorgen, ich werde ihn ihm persönlich überbringen“, versprach der Weihnachtsmann.
„Vielen Dank“, jubelte Lisa und umarmte den Weihnachtsmann innig. „Irgendwie bist du auch ein wenig wie der Weihnachtsmann“, sagte sie mit einem herzlichen Lächeln. „Dir fehlen nur ein paar Haare.“ Dann wandte sie sich um und rannte aus der Küche hinaus. „Svenja, Tim, ich muß euch etwas erzählen“, rief sie.
In der Küche blieben der Weihnachtsmann und Stuka allein zurück. Die Gans sah den Weihnachtsmann fragend an. Irgendwie spürte sie, daß gerade etwas Bedeutsames passiert war. „Mach’s gut Stuka, und grüß deinen Schwarm von mir“, sagte der Weihnachtsmann mit warmer Stimme, während die Küchenuhr auf achtzehn Uhr umsprang. Seine Zeit hier war abgelaufen. Eine Wolke aus glitzernden Sternenstaub in allen Farben des Regenbogens entstand plötzlich aus dem Nichts und schmiegte sich um den Weihnachtsmann, so daß Stuka erschrocken schnatterte.

Im Wohnzimmer hatte Lisa inzwischen berichtet. „Na dann laden wir ihn doch zum Dank zum Abendessen ein“, sagte Svenja und begab sich zur Küche, gefolgt von Lisa und Tim. „Hätten Sie Lust....“, begann sie und brach jedoch ab, als sie erstaunt feststellte, daß der Fremde verschwunden war. Nur Stuka, die einen leicht verstörten Eindruck machte, stand inmitten der Küche und blickte sich um, als suche sie etwas.
„Wo ist er hin?“, fragte Svenja erstaunt. Das Küchenfenster war verschlossen, und der Weg über die Haustür führte unweigerlich über das Wohnzimmer. Er konnte unmöglich verschwunden sein. „Das ist geradezu unheimlich“, sagte Svenja, die fragend zu Tim hinüber sah, doch der zuckte auch nur ratlos mit den Achseln. Beide fragten sich insgeheim, ob hier nicht mehr als bloßer Zufall im Spiel war. Aber es laut auszusprechen, trauten sie sich nicht. Lisa hingegen hatte solche Probleme nicht. Wenn sie es recht überdachte, gab es hierfür nur eine Erklärung, und die war so wunderbar, daß Lisa sie kaum fassen konnte.
„Vielleicht war er ein Helfer des Weihnachtsmannes oder vielleicht...“, sie stockte kurz, „war er sogar der Weihnachtsmann selbst“, führte sie den Satz ehrfürchtig zu Ende.
„Nat, nat, nat!“, pflichtete ihr Stuka mit Nachdruck bei.

„Steht die Reiseroute fest?“, fragte der Weihnachtsmann. Mit Stolz betrachtete er den prächtigen Schlitten, dessen Ladefläche vor Geschenken überquoll. Gleich sechs Rentiere hatte sein umsichtiger Helfer Ruphus diesmal davor angespannt.
„Alles einprogrammiert, Chef“, bestätigte Ruphus.
„Keine Geschenke vergessen?“
„Alle Wünsche wurden berücksichtigt“, beeilte sich Zwolgo zu versichern, der unter einem Stapel von Listen zu versinken drohte.
„Gut, gut“, freute sich der Weihnachtsmann. Voller Vorfreude kletterte er auf den Schlitten hinauf, wo ihn Ruphus bereits erwartete. Ein Blick über den Platz bestätigte ihm, daß die Abfahrt wie jedes Jahr von keinem der Bewohner des Weihnachtsdorfes versäumt wurde. Von überall winkten ihm Elfen und Zwerge zu. Kleine Fahnen wurden geschwenkt, und ein stimmungsvolles Nordlichtspektakel sorgte im Hintergrund für den angemessenen Rahmen.
„Also dann los“, sagte der Weihnachtsmann, worauf Ruphus den Befehl weitergab und der Schlitten sich auf einer Wolke von Sternenstaub unter dem Jubel der Zurückbleibenden in den Himmel hob. „Wir müssen übrigens noch einen kleinen Umweg einplanen“, wandte sich der Weihnachtsmann an Ruphus, dem Schlimmes schwante. Wenn der Weihnachtsmann so anfing, stand ihnen in der Regel ein haarsträubendes Abenteuer bevor. „Ein junger Gitarrenspieler in Hamburg braucht meine Hilfe. Es ist wirklich nur ein klitzekleiner Umweg...“

Vingo und Zwolgo blickten in selten stummer Eintracht dem kleiner werdenden Schlitten hinterher. Doch dann stutzten sie plötzlich. Normalerweise wurde das Entschwinden des Weihnachtsmanns in den nächtlichen Polarhimmel mit einem klassischen Weihnachtslied verabschiedet, das der Weihnachtsmann jedes Jahr neu aussuchte. Aber das, was nun plötzlich wie von Zauberhand erklang, hatten sie noch nie gehört.

„Driving home for Christmas....
With a thousand memories....“

Ende


Fröhliche Weihnachten, und wenn Euch im Weihnachtstrubel der Kaufhäuser ein gestreßter Weihnachtsmann begegnet, habt Mitleid mit ihm. Man kann nie wissen, wer sich hinter der Maske verbirgt.

Euer
Klaus-Peter Behrens

 




 

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