Michael Reißig

Weihnachten daheim

Müde hievt die gut aussehende achtundzwanzigjährige Corinna ihre bis zum Rand gefüllten Einkaufstaschen in den Kofferraum ihres quietschroten Renaults.
Eine eisiger Windstoß durchwühlt ihr leicht gelocktes kastanienbraunes Haar. Die Farbe ihres schmalen Gesichtes kommt dem eines Vampirs schrecklich nahe.

Nachdenklich wirft sie den Motor an. Routiniert steuert sie ihren Wagen aus dem schmalen Labyrinth des Parkplatzes.
Einige Straßen, die sie passieren muss, gleichen einer Rutschbahn. Die sonore Stimme des Radiomoderaters hat die Autofahrer zu höchster Vorsicht gemahnt. Für die stets besonnen fahrende Corinna völlig normal.
Doch plötzlich - nur wenige Meter vor ihr - gerät ein VW-Passat, auf einer langen, auf einer sehr übersichtlichen Grade ins Schleudern.
Corinna tritt instinktiv auf's Bremspedal - und das bei dieser Spiegeglätte!
Alles geschieht im Bruchteil von nur wenigen Sekunden.
In rasantem Tempo dreht sich ihr Auto mehrmals um die eigene Achse und befördert dabei mit voller Wucht den Passat in den Straßengraben. Für einen silbergrauen Mercedes hinter ihr ist der Bremsweg ebenfalls zu knapp. Dieser fährt auf und schleudert ihr Gefährt in den frischen Schnee, linksseitig der Fahrbahn. Die Wucht des Aufpralls hat zur Folge, dass sich Corinnas Wagen zweimal überschlägt, während die Nobelkarosse mit dem Stern verhältnismäßig glimpflich davonkommen sollte.


Corinna stößt einen wilden Schrei aus, während sich gleichzeitig ihre schönen kristallblauen Augen öffnen.

„Bleib doch ruhig, mein Liebling! Ich bin doch bei dir!”, sagt der erschrockene Ehemann Ralf mit zärtlicher Stimme und fährt fort:
„Ich bin doch bei dir!”
„Wo bin ich hier eigentlich?” fragt Corinna mit schleiernem Blick.
„Verstehe doch, du bist bei mir!” sagt er zu ihr, während seine wärmende Hand gewohnt zärtlich über ihr schönes Haar wandert.
Doch eine ganze Minute sollte noch vergehen, bis sich bei der verwirrten Frau so ganz allmählich die Pforten ihres traumatischen Erlebnisses schließen.
Zum Glück hat sie nur geträumt, aber sie ist wie eine Mondsüchtige durch diesen Traum gewandelt, durch einen tatsächlich gelebten Traum, durch einen Albtraum.
Wie oft mag dieser wie ein schwarzer Bumerang wiederkehrende nächtliche Gruselfilm Corinna in Angst und Schrecken versetzt haben. Sie wusste es nicht, sie wollte es auch nicht wissen. Viel lieber hätte sie in zahllosen Nächten die Schönheiten des Lebens an ihr vorüberziehen sehen, aber Träume sind nun mal keine Wunschkonzerte. Besonders diese berüchtigten Albträume sind in den Seelen der Menschen so fest verankert wie stählerne Ketten, die so fest umspannt sind, dass sie sich nicht mehr lösen lassen.

Es ist Donnerstag - vierundzwanzigster Dezember - Heiligabend.
Über Nacht war frischer Schnee gefallen, der die Fichten und Tannen, die nun endlich ins Blickfeld ihrer sorgenvollen Augen gerückt sind, in ein weißes Kleid gehüllt hat, welches im betörend-warmen gelborangefarbenen Licht der Morgensonne in majestätischem Glanz erstrahlt, so wie die silbrigen Lamettafäden oder so wie die festlichen Schmuckkugeln ihres zart duftenden Weihnachtsbaumes.
Corinna will aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Erst jetzt scheint ihr so richtig klar geworden zu sein, dass sie - ausgerechnet vor dem Morgen des Heiligabend - wieder einmal dieser schrecklichen Traum durch ihren Kopf geflutet ist.
So geschehen.vor einem Jahr. Über Corinna musste ein Schutzengel geschwebt sein.
Wie wäre es sonst zu erklären, dass es Feuerwehr und Sanitätern gelang, die Schwerverletzte in relativ kurzer Zeit aus dem Wrack ihres Wagens zu bergen, was einen schnellen Transport in das - Gott sei Dank - nur einen Steinwurf entfernte Helius-Klinikum möglich machte.

Corinna hatte nicht nur einen schweren Schock erlitten, sondern auch eine schwere Gehirnerschütterung, einen Kniescheibenbruch, der operativ behandelt werden musste, sowie mehrere Schnittwunden, deren Narben auch jetzt noch ihren schönen Körper verunzieren und auch eine starke Platzwunde.
Über zwei Monate musste sie diesen typischen Krankenhausgeruch über sich ergehen lassen. Danach begab sie sich in die Obhut von Frau Mager - einer Physiotherapeutin. Höchst anstrengende Krankengymnastik stand von nun an mindestens dreimal wöchentlich für sie auf ihrem Plan.
Für Corinna war es das kleinere Übel. Viel stärker setzte ihr der seelische Schmerz zu. Noch heute, sobald sie ins Auto steigt, pulsiert ihr sensibles Herz so stark, dass sie fürchtet, es könnte plötzlich aufhören zu schlagen. Ein Grund, weshalb sich die resolute, aber dennoch so lebenslustige Frau genötigt sah, eine Psychotherapie in Angriff zu nehmen.

Ralf hingegen hatte das Schicksal noch härter getroffen. Als Bundeswehrsoldat im Afghanistan-Einsatz hatte der ansonsten so zählebige zweiunddreißigjährige Feldwebel nicht nur erleben müssen, wie sein bester und treuester Kamerad bei einer Kontrollfahrt mit dem Jeep auf der Stelle zu Boden sank und sofort verblutete, als ein Heckenschütze aus sicherem Versteck den Wagen traf. Ihn selbst hatte ein Streifschuss ebenfalls getroffen, zum Glück nur im Bereich des Unterschenkels, weshalb er - Gott sei Dank - weiterleben durfte - allerdings mit bleibenden Schäden.
Das rechte Bein musste amputiert werden, was zur Folge hatte, fortan mit einer Prothese leben zu müssen. Dennoch plagen dem tapferen Familienvater auch heute - ein halbes Jahr danach - noch Schmerzen - sowohl physischer, als auch psychischer Natur. Letzteres wiegte allerdings noch viel viel schwerer.
Würde Ralf jemals imstande sein, den seelischen Ballast aus seinem Inneren zu vertreiben?
Wohl kaum!
Den Dienst bei der Bundeswehr musste er wegen Dienstunfähigkeit selbstverständlich quittieren. Das Elend dieses schrecklichen Krieges, welches er hautnah miterleben musste, hatte auch in ihm eine andere Lebenseinstellung eingeläutet. Aus dem dienstbeflissenen Feldwebel ist ein Pazifist geworden. Kriege hasste er von nun an wie die Pest oder wie die Cholera. Auf's Schärfste verurteilte er den Einsatz aller ausländischen Truppen in Afghanistan - den er nun nicht mehr als sinnstiftend für die Interessen des deutschen Volkes angesehen hatte.
„In diesem Krieg gibt es keine Sieger, nur Verlierer!” scheute er sich nicht, seine eigene Meinung auch der Öffentlichkeit preiszugeben. Seine Vorträge waren heiß begehrt.
Auch seiner Partei, der CDU, hat er mittlerweile den Rücken gekehrt. Mit einer Partei, die diesen menschenunwürdigen Krieg unterstützt, die mit dem Leben vieler unschuldiger Menschen spielt, möchte er nichts, aber auch gar nichts mehr am Hut haben. Die Vertretung dieses sinnlosen Krieges - das hat nichts mit christlicher Ethik zu tun, auch wenn diese Partei sich einst das Wörtchen „christlich” auf ihre Fahnen geschrieben hatte.
Auch seinen beiden fünfjährigen Söhnen würde er später mal dringendst abraten, in solch ein blutiges Scharmützel zu ziehen - völlig egal, an welchem Punkt unseres Planeten der Poker um Öl- und Gasreserven in ferner Zukunft einmal ausgetragen werden sollte.

Gemeinsam geht die Familie, so wie an jedem Heiligen Abend, zur Christvesper in das Gotteshaus.
Als der Kirchenchor die Lieder „Es ist ein Ros' entsprungen” und später, zu vorgerückter Stunde, „Stille Nacht Heilige Nacht” anstimmt, versinkt das mit weiten Bögen bespannte Gewölbe dieses überwältigenden sakralen Bauwerks in festlicher Dunkelheit.
Corinna ist zu Tränen gerührt. Selbst so einem gestandenen Mann wie Ralf fällt es verdammt schwer, deren Fluss zu unterdrücken Selbst die beiden Söhnen Markus und Lukas sind gefesselt von der feierlichen Stimmung, deren Sinn sie freilich noch nicht verstehen können.
Genüsslich saugen die Kids die weihnachtlichen Klänge in sich ein und verhalten sich dabei mucksmäuschenstill.

Auch an den Frohnaturen von einst, sind diese schweren Schicksalsschläge nicht spurlos.
Die Temperamentsbolzen von einst sind mittlerweile viel ruhiger, manchmal sogar ein wenig verschlossen geworden.

Nach dem Ende des Gottesdienst bricht liebliches Glockengeläut die Stille dieses Weihnachtsabends.

„Wir beide haben unserem Vater, unserem Herrn zu verdanken, dass wir noch am Leben sind”, sagt Ralf - dem die Schrecken dieses Krieges zu einem sehr empfindsamen Menschen geformt haben - ihr leise ans Ohr.
„Das haben wir”, gleiten auch Corinnas Worte gefühlvoll zärtlich aus ihrem sinnlichem Mund, der wohlige Wärme verströmt, so wie Ralfs Mund auch, der sich allmählich ihrem nähert. Ralf zieht Corinna noch fester an sich heran. Beide Lippen nähern sich, bis sie in einem innigen Kuss, einem Kuss der die wahre, der die inneren Werte einer menschlichen Liebe zutiefst symbolisiert, fernab von jeglichen lüsternen Gedanken.
Liebe ist viel mehr als Sex - erst recht, wenn das Schicksal bei beiden in voller Härte zugeschlagen hat, so wie bei Ralf und Corinna geschehen.

Es ist knackig kalt. Eisige Schwaden quirlen aus Mündern zahlloser Gottesdienst-Besucher in die weihnachtliche Luft, die noch viele Geheimnisse in sich birgt.
Dennoch - es ist so schön, unheimlich schön, himmlich schön, viel zu schön um wahr zu sein!
Ein ganzes Repertoire von Superlativen könnten die beiden noch verwenden.
Wie schön kann doch so ein Weihnachtsfest sein! Ein Weihnachten zu zweit, vereint mit glückseligen Kindern.
Von überall her dringt Licht aus den Fenstern - von Lichterketten, Kerzen, Schwibbögen, Weihnachtsbäumen, aus Adventssternen - Lichter der Freude, Lichter des Frohsinns und des Glückes. Aber diese Lichter verstreuen auch Wärme, Wärme, die die Herzen erglühen lässt, Wärme die Geborgenheit versprüht, aber auch Wärme, die das Licht des Friedens über den ganzen Erdball tragen möge, eine Botschaft, die Jusu vor mehr als zweitausend Jahren nach seiner Geburt im Stall von Bethlehem in die Welt getragen hatte, eine Botschaft, die aber bei vielen herzlosen Menschen, die lieber das schwingende Kriegsbeil bevorzugten, statt sich dem friedvollen Miteinander zu widmen, auf taube Ohren gestoßen war.

Corinna und Ralf's Gemüt befällt grenzenlose Freude, als sie das Leuchten in den Kinderaugen sehen, als Knecht Ruprecht die Geschenke auspackt und diese unter den Weihnachtsbaum legt. Markus und Lukas springen vor Freude in die Luft, als plötzlich eine Plastik-Eisenbahn und viele andere süße Leckereien zum Vorschein kommen.
In den Kinderaugen spiegeln sich die Flämmchen der Weihnachtskerzen, als würden sie mit den Kindern, um die Wette leuchten.
Gott hatte gewollt, dass Mama und Papa noch leben, er hatte gewollt, dass die Kinder sich nicht der Obhut wildfremder Menschen anvertrauen müssen.


Alle fallen sich gegenseitig in die Arme. Alle herzen sich, während draußen immer noch samtige Flocken durch die Lande tänzeln.
Ein Weihnachtsfest wie aus dem Bilderbuch - ein Weihnachtsfest, das beide noch lange in Erinnerung behalten werden.

Das Jahr zwei nach den Schicksalsschlägen hat begonnen. Beide haben sich mittlerweile an dieses andere Leben gewöhnt. Gott hatte ein Einsehen gehabt, obwohl Ralf gesündigt hatte. Richtig - er hatte gesündigt, er war in diesen schmutzigen Krieg gezogen, weil er einst felsenfest überzeugt war, das Richtige getan zu haben. Die Tragödie vom Hindukusch war es, die letztendlich diesen Sinneswandel eingeläutet hatte.
Die Sühne Gottes war ihm sicher. Denn unser Vater im Himmel war es, der Ralf mit einem Geschenk belohnt hat, welches nicht mit Geld zu bezahlen ist -
einem Geschenk, das er, aber natürlich auch sein Schätzchen Corinna und nicht zu vergessen die beiden Sprösslinge - Lukas und Markus - mit größtem Dank angenommen haben.

So sieht die junge Familie den folgenden Lebensabschnitten mit wachsender Zuversicht entgegen, zumal auch die Kinder - trotz dieser widrigen Umstände - ihre verständlichen Ängste zumindest ein wenig abgelegt haben. Natürlich gibt es noch keinen Grund auf einer Wolke der Euphorie zu schweben. Dennoch - jeder noch so kleine Fortschritt - sei es ein noch ein besserer Redefluss, oder wieder ein anderes Stückchen neu hinzugewonnene Selbständigkeit, löst bei ihm, aber auch bei seiner treuherzigen Gattin, die er über alles liebt, die er niemals hergeben würde, ein freudvolles Lächeln aus.
So möge es ewig bleiben! 
 

In dieser Geschichte möchte ich die Weihnachtsstimmung beschreiben, die Menschen erleben, die das Schicksal arg gebeutelt hat, die sogar mit einem Trauma fertigwerden mussten.
Diese Geschichte ist sowohl traurig, aber auch weihnachtlich-feierlich gestimmt, und Mut machend zugleich.
LG. Michael
Michael Reißig, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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