Hans Werner

Weihnachten

Kurzgeschichte von
Hans Werner


Am blauen Himmel schimmerten hauchdünne Wölkchen, von blendendem Licht umrandet. Aus einem Haus, das bis zum Rohbau fertiggestellt war, ragten mächtige Balken in den Himmel, deren hellrote Farbe an gerötetes Fleisch erinnerte. Einige Bauarbeiter auf dem Zwischenboden nahmen mit vereinten Kräften Holzsparren in Empfang, die der Baukran an starken Seilen langsam herunterließ. Andere entfernten letzte Schalhölzer und Überreste von Baustahlmatten, und wieder andere trugen lange Dachlatten herbei, die, je nach Bedarf, noch zugesägt werden mussten. Es herrschte ein reger Betrieb und immer wieder hörte man laute Kommandorufe. In einer Ecke stand auch schon das geschmückte Bäumchen für das Richtfest bereit, welches noch vor Weihnachten stattfinden sollte.

Plötzlich erfüllte die Luft ein markerschütternder Schrei. Es war, als ob Haus, Gebälk, Wolken und Himmel erzitterten und wie bei einer Bildstörung zu flimmern anfingen. Einen Augenblick später stürzten Arbeiter aus dem halbfertigen Haus und riefen aufgeregt nach einem Arzt. Fenster wurden aufgerissen, einige Frauen liefen auf der Straße zusammen, Männer gestikulierten heftig und deuteten mit gestreckten Armen auf die Baustelle. Nur ein Knabe, wohl der klügste Mensch von allen, rannte zum Telefonhäuschen an der Straßenecke und wählte die Notrufnummer.[1]

Wenige Minuten später fuhr der Notarztwagen vor, dicht gefolgt vom Rotkreuzauto, aus dem zwei Männer heraus sprangen und mit einer Tragbahre im Neubau verschwanden. Kurz danach erschienen sie wieder in der dunklen Türöffnung und trugen einen Mann heraus, offenbar einen schwerverletzten älteren Arbeiter, dem man Kopf und Arme notdürftig verbunden hatte. Doch aus dem Notver­band quoll unablässig Blut hervor, und alles sah sehr bedrohlich und gefährlich aus.

Inzwischen war der Notarzt ausgestiegen und an die Bahre herangetreten. Er ergriff vorsichtig die linke Hand des Verunglückten, und, da er kaum noch Zeichen eines Pulsschlages zu fühlen schien, runzelte er die Stirn, so, als ob er sagen wollte: ‚schlimm, schlimm‘. Dann öffnete er vorsichtig die Augenlider des verletzten Arbeiters, um die Reflexbewegung der Pupillen zu prüfen. "Ins Krankenhaus, Intensivstation, so schnell wie möglich, Lebens­gefahr!" Diese knappe Anweisung war an die Rotkreuzträger gerichtet. Doch diese Männer, an solche dramatischen Situationen gewöhnt, gerieten keineswegs in Panik, sondern hoben die Bahre vorsichtig an, schoben sie behutsam in das Wageninnere und schlossen dann die Schiebetüren. Einer der beiden Sanitäter setzte sich in den hinteren Teil des Wagens, neben den Kranken, der andere war auf den Führersitz gesprungen, und mit aufheulendem Martinshorn brauste der Wagen davon.

"Er war übermüdet, einfach übermüdet. Die Überstunden waren zu viel für den Alten", sagte einer der Zimmerleute, die dabeistanden.

"Seine Alte hat ihm jede Mark abgenommen. Sie trinkt wie ein Loch und raucht wie ein Schlot“, fügte ein andrerer hinzu. "Ich wette, dass sie ihn zu diesen Überstunden gezwungen hat."

"Nein, das weiß ich besser“, entgegnete der andere, "er hat mir mal zwischen Bier und Vesper anvertraut, dass er seiner Frau immer weismache, die Schichtzeiten seien, verlegt worden. Kein Wunder, dass er sich auch einmal ein paar eigene Groschen verdienen wollte. --- Kann ich verstehen.“

Da schaltete sich ein Dritter ins Gespräch ein:

"So ist es nicht. Er wollte das Geld nicht für sich selbst. In der Stadt lebt doch seine 18jährige Tochter Angelika. Vor eineinhalb Jahren ist sie von zu Hause weggegangen, wegen der dauernden Streitereien mit der trunksüchtigen Mutter, dem Drachen. Ich glaub, er schickt diesem Mädchen alles Überstundengeld.“

Die andern beiden schwiegen betroffen.

Dann sagte der eine: "Ein bisschen mehr Courage müsst‘ er haben, der August. Was der sich alles gefallen lässt, zu Hause!"

"Ja, gutmütig ist er und weichherzig“, pflichtete der andere bei, "und oft das Gespött der Meister und Gesellen."

Der dritte, der offenbar in den persönlichen Verhältnissen Augusts genauer Bescheid wusste, fügte hinzu:

"Und vor kurzem zeigte er mir ein Bild. Ein kleines Kind war darauf zu sehen, sein Enkel, wie er mir flüsternd und schmunzelnd anvertraut hat. Seine Frau, sagte er, habe davon nichts wissen dürfen. Sie sei so bigottisch. Und nun wollte er zum bevorstehenden Heiligen Abend seiner Tochter Geld schicken, für Babywäsche.“



Während sie noch so sprachen, ratterte ein Lastwagen mit neuem Baumaterial heran. Der Kapo trat hinzu und mahnte, mit unwilligen Worten, wieder an die Arbeit zu gehen. Es war kalt. Der frühe Winterabend schickte seine Dämmerung voraus. Aus den zugigen Öffnungen des Neubaus sah man den flackernden Schein hellroter Lampen. Vom Himmel, an dem sich dichtes Gewölk zusammengezogen hatte, fielen einige Schneeflocken. Das Wetter versprach, eine weiße Weihnacht zu bescheren, romantisch, wie auf Postkarten.







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[1] Zu der Zeit, in der die Geschichte spielt, gab es noch keine mobilen Telefone.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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