Irene Beddies

Das Weihnachtsbild

 


 
Der Frost hatte über Nacht Eisblumen ans Fenster gemalt. Sie sahen aus wie phantastische Farnkräuter. Ein Wald aus Farn.
Gudrun trat dicht an die Scheibe und verfolgte vorsichtig mit dem Zeigefinger eine Stängellinie von unten bis zur Spitze. Sie fühlte sich etwas rau an und schmolz hinterher. Gudrun dachte, sie käme bald wieder, wenn sie sich vom Fenster etwas entfernte. Aber nach einer Weile zeigten sich an der getauten Stelle wirre Linien, die das gesamte Bild störten.
Wenn sie die alte Pracht doch malen könnte!
Sie holte aus ihrem Schulranzen den Zeichenblock und ihre Federtasche. Mit einem Bleistift begann sie die ersten feinen Linien auf das Papier zu zeichnen. Um besser sehen zu können, beugte sie sich nahe an das Fenster. O weh! Alles fing an zu tauen. Sie hatte zu dicht am Eis geatmet.
Sie beschloss, die Zeichnung aus dem Gedächtnis zu Ende zu bringen.
 
Nach einer Weile schaute sich Gudrun ihr Werk aus einer etwas größeren Entfernung an. Einem Urwald glich das Gezeichnete mehr als dem zarten Gebilde vorhin am Fenster.
Nun gut, ein Urwald war auch etwas. Es fehlte nur Leben in ihm. Welche Tiere sollten zwischen den Zweigen der Bäume hindurchsehen? Sie fing mit  einem Affen an. Er sah eher aus wie ein Gnom.
O prima, ein Gnom war gut! Ob sie einen zweiten zustande brachte?
In der unteren Ecke des Bildes entstand ein anderes Wesen, das einem Gnom ähnlich sah. Sie zeichnete ihm eine spitze Mütze auf den Kopf. Neben ihm brachte sie ein Tier mit vier Beinen auf das Papier. Es glich einer Mischung aus Hund und Hase, denn die Ohren waren zu lang geraten. Da Gudrun keinen Radiergummi hatte, musste das Tier so bleiben – oder konnte sie es verändern? Ja, doch! Es bekam dicke Punkte ins Fell und spitze Zähne in die Schnauze. Aus Übermut zeichnete sie ihm ein Paar Flügel an die Schultern.
„Gudrun, es wird Zeit, dass du dich für die Schule fertig machst“, rief die Mutter aus dem Wohnzimmer. „Zieh dich an und pack deinen Ranzen. Wir fahren in fünf Minuten!“
 
In der Schule dachte Gudrun immerzu an das Eisblumenfenster. Sie konnte nicht richtig aufpassen. Die Lehrerin erwischte sie im Rechenunterricht mehrmals beim Träumen und gab ihr Extraaufgaben für zu Hause mit. Im Deutschunterricht fiel das nicht so auf, da sollten die Kinder einen Text abschreiben. Die Fehler, die Gudrun dabei machte, würde die Lehrerin erst später entdecken.
Nach der Pause betrat ein unbekannter Mann das Klassenzimmer. Alle Kinder waren aufgeregt. Wo blieb ihr Lehrer für Naturkunde?
„Herr Müller liegt im Krankenhaus, deshalb bin ich im letzten Moment geschickt worden, ihn zu vertreten“, erklärte der fremde Lehrer. „Ich bin Herr Zielke. Ich habe noch nicht mit Herrn Müller sprechen können. Ich weiß also nicht, was ihr gerade durchgenommen habt. Deshalb habe ich euch eine ganz besondere Aufgabe mitgebracht.“
Die Kinder spitzten die Ohren und sahen Herrn Zielke  erwartungsvoll an.
„In der Zeitung stand gestern, dass ein reicher Herr hier aus der Stadt einen Wettbewerb veranstaltet unter den Schulkindern der vierten Klassen. Und zwar möchte er einen Preis für das schönste Weihnachtsbild vergeben. Ich denke, dazu fällt euch bestimmt etwas ein. Ihr könnt gleich anfangen.“
Gudrun holte - wie alle Kinder - ihren Zeichenblock aus dem Ranzen und dazu Bleistifte und Buntstifte. „Ist Tuschen erlaubt?“, fragte ihre Nachbarin Marianne. „Es steht euch frei, wie ihr und womit ihr das Bild malt“, antwortete Herr Zielke. „Viel Spaß bei der Arbeit und viel Erfolg! Wenn ihr das fertige Bild einreichen wollt, könnt ihr es mir geben, denn ich werde wohl einige Zeit Herrn Müller vertreten müssen.“
 
Gudrun überlegte. Was sollte sie malen?
Als sie den Zeichenblock aufschlug, sah sie das unfertige Bild vom frühen Morgen. Es sah gut aus, war aber eben ein Urwald, hatte nichts mit Weihnachten zu tun. Nachdenklich betrachtete sie die beiden Gnome. Konnten das die Zwerge des Weihnachtsmanns sein? Tolle Idee! Und das Tier? Vielleicht ein Wolf?
Entschlossen füllte sie das Tier ganz mit Bleistift aus, so dass es gefährlich schwarz wurde. Wenn sie bloß nicht die Flügel gezeichnet hätte! Der Sack, das war es! Sie verband die beiden Flügel mit einer Linie und zeichnete zusätzlich ein paar Falten in das Gebilde. Der Wolf trug nun den Weihnachtsmannsack auf dem Rücken. Das konnte gut passen, war nicht der Weihnachtsmann mit allen Tieren vertraut? Und warum sollten es immer die blöden Rentiere mit dem Schlitten sein?
Der Weihnachtsmann, wo sollte der hin? Ein Tannenbaum fehlte ebenfalls.
Gudrun brach die Spitze ihres Bleistiftes ab, glättete die scharfe Kante der Mine am rauen Stoff ihrer Jeans und ging ans Werk. Mit kräftigen dicken Strichen zeichnete sie einen Tannenbaum in den Vordergrund. Er hob sich gut von den zarten Strichen ihres Urwaldes ab. Da lag eben Schnee auf den anderen Bäumen. Das gab einen guten Kontrast. Der Wolf war nun nicht der einzige dunkle Gegenstand auf dem Bild.
Für einen großen Weihnachtsmann war kein Platz mehr. Er musste trotzdem unbedingt irgendwie ins Bild. Ein Weihnachtsbild ohne Weihnachtsmann konnte sich der reiche Herr sicher nicht vorstellen.
 
Gudrun kaute an ihrem Bleistift. „Was malst du?“, fragte sie Marianne und lehnte sich zur Seite, um besser sehen zu können.
Marianne hatte einen großen Weihnachtsmann im roten Mantel getuscht. „Wo soll er seinen Sack haben?“, fragte sie Gudrun.
„Ich finde er braucht keinen Sack, er sollte lieber einen kleinen grünen Tannenbaum in der Hand halten. Grün passt so gut zu Rot.“ Marianne nickte dankbar. Sie schaute sich nun ihrerseits Gudruns Zeichnung an. „Malst du nur mit Bleistift?“, fragte sie überrascht.
„Ja. Das finde ich am schönsten. Außerdem kann ich nicht so gut mit dem Pinsel. – Sag mal, wie soll ich in diesem Wald einen Weihnachtsmann unterbringen?“
„Hm. Hast du deine Buntstifte? - Dann mal einfach eine rote Mütze zwischen die Zweige und darunter ein paar Augen.“
„Das ist dann aber kein Weihnachtsmann!“
„Doch, Gudrun. Man muss ihn sich eben vorstellen. Ich glaube das macht Spaß beim Anschauen.“
Gudrun war nicht ganz überzeugt von Mariannes Vorschlag. Ihr fiel aber nichts Besseres ein. Sie überlegte, wohin sie die rote Mütze zwischen die Zweige malen sollte. Wenn sie erst einmal den roten Buntstift irgendwo angesetzt hatte, gab es kein Zurück mehr. Wohin mit der roten Mütze?
Sie riss ein Stück von einem Tempotuch ab und malte es rot an. Sie schnitt ein Dreieck aus. Das schob sie auf dem Bild hin und her. Am besten wirkte es, wenn es nicht genau in der Mitte war. Bei dem Zwerg mit dem Wolf war der beste Platz. Mutig nahm sie den roten Stift und malte die Mütze. Es war sogar eine Lücke da für ein Gesicht im Profil. Ein Betrachter musste eben genau hinschauen, sonst konnte er es im Gewirr der Linien nicht erkennen. Jetzt brauchten nur die Zwerge einen Hauch Grau für ihre Kleidung, dann  war das Bild fertig.
 
Nach der Stunde gab sie das Bild dem neuen Lehrer. Er war erstaunt, dass eine Schülerin so zeitig fertig war. Er betrachtete das Bild, gab es ihr zurück und bat sie, ihren Namen und ihre Anschrift auf die Rückseite zu schreiben. Danach steckte er das Bild in eine rote Mappe und nahm es mit. „Viel Glück“, sagte er beim Hinausgehen.
Nun fing das Warten an. Bald war es nicht mehr so schlimm, denn in der Adventszeit gab es viel Aufregung zu Hause und in der Schule. Für eine Aufführung vor den Eltern übte die Klasse Lieder und Gedichte ein. Zu Hause half Gudrun beim Backen und Verzieren der Plätzchen. Sie durfte sogar ganz allein einen Nusskuchen backen.
Drei Tage vor Weihnachten brachte der Postbote einen Brief für sie. Nanu?
Als Gudrun den Brief öffnete, kamen ihr zwei Karten für eine Aufführung im Kindertheater entgegen. Am 10. Januar war die Aufführung des Märchens vom Rotkäppchen. Gudrun las den Brief:
 
 „Liebe Gudrun,
Du hast ein ganz ungewöhnliches Bild gemalt. Es hat mir persönlich am besten gefallen. Die Preisrichter haben sich anders entschieden und lieber bunte Bilder mit Preisen bedacht. Ich aber liebe Dein Bild und will Dir außerhalb der Preise eine Freude machen. Die Karten sind für Dich und eine erwachsene Person. Sicherlich wird Deine Mutter oder Dein Vater diese Gelegenheit, dich zu begleiten, wahrnehmen.

Am Ende der Vorstellung komm bitte an den hinteren Eingang. Ich erwarte Dich und Deine Begleitung dort, weil ich sehen will, welch kleine Künstlerin – und als solche betrachte ich Dich – ein so erstaunliches Bild geschaffen hat. Vielleicht kannst Du mir erzählen, wenn Du Dich noch daran erinnerst, was Du Dir beim Zeichnen gedacht hast.
Ich warte mit Spannung auf das Zusammentreffen!
Frohe Weihnachten!“
 
Darunter war eine Unterschrift, die sie nicht entziffern konnte. Ihr Vater sagte ihr, der Herr sei ein wichtiger Mann in der Stadt. „Es ist eine Ehre, dass er dich sehen will, Kind. Vielleicht solltest du ihm das Bild schenken?“
 
 


(c) I. Beddies

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.11.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Buch von Irene Beddies:

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Irene Beddies hat in diesem Band ihre Märchen für Jugendliche und Erwachsene zusammengestellt.
Vom Drachen Alka lesen wir, von Feen, Prinzen und Prinzessinnen, von kleinen Wesen, aber auch von Dummlingen und ganz gewöhnlichen Menschen, denen ein wunderlicher Umstand zustößt.
In fernen Ländern begegnen dem Leser Paschas und Maharadschas. Ein Rabe wird sogar zum Rockstar.
Auch der Weihnachtsmann darf in dieser Gesellschaft nicht fehlen.

Mit einer Portion Ironie, aber auch mit Mitgefühl für die Unglücklichen, Verzauberten wird erzählt.

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