Irene Beddies

In der Nacht


 

 
Es war eine dunkle Nacht, kein Mond, kein Stern am Himmel, nur regenschwere Wolken. Der Wind rauschte in der Tanne vor dem Haus. Manchmal streifte ein Ast das Dach. Dann gab es ein unheimliches Geräusch.
Daran war er gewöhnt.
Er kuschelte sich im Bett zurecht und lauschte. Jetzt fing es an zu regnen. Dicke Tropfen platschten auf das Fenstersims. Er mochte diese Nächte am Beginn des Winters, wenn er in der wohligen Wärme seines Bettes liegen und nachdenken konnte.
 
Sein langes Leben war wie das anderer in Höhen und Tiefen verlaufen und hatte ihn in seinem Haus allein zurückgelassen. Seine Frau war verstorben, und die Tochter wohnte in einer anderen Stadt mit ihrer Familie.
Sie rief regelmäßig an, kam aber selten. Auch die Enkelkinder ließen nur wenig von sich hören, sie waren mit ihrem Studium beschäftigt.
 
Er war es zufrieden, er kam gut allein zurecht. Sein Freund aus Kindheitstagen wohnte in derselben Ortschaft. Sie sahen sich häufig und spielten Schach miteinander, wenn sie nicht früheren Zeiten nachhingen.
Frühere Zeiten! Wie war das zu Weihnachten in dem großen Haus oben am Berg? Schnee lag zumindest immer. Vergeblich hatte er als Kind jedes Jahr nach den Schlittenspuren des Weihnachtsmanns gesucht. Zu seinem Kummer hatte er sie nie entdeckt, aber immer lagen Geschenke unter dem Lichterbaum.
 
Im Halbschlaf schreckte er plötzlich hoch. Was war das eben für ein Geräusch? Jetzt war es nicht mehr zu hören. Nur Wind und Regen wie die ganze Zeit über.
Ein Lichtstrahl huschte über das Fenster und warf für einen Augenblick einen wandernden Schein auf die Wände. Ein vorbeifahrendes Auto? Er lauschte und wartete.
Da war das Geräusch wieder, ganz kurz nur. Es kam vom Fenster her.
Er bekam es mit der Angst. Ein Einbrecher! Das Licht kam bestimmt von einer Taschenlampe!
Er hielt den Atem an, solange er konnte. Kein weiterer unbekannter Laut ertönte. Über das Dach kratzte der Tannenast. Da – wieder ein ganz kurzer Lichtschein vor dem Fenster.
Er stahl sich aus dem Bett, zog das Pfefferspray aus der Schublade des Nachtschränkchens, schlich ans Fenster und spähte hinaus.
Er konnte nichts erkennen, keine Bewegung unten. Der Regen legte einen dichten Schleier über die Umrisse der Tanne und den Gartenzaun.
Lange stand er am Fenster. Das Spray hielt er fest umklammert.
Nichts geschah.
Allmählich kroch ihm die Kälte an den Beinen hoch, er fror in seinem Schlafanzug. Er stieg wieder ins Bett, legte das Pfefferspray  griffbereit auf das Nachtschränkchen und zog die Decke bis ans Kinn. Er lauschte. Nichts Verdächtiges mehr. Ihm wurde warm, und die Augen fielen ihm zu.
 
Beim Erwachen erinnerte er sich kaum noch an seinen Schrecken in der Nacht.
Er zog sich an und öffnete das Fenster, um zu lüften. Der Haken, mit dem er das Fenster feststellen wollte,
ließ sich nur schwer bewegen. Er holte ihn mit einem Ruck heran. Da fiel etwas in die Tiefe und landete mit einem Plumps auf dem Rasen. Er beugte sich weit aus dem Fenster, konnte aber nicht genau erkennen, was im nassen Gras lag.
Auf Strümpfen lief er in die Waschküche, zog seine Gummistiefel und die Regenjacke an und trat nach draußen.
Auf dem Rasen lag ein in schwarze Plastikfolie gewickeltes Paket. Eine rote Schnur war fest darum geknotet. Er nahm es mit nach drinnen an den Frühstückstisch.
Bevor er es öffnete, bereitete er sich bedächtig sein Frühstück. Er grübelte darüber, was das Päckchen zu bedeuten hatte und wer es am Fensterhaken im ersten Stock angebracht haben könnte. Er war doch nachts so schnell am Fenster gewesen, dass er auf jeden Fall eine Leiter hätte erkennen müssen, die jemand wegtrug.
Noch einmal ging er nach draußen und besah den Rasen genauer. Der war unberührt, nur seine eigenen Fußspuren konnte er schwach erkennen. Eine Leiter jedenfalls hatte keine Vertiefungen im Gras hinterlassen.
 
Mittlerweile war er so neugierig geworden, dass er sich nicht einmal Kaffee einschenkte, sondern sich gleich das Päckchen vornahm. Ein Paar rote Socken kamen zum Vorschein. Darin steckten mehrere kleine Zellophantüten mit Schokolade, Marzipan und hausgemachten Keksen, wie seine Mutter sie zu jedem Weihnachtsfest gebacken hatte.
Er naschte gedankenverloren von den Keksen. ...Wer? ging es ihm durch den Kopf,…warum?

Er schaltete wie jeden Morgen das Radio ein, um die Nachrichten zu hören.
„Guten Morgen, meine Damen und Herren. Heute ist Donnerstag, der 6. Dezember…“ tönte es ihm entgegen.
Ach so, … Nikolaustag!
Den hatte er völlig vergessen.
Aber wer....?
 
 

© I. Beddies


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Irene Beddies hat in diesem Band ihre Märchen für Jugendliche und Erwachsene zusammengestellt.
Vom Drachen Alka lesen wir, von Feen, Prinzen und Prinzessinnen, von kleinen Wesen, aber auch von Dummlingen und ganz gewöhnlichen Menschen, denen ein wunderlicher Umstand zustößt.
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