Svenja war sauer. Gerade war Frau Günther, die Klavierlehrerin, aus dem Haus, da kam Ihre Mutter auch schon und bestimmte, dass es Zeit sei, Weihnachtslieder einzuüben. Oma und Opa wollten zum Fest kommen. Denen sollte sie etwas vorspielen.
Mussten es unbedingt Weihnachtslieder sein? Sie hatte gerade begonnen, sich auf Unterhaltungsmusik einzustellen. Klassisches mochte sie partout nicht. Deshalb übte sie nur selten. Frau Günther erlaubte ihr daraufhin, modernere Stücke aus Film und Musical zu spielen. Sie musste aber fest versprechen, mehr zu üben.
Am liebsten hätte Svenja überhaupt nicht Klavier lernen wollen, sondern Trompete, aber das fand die Mutter zu dumm. Welches Mädchen spielte denn Trompete!
Weihnachtslieder! Ihr musste etwas einfallen!
In der Schule beriet sie sich mit Hajo, der Schlagzeuger in der Schulband war.
„Hajo, ich soll Weihnachtslieder üben!“
„Ja und? Klingen auf dem Klavier doch ganz nett“, gab Hajo zur Antwort.
„Aber die haben keinen Beat und sind einfach langweilig“, klagte Svenja. „Ich hab gerade mit flotter Musik angefangen, weil ich klassische Stücke nicht ausstehen kann!“
„Wer sagt denn, dass Weihnachtslieder nicht auch flott und ein wenig schräg sein können! Lass uns mal überlegen, welche Lieder es gibt, Svenja.“
In der Mathestunde passte Svenja nicht auf, sondern schrieb unter dem Tisch eine Liste mit den Weihnachtsliedern, die sie kannte. In der nächsten Pause hielt sie die Sammlung Hajo unter die Nase.
„Die kenne ich zum Teil gar nicht“, gestand er, „aber lass mal sehen.“
Er summte die Melodien der Lieder, die er kannte, vor sich hin.
„Hier: ‚Morgen kommt der Weihnachtsmann‘ klingt schon ohne Beat ganz schwungvoll. Und hier: ‚Es ist für uns eine Zeit angekommen‘, da juckt es mir sozusagen in den Fingern. Bring mir morgen all deine Noten mit, dann will ich zu Hause ein paar Lieder so arrangieren, dass echte Hits daraus werden. Du übst inzwischen die Melodien so lange, bis du sie beherrschst.“
Svenja war sehr dankbar und tat, was Hajo ihr riet. Die Mutter freute sich über den Eifer ihrer Tochter. Svenja fand offenbar richtig Gefallen am Spielen. Das gäbe eine schöne Überraschung zum Fest.
Hajo und Svenja trafen sich in einem alten Kinosaal, der für Jugendliche zum Freizeitaufenthalt freigegeben war. Dort stand ein uralter, etwas verstimmter Flügel. Hajo hatte die Noten kopiert und den Rhythmus verändert. Er brachtezwar nicht sein Schlagzeug mit, aber immerhin eine Art Trommel, auf der er zuerst den Beat vorgab. Svenja probierte mit den Fingern ihrer linken Hand verschiedene Griffe aus, um ihn auf den Tasten nachzuahmen. Sie fand Akkorde, die zu der jeweiligen Melodie passten. Danach erst durfte sie die Melodie mit der rechten Hand dazu spielen, streng nach Hajos Regeln.
‚O Tannenbaum‘ klang auf diese Weise fast wie ein Tanzlied.
Die anderen Jugendlichen, die sich in diesem Saal zu Tischfußball, Billard und Tischtennis zusammenfanden, nahmen zunächst keine Notiz von den beiden Musikern. Als sie bemerkten, dass etwas gespielt wurde, das ihnen irgendwie bekannt vorkam, horchten sie auf. Weihnachtslieder? Hier? Wie altmodisch! - Aber nein, sie klangen frisch und schmissig. Einige Jungen fingen an, mitzusummen. „Cool!“, waren sie sich einig.
„Warum übt ihr hier?“, fragte Sigi, ein Junge aus der fünften Klasse.
„Weil ich zu Hause meine Mutter nicht ärgern will“, antwortete Svenja, „die glaubt, ich übe die ollen Kamellen für meine Großeltern. Die werden sich alle wundern!“
„Cool“, meinte auch Sigi. „Ich soll auf der Flöte meinen Eltern etwas vorspielen, habe aber keinen Bock auf die Lieder.“
„Mach mit“, schlug Hajo vor. „Du musst aber dieselben Lieder üben wie wir.“
„Klar. Ich fange gleich heute noch an.“
In der nächsten Zeit übten sie zu dritt zweimal die Woche. Zuerst kam Svenja an die Reihe, denn sie konnte die Lieder schon auswendig. Dann flötete Sigi munter drauflos. Er war ein kleines Genie und lernte im Handumdrehen. Er brachte selbst noch zwei weitere Lieder in die neuere Form. Svenja übte sie zusätzlich.
Stets hatten die drei viel Spaß miteinander und auch mit den anderen, an deren Spielen sie sich zur Abwechslung beteiligten.
Am Weihnachtsabend, als die Kerzen am Tannenbaum ihr warmes Licht verbreiteten und Oma und Opa, die Eltern und Svenja ihre Geschenke erwartungsvoll ausgepackt hatten, verkündete die Mutter, dass Svenja sie alle mit Weihnachtsliedern am Klavier überraschen wolle.
Svenja setzte sich in Positur - ohne Notenblätter - und begann. Sie spielte die Melodie von ‚O, du fröhliche‘ brav in altvertrauter Weise…. Dann aber legte sie richtig los. Der Beat in ‚Morgen kommt der Weihnachtsmann‘ wirkte frisch und aufrüttelnd. Der Vater schmunzelte. Als dann ‚Es ist ein Ros entsprungen‘ so völlig anders klang, wollte ihre Mutter entsetzt etwas sagen, aber der Vater legte ihr die Hand auf das Knie und schüttelte den Kopf. Oma und Opa hielten den Atem an.
Svenjas Gesicht glühte im Schein der Kerzen, die auf dem Klavier standen. Ihre Augen funkelten. Die Finger hüpften nur so über die Tasten bei den folgenden Liedern. Svenjas Lippen bewegten sich leicht beim innerlichen Mitzählen der Beats. In Gedanken stellte sie sich Hajos begleitende Trommel vor, damit sie nicht aus dem Konzept geriet.
Als Höhepunkt erklang „Stille Nacht, heilige Nacht“ fremd und fröhlich. Da hörte Svenja plötzlich mit der Begleitung auf, legte die linke Hand in den Schoß und ließ die Melodie langsam und zart verklingen.
Die Großeltern klatschten – ein wenig irritiert - Beifall.
Ihre Mutter runzelte bedenklich die Stirn, ihr Vater aber ging auf seine Tochter zu, nahm sie liebevoll in den Arm und sagte laut und vernehmlich:
„Solch ein lebendiges Weihnachtskonzert bringen die nicht mal im Fernsehen zustande.“
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.12.2011.
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