Irene Beddies

Olafs Schneemann

 
 
Über Nacht war der erste dichte Schnee gefallen. Unberührt lag er auf dem Rasen. Im Sonnenschein glitzerten einzelne Schneekristalle auf.
Plumps – fiel ein Schneehäufchen vom untersten Ast der Eiche. Es hinterließ eine kleine Vertiefung in der makellosen, weißen Decke über dem Gras.
Olaf näherte sich vorsichtig der Rasenkante. Er wollte die Pracht nicht zerstören mit Fußstapfen. Er beobachtete den Zweig, von dem das Häufchen herunter gepurzelt war.
Wieder fiel ein Klümpchen. Und noch ein Häufchen landete. Hinterdrein  sprang ein Eichhörnchen und floh es quer über den Rasen in den Apfelbaum.
Nun war die erste Spur gelegt. Wie ein Band lief sie quer über den verschneiten Rasen. Olaf hielt es nicht länger aus, er setzte selbst einen Fuß vor den anderen, um eine Spur zu hinterlassen, die die feine des Eichhörnchens kreuzte. Dabei achtete er sehr genau darauf, dass seine Schritte den gleichen Abstand hielten.
Als er am anderen Ende des Rasens angekommen war, schaute er zurück. Wie über Mamas Tischdecke waren zwei Bänder gekreuzt. Es sah gut aus.
Nur waren die Bänder zu schmal, um wirklich wie Tischbänder auszusehen. Olaf machte kehrt und zog eine neue Spur neben die, die er eben bewundert hatte.
Leider würde das Eichhörnchen nicht zurückkommen, und die andere Spur verbreitern, da musste er selbst ran.
Er ging am Rasen entlang zur Eiche, sprang bis zu ihrem Stamm und folgte der Spur der Pfötchen. Diesmal setze er Fuß vor Fuß fast ohne Abstand dazwischen. Am Ende der Bahn sah er sich wieder um. Toll, ein fast gleichmäßiges schräges Kreuz hob sich deutlich von der sonst so unberührten Fläche ab.
In die Mitte sollte doch wohl ein Schneemann!
Am Rand des Rasens rollte Olaf die erste Kugel. Er prüfte mehrmals, ob er sie noch tragen konnte. Als sie fast zu schwer war, nahm er sie in beide Hände und folgte sorgfältig den Fußspuren bis zum Kreuzpunkt. Dort setzte er die Kugel ab, stapfte vorsichtig weiter und rollte die nächste Kugel am Rasenrand gegenüber. Er trug sie, als sie die richtige Größe erreicht hatte, auf demselben Weg zur Mitte und setzte sie auf die erste Kugel. Mit einer dritten für den Kopf machte er es ebenso. In einem Eimerchen, das er aus der verschneiten Sandkiste hinter dem Haus holte, trug er mehrmals Schnee für die Arme herbei. Dabei benutzte er wieder die schon vorhandenen Bahnen.
Der Schneemann war fertig, ihm fehlten nur noch Augen, Nase und Mund und ein möglichst großer Hut.
Olaf setzte sich auf die Stufen zum Hauseingang und dachte nach. Augen mussten schwarz sein, das wusste er aus den Bilderbüchern, und als Nase musste eine Möhre her. Aber im Haus gab es im Moment keine Möhren. Musste es ein Hut sein? Konnte vielleicht Papas Pudelmütze die richtige Kopfbedeckung werden? Die Mütze setzte Papa sowieso nicht auf, die fand er blöd.
Olaf ging ins Haus. Er zog die Gummistiefel aus und griff sich Papas Pudelmütze, die auf der Kommode lag. Etwas Schwarzes für die Augen? Etwas Rotes, Spitzes?
Olaf legte die Mütze zurück und ging in der Küche auf Suche. Im Kühlschrank waren tatsächlich keine Möhren. Eine rote Paprika lachte ihn an. Viel zu groß! Kurzentschlossen  nahm er ein Messer aus der Schublade und schnitt einen Streifen ab. Der Saft hinterließ hässliche rote Flecken auf dem Arbeitsbrett. Die konnte er nachher abwischen. Den Rest der Paprika legte er wieder ins Gemüsefach. Im Küchenschrank fand er auf einem der unteren Borde eine Schachtel mit blauen Teelichtern. Davon nahm er zwei und steckte sie in die Jackentasche.
„Bist du zurück, Renate?“, rief Papa aus seinem Büro, wo er am Computer arbeitete.
„Ich bin’s“, gab Olaf zur Antwort, „ich bin draußen und hab nur was geholt.“
„Und keine Dummheiten gemacht, Sohnemann?“
„Nö. Ich baue einen Schneemann.“
„Ich guck ihn mir dann an, wenn er fertig ist“, kam es aus dem Büro, dann klapperten wieder die Tasten.
Olaf ging in den Flur, nahm die Pudelmütze mit und schlüpfte in die Gummistiefel. Mit seinen Schätzen zog er auf der ausgetretenen Spur zum Schneemann. Er staffierte ihn mit den Teelichtern als Augen und der Paprikascheibe als Nase aus. Die Pudelmütze bereitete einige Schwierigkeiten, sie war am Rand etwas eng. Endlich gelang auch dieser Teil der Arbeit.
Zufrieden setzte sich Olaf wieder auf die Eingangsstufen zum Haus und besah sein Werk. Einen Schneemann mit blauen Augen und einer kleinen hängenden Nase hatte es sicher noch nicht gegeben.
 
Vor dem Hecke hielt Mamas Wagen. Sie stieg aus und holte einige Taschen aus dem Kofferraum. Als sie Olaf auf der Treppe sitzen sah, rief sie entsetzt: „Steh auf! Du erkältest dich! Die Steine sind viel zu kalt!“
Olaf gehorchte. „Sie mal, Mama, was ich gebaut habe!“
Die Mutter sah sich den Schneemann an. Mehr aber staunte sie über die gekreuzten Spuren. Ihr Söhnchen schien einen ausgeprägten Sinn für Ordnung und Form zu haben.
„Das hast du aber schön gemacht, Olaf. Viele Leute werden am Gartenzaun stehen bleiben und dein Werk bewundern.“
Papa sah sich den Schneemann im Kreuz der Spuren vom Wohnzimmerfenster aus an. Er war froh, dass seine ungeliebte Pudelmütze einem solchen Zweck diente.
 
Drei Tage stand der Schneemann im Vorgarten. Dann fing es an zu tauen. Mama und Papa fuhren zum Markt und holten Tannenzweige für einen Adventskranz. Am Abend hatte Mama ihn fertig gewunden und reichlich geschmückt.
„Übermorgen ist der erste Advent und bald ist Nikolaus“, sagte sie beim Abendbrot. „Morgen darfst du helfen, Plätzchen zu backen.“
„Und mein Schneemann?“
„Tja, der taut wohl, wenn es in der Nacht nicht Frost gibt“, sagte Papa.
Am Morgen aber war das Tauwetter vorerst zu Ende. Froh sah Olaf aus dem Wohnzimmer, bevor er Mama in der Küche half.
 
Nikolaustag kam und ging vorüber. Olaf hatte seine Schuhe voll mit  Naschzeug und kleinen Geschenken vorgefunden. Dem Schneemann hatte er das bunte Stanniolpapier seiner Süßigkeiten in einer Kette um den Hals gehängt.
Dann schmolz der Schnee endgültig. Der Schneemann schrumpfte im Regen immer mehr zusammen.
„Hol wenigstens die Pudelmütze rein, die soll jetzt mit in die Waschmaschine“, bat Mama. Olaf ging hinaus auf den nun fast wieder grünen Rasen. Seltsam, die Pudelmütze und die Augen waren noch da, aber die rote Nase war nicht zu finden. Ob sie unter dem letzten Häufchen aus matschigem Schnee lag?
Olaf stocherte mit klammen Fingern im Matsch.
Plötzlich fühlte er etwas Hartes. Er grub es aus den Schneeresten. In der Hand hielt er eine gläserne Kugel mit einer Winterlandschaft darin und dem Weihnachtsmann auf dem Schlitten. Er schüttelte die Kugel. Da schneite es in ihrem Innern.
„Mama, Papa, seht, was ich gefunden habe!“, rief er schon im Flur und hielt den eilends herbei gekommenen Eltern seinen Fund unter die Nase.
„Wie kommt das unter den Schneemann?“, wollte Olaf wissen.
„Na, wie wohl?!“, lachte Papa. „Wer wird die Kugel dorthin gebracht haben?“
„Der Weihnachtsmann vielleicht?“, riet Olaf.
„Oder der Nikolaus?“, meinte Papa, „als der neulich die Schuhe für dich gefüllt hat? Vielleicht sollte der Schneemann auch etwas Schönes haben.“
„Und er hat es mir geschenkt“, stellte Olaf befriedigt fest.
„Er bedankt sich dafür, dass du ihn so schön gemacht hast“, lächelte Mama.
 
© I. Beddies

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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