Irene Beddies

Beim Frisör



Die Geräusche im überfüllten Einkaufszentrum drangen nur gedämpft in den Salon, solange die Tür geschlossen blieb. Auch drinnen ging es heute hektischer zu als sonst.
Iris schaute missmutig in den Spiegel, während die Friseuse ihr die Haare auf Lockenwickler drehte. Hässlich sah sie aus mit den nassen Haaren und den Wicklern über der Stirn. War ihre Entscheidung richtig, sich aus den glatten Haaren endlich eine lockige Frisur zaubern zu lassen?  Von wegen zaubern! Der Geruch der Mittel war unangenehm, und die Friseuse ging nicht gerade zimperlich mit den Haaren um, denn alles musste schnell gehen in diesen Tagen  vor Weihnachten.
Iris‘ Blick fiel auf die kleine Vase, die am Rahmen des Spiegels befestigt war. In ihr steckten Tannenzweige aus Plastikmaterial. Die rote Schleife, die lieblos um die Zweige gebunden war, ärgerte Iris. So etwas konnte man wahrhaftig besser machen!
 
Weihnachten…ging es ihr durch den Kopf…was sollte sie da anfangen?
Früher hatte sie sich immer darauf gefreut, hatte liebevoll die Wohnung geschmückt, aber seit ihrer Scheidung vor zwei Jahren war ihr jegliche Weihnachtsstimmung vergangen. Das letzte Fest hatte sie auf Mallorca verbracht. Das entpuppte sich als Fehler: in ihrem Hotel traf sie nur Familien mit lauten Kindern oder verbitterte Frauen, wie sie eine war.
Dieses Jahr blieb sie da lieber zu Hause.

Iris blickte im Spiegel hoch in das lächelnde Gesicht der Friseuse.
“Wir haben es gleich überstanden“, sagte diese freundlich, „dann geht’s unter die Haube. Und zum Fest sehen Sie prächtig aus.“
„Was tun Sie zu Weihnachten?“, fragte Iris spontan.
„O, ich treffe mich mit meinem Freund und dann gehen wir gemeinsam zu meinen Eltern und lassen uns verwöhnen“, sprudelte sie munter hervor.
 
Unter der Haube döste Iris vor sich hin. Plötzlich fielen ihr die Weihnachtsfeste bei ihren Eltern ein. Schöne, fröhliche Feste waren es in ihrer Kindheit gewesen mit Tannenduft und Gänsebraten. Die Eltern hatten sich immer große Mühe gegeben, jedes Weihnachtsfest einzigartig werden zu lassen. Das war lange her. Die Eltern waren vor einigen Jahren gestorben. Sie hatten in ihren letzten Jahren immer mit ihr und ihrem Mann gemeinsam gefeiert. Der Verlust kam Iris jetzt wieder so recht zum Bewusstsein. Weihnachten ohne sie…
Aber Halt! Zu Marie und Walter, ihren Schwiegereltern, – beide über 80 – hatte sie  trotz der Scheidung immer noch ein gutes Verhältnis. Sie saßen dieses Jahr vermutlich allein in ihrer Wohnung, seit ihr Ex-Mann im Sommer zu seiner neuen Partnerin in eine andere Stadt gezogen war.
 
Mit einem Ruck richtete Iris sich auf. Die Lockenwickler stießen heftig an die Haube. Besorgt kam die nette Friseuse und fragte, ob alles in Ordnung sei.
„Aber ja“, strahlte Iris, „ich hatte gerade eine grandiose Idee. Haben Sie zufällig etwas zum Schreiben? Ich muss eine lange Einkaufsliste aufstellen. Viel Zeit vor Heiligabend ist ja nicht mehr, und ich will wirklich nichts vergessen.“
Den Rest der Zeit unter der Haube machte Iris sich eifrig Notizen: „Gänsekeulen, Kartoffelsalat, Stollen, Kekse, Wein…“ stand neben anderen Leckereien darauf, aber auch: „kleine Tanne im Topf,  Kerzen, Lametta…“
Sie konnte es kaum erwarten, fertig frisiert zu sein und sich ins hektische Gewühl des festlich erleuchteten Einkaufszentrums zu stürzen.
 
Trotzdem genehmigte sie sich einen Cappuccino und ein Zimthörnchen in einem Café, um ihre Liste noch einmal durchzugehen und Fehlendes zu ergänzen.
Sie hatte vorhin im Vorbeigehen einen schönen Schal gesehen und warme Handschuhe, die an einer künstlichen Tanne mit Flackerkerzen in der Passage hingen. Das wäre doch etwas für Marie. Und für Walter, der so gerne las, musste sie einen spannenden Krimi finden. Er hatte ihr vor Monaten von einer bekannten Krimiautorin vorgeschwärmt.
 
Zufrieden lehnte sie sich mit geschlossenen Augen und einem Lächeln auf den Lippen einen Moment zurück. Dann wühlte sie das Handy aus den Tiefen ihrer großen Handtasche und wählte die Nummer ihrer Schwiegereltern.
„Marie, wenn Ihr nichts anderes vorhabt, kommt ihr Heiligabend zu mir,!“, sprudelte sie hervor…, „ich hole euch ab.“
 
 
© I. Beddies



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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