Irene Beddies

Wendel: Nikolaus

 



Um Mitternacht entdeckten die kleinen Gespenster etwas Seltsames in der Stadt. Überall standen gut geputzte Kinderschuhe und Stiefelchen in den Fenstern und vor den Haustüren. Alles war ansonsten still und dunkel, kein Mensch war unterwegs.
Plötzlich hörten sie schwere Schritte und ein leises Ächzen. Als sie sich umsahen, kam ein alter Mann in einem roten Kapuzenmantel herbei. Auf der Schulter trug er einen schweren Sack. Sein weißer Bart war sehr lang. Er hatte einen Stock in der Hand, auf den er sich stützte.
Vor jedem Haus blieb er stehen, ließ den Sack von der Schulter gleiten und nahm etwas heraus. Dann machte er  geräuschlos das Fenster auf, hinter dem die Schuhe standen, und legte Sachen in sie hinein.
Wendel und Kasimirius schwebten näher und besahen sich die gefüllten Schuhe. Darin entdeckten sie Schokolade, Marzipan, Nüsse und andere Naschereien. Päckchen, in buntes Papier eingewickelt, lagen neben den Schuhen.
Was hatte das zu bedeuten?
Sie folgten dem geheimnisvollen Mann im roten Mantel eine Weile. Bei jedem Haus tat er dasselbe. An einem Fenster legte er allerdings statt eines Päckchens eine Weidenrute neben den rechten Schuh. Seltsamerweise wurde sein Sack nicht leerer, er hatte für alle Schuhe immer etwas darin.
Als er am Haus von Paul und seinen Eltern ankam, musste er erst das Fenster suchen, in dem Pauls Schuhe standen. Es war das Kellerfenster, das immer einen Spalt offen stand.
Der Mann bückte sich, legte auch hier Süßigkeiten in die Schuhe und stellte eine bunte Schachtel daneben.
"Ich bleibe heute Nacht hier", sagte Wendel, "schwebe du nach Hause in unseren Pappkarton, bevor die Glocke vom Turm einmal schlägt. Morgen kann ich dir sicherlich berichten, was das alles zu bedeuten hat." Mit diesen Worten schlüpfte er auch schon  an den gefüllten Schuhen vorbei in den Keller und machte es sich hinter dem Gurkenglas gemütlich.

Lange konnte Wendel nicht schlafen, denn schon ganz früh am Morgen kam Paul in den Keller gestürzt und sah nach seinen Schuhen.
"Juhuuuu! Der Nikolaus war da", rief er die Kellertreppe hoch, "Mama, Papa, kommt und seht, was er mir gebracht hat!"
Ehe die Eltern noch ganz die Treppe herunter waren, hatte Paul die Schachtel schon aufgerissen. "Ein Trecker! Seht doch mal, ein Trecker! Den hab ich mir schon so lange gewünsscht."
Die Eltern freuten sich mit Paul. Er schenkte ihnen etwas von seinem Marzipan. Das mochte er nämlich nicht allzu gerne. Er selbst stopfte sich ein großes Stück Schokolade in den Mund.

Als die Eltern wieder nach oben gegangen waren, um das Frühstück vorzubereiten, kam Wendel aus seinem Versteck.
"Wer ist der Nikolaus?", fragte er gleich.
"Der Nikolaus ist ein lieber, guter Mann, der jedes Jahr den Kindern etwas schenkt. Er wohnt, glaube ich, weit weg im Wald und wacht nur einmal auf. Wer artig war, bekommt viel, wer nicht artig war, dem bringt er eine Rute. Ich war immer artig."
Das bezweifelte Wendel zwar, wenn er an das erste Zusammentreffen dachte, sagte aber nichts, sondern freute sich mit Paul.
"Hast du den Nikolaus schon einmal gesehen?, fragte er den Jungen.
"Nöö, er kommt, wenn ich schlafe, in der Nacht. Wie er wohl aussieht?"
"Das kann ich dir sagen, ich habe ihn heute Nacht getroffen. Er ist ein alter Mann mit einem langen weißen Bart.Er hat einen roten Mantel an und trägt einen schweren Sack auf dem Rücken. Der Sack wird niemals leer."
"Hast du ein Glück! Hat er dir auch etwas geschenkt?", fragte Paul.
"Nein. Ich habe ja keine Schuhe, die ich in die Dachluke stellen könnte."
"Schade, dass du nichts bekommen hast. Möchtest du ein Stück Schokolade?"
"Nein. Vielen Dank, dass du mir was abgeben willst. Aber wie soll ich etwas essen? Du weißt, ich bin nur aus Hauch und Schleier. Ich brauche nichts zu essen oder zu trinken. Aber könnte ich bitte mal an der Schokolade riechen?"
Bereitwillig brach Paul ein Stück von der Tafel ab und hielt es Wendel hin. Der roch daran.
"Köstlich! Sie riecht sehr gut."
Schon war das Stück in Pauls Mund verschwunden.
"Paul, komm zum Frühstück!", tönte es aus der Küche.


(c) I. Beddies



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UUm MitternachtU     

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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