Peter Somma

Unverhofft

Seit etwa einem halben Jahr wohnte er nun in dieser kleinen Wohnung, die er möbliert gemietet hatte, als sie auseinander gegangen waren. Die Einrichtung war nicht gerade nach seinem Geschmack, und er war in ihr nie wirklich heimisch geworden, ja wollte dort auch gar nicht heimisch werden. Ein Loch war sie für ihn, in dem er unterkriechen konnte, bis er irgendwo etwas Anderes gefunden hatte. Ein Tisch, an dem er seine Speisen zu sich nehmen, ein Kasten, in dem er seine Kleidung unterbringen, und ein Bett, in dem er schlafen konnte, wenn er nach der Arbeit heimkam mussten fürs erste genügen.
Dass die banalen Dinge des Alltags, sie je auseinander bringen könnten, hätte er sich damals, als sie geheiratet hatten, nicht vorstellen können, denn sie hatten einander vertraut und waren verliebt gewesen. Das schien ihnen eine gute Basis für eine Ehe zu sein und lange waren sie auch gut miteinander ausgekommen, ja so gut, dass nicht viel gefehlt hatte und sie hätten ihren dreißigsten Hochzeitstag feiern können.
Wie stolz war er gewesen, als sehr bald, nachdem sie geheiratet hatten, und sie ihr gemeinsam Heim mit viel Liebe und dem gemeinsamen Geld eingerichtet hatten, das erste Kind zur Welt gekommen war. Bald war dann dem ersten das zweite und das dritte gefolgt. Zwar war jetzt Leben ins Haus gekommen, aber es war auch eng geworden und mit der Ruhe war es auch vorbei gewesen. Der Lärm, den Kinder nun einmal machen, hatte ihn genervt, das ständig herumliegende Spielzeug ihn geärgert und es war nicht zu verhindern gewesen, dass die Kinder auf den teuer gekauften Möbeln überall Flecken hinterlassen hatten, die man kaum mehr entfernen konnte. Das hatte ihn unleidlich gemacht und er hatte seinen Unmut dann immer an ihr ausgelassen.
Jede Kleinigkeit hatte jetzt zu endlosen Debatten geführt und eine Entfremdung war zwischen sie getreten. Nicht enden wollende Querelen über Nichtigkeiten hatten ihr Zusammensein belastet und sie hatten nicht mehr miteinander umgehen können. Und dann, als die Kinder ihre eigenen Wege gegangen waren, irgendwo in Europa ihre neue Bleibe gefunden hatten, als sie plötzlich wieder ohne ihre Kinder die Zeit verbringen mussten, hatten sie verlernt, allein in Zweisamkeit zu leben, da hatte Sprachlosigkeit sich zwischen ihnen breit gemacht, und weil sie geglaubt hatten, dass sie nicht mehr gemeinsam leben konnten, waren sie übereingekommen, sich zu trennen.
Beide hatten damals die Absicht gehabt, sich im beiderseitigen Einvernehmen zu trennen und ihren Freunden nicht das Schauspiel eines, sich gegenseitig mit Schmutzwäsche bewerfendes Paares zu gönnen. Doch dann hatte es jedoch, als es soweit war, dass sie geschieden werden sollten, sie vor Gericht gestanden waren, doch das eine oder andere gegeben, über das sie sich nicht hatten einigen können und es war zwischen ihnen zu unschönen Szenen gekommen, die das Verhältnis bis heute trübten. Sie waren fast ohne Gruß auseinander gegangen, waren einander aus dem Weg gegangen und hatten sich seither nie mehr gesehen, ja nicht einmal mehr miteinander gesprochen.
Die ersten Weihnachtsfeiertage, die er allein verbringen musste, standen nun vor der Türe und er fürchtete diese Tage. Er hatte keine Verwandten oder Bekannte, von denen er erwarten hätte können, dass sie ihn einladen könnten. Er fürchtete sich vor der Einsamkeit an diesem Heiligen Abend, den er das erste Mal ohne Gesellschaft verbringen musste, auch wenn er sich an das Alleinsein an anderen Tagen längst gewöhnt hatte. Er fürchtete, dass er sich sehr verlassen fühlen würde, dass ihm die Decke auf den Kopf fallen werde, an diesem Abend, wenn er so allein in seiner kleinen Wohnung sitzen werde.
Und dann war er gekommen, dieser Abend, vor dem ihm schon so lange bange gewesen war.
Wie er erwartet hatte, saß er allein in seiner Unterkunft, die ihm immer noch fremd war und fühlte sich wie ein Schiffbrüchiger, den eine Welle an irgendeinen fremden Strand geworfen hatte. Nichts gab es dort, an das er Erinnerungen hätte fest machen können und er hatte auch keinen Christbaum besorgt, und auch sonst hatte er für keine Weihnachtsdekoration gesorgt, denn es war ihm einfach nicht weihnachtlich zu Mute. Obwohl er gut geheizt hatte, fröstelte ihn ein wenig und er ertappte sich dabei, wie seine Gedanken an die lange Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, abschweiften.
Was sie wohl gerade jetzt, in diesem Augenblick tat und dachte? Sicher saß auch sie, so wie er, einsam in ihrer Wohnung und wusste mit dieser Zeit, in der niemand gerne allein ist, nichts anzufangen. Oder war sie gar schon eine neue Beziehung eingegangen? Aber daran wollte er gar nicht denken. Sollte er sie vielleicht anrufen, dachte er, ihr Frohe Weihnachten wünschen?, verwarf diesen Gedanken aber wieder, denn er fürchtete es könnte eine männliche Stimme antworten.
Dann dachte er daran, einfach bei ihr vorbeizuschauen. Aber das ging ja nicht, denn er hatte ja nicht einmal ein Geschenk für sie besorgt! Als er einen Blick aus dem Fenster warf, sah er, dass es leicht zu schneien begonnen hatte. Unruhig spazierte er durch sein Zimmer und sah immer wieder unentschlossen zum Telefon hinüber. Sollte er sie anrufen und Fröhliche Weihnachten wünschen, überlegte er, und griff schließlich zum Hörer und wählte ihre Nummer, aber er hörte nur das Besetztzeichen. Hatte sie also doch jemanden gefunden, der mit ihr feierte oder war sie irgendwo eingeladen worden und nur er war an diesem Abend allein geblieben?
In diesen Räumen, die ihn deprimierten wollte er heute nicht bleiben, lieber wollte er durch die verschneiten Gassen laufen und vielleicht doch noch ein wenig weihnachtliche Stimmung einfangen und dabei schlug er, ohne sich dessen bewusst zu sein, den Weg zu ihr ein.
Auch sie hatte schon seit langem mit Schrecken, an die kommende Weihnachtszeit gedacht, und sie fürchtete sich jetzt vor der Einsamkeit, die nie so sehr spürbar war, wie in dieser Zeit. Verloren kam sie sich vor, in der großen Wohnung, in der sie lange Jahre gemeinsam gelebt hatten, in der sie ihre Kinder groß gezogen hatte und die jetzt viel zu groß war für sie allein. Sie saß in ihrem Wohnzimmer, in dem sie immer gemeinsam Weihnachten gefeiert hatten, ein Tannengesteck stand auf ihrem Tisch und einige Kerzen, die den Christbaum ersetzen mussten, der sonst um diese Zeit das Wohnzimmer schmückte, strahlten ihr spärliches Licht in das verdunkelte Zimmer, aber die Kerzen, die den Großteil des Raumes im finstern ließen, schienen ihr sinnlos, denn Weihnachten, das man allein verbrachte, verlor seinen Zauber und die flackernden Kerzen verstärkten ihre Einsamkeit.
Ihre Gedanken wanderten zurück in die Zeit, in der sie die ersten Weihnachten mit dem Neugeborenen in diesem Raum verbracht hatten und sie erinnerte sich an die vielen mit ihren heranwachsenden Kindern gemeinsam verbrachten Weihnachtsabende.
Waren die zahlreichen Streitereien, die sie auseinander gebracht hatten, wirklich so schwerwiegend gewesen, dass sie sich trennen hatten müssen, fragte sie sich. Sie hatten sich doch einmal geliebt, hatten alle möglichen, schweren Situationen gemeistert und jetzt, wo die Kinder aus dem Haus waren, hatten sich viele Probleme, die sie einst entzweit hatten, in Luft aufgelöst. Sie hatten keine finanziellen Probleme und ihnen mangelte es nicht an Zeit. Sie wusste, im Grunde war sie ihm immer noch verbunden. Wenn nicht die vielen Querelen, die viele Arbeit, die doppelte Belastung mit den Kinder und der Erwerbsarbeit gewesen wären, wer weiß ….. ?
Sie blickte unentschlossen hinüber zum Telefon. Sollte sie oder sollte sie nicht? War es richtig, wenn sie den ersten Schritt tat? Vielleicht saß er ja längst mit einer anderen am weihnachtlich geschmückten Tisch. Dann überwand sie ihre Skrupel, gab sich einen Ruck, stand auf und wählte seine Nummer, aber es meldete sich niemand.
Längst hatte sich Dunkelheit über die Stadt gelegt, der Schneefall war heftiger geworden und nur wenige Menschen huschten, dick vermummt, mit Paketen bepackt, durch die Straßen. Lange war er durch die Gassen der Stadt gelaufen und je länger er unterwegs gewesen war, desto spärlicher war er auf andere gestoßen, die, so wie er, durch die verschneite Nacht wanderten. Später, als er vor ihrer Türe gestanden und an ihrer Türe geklingelt hatte, hatte er nicht mehr gewusst - war es nun Absicht gewesen, oder hatte der Zufall seine Schritte zu ihr geführt.
Wie ein Schneemann war er vor ihr gestanden, denn der Schnee hatte sich überall an seine Kleidung geheftet. „Fröhliche Weihnachten, wünsche ich dir“ sagte er. „Das wünsche ich dir auch“ sagte sie, dann umarmten sie sich. „Komm doch herein“. Sagte sie. Augenblicklich war alles Unschöne, das sie getrennt hatte wie weggewischt. „Verzeihe, aber ich habe kein Geschenk für dich mitgebracht“ „Das macht nichts“ erwiderte sie, „du bist gekommen und darüber freue ich mich.“
Es war kein üppiges Weihnachtsmenu, das die beiden genossen, denn sie hatte nur einige Weihnachtskekse und eine Flasche Wein daheim. Aber an diesem Abend saßen sie lange beisammen und sprachen miteinander. Als er, es war schon lange nach Mitternacht, nach Hause gehen wollte, sagte sie, „Bleib doch!“
Dicke Schneeflocken legten sich in dieser Nacht über die menschenleeren Straßen, verzierten die Dächer mit dicken Hauben und deckten alles Hässliche mit einer weißen Daunendecke zu. Es schien so, als ob auch ihre Auseinandersetzungen darunter verschwunden wären, und sie fühlten, dass es auch für ihre Beziehung noch Hoffnung gab und ein Neuanfang möglich war.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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