Stefanie Sauter

Große Zweifel im Advent

Die Tür fliegt auf und ein kleines Mädchen stürmt ins Zimmer.
„Oma, Oma - …“, der Rest geht in einem tiefen Schluchzen unter. Geschwind kuschelt sich Lena neben ihrer kleinen Großmutter in den beigen Ohrensessel am Kamin und verbirgt das Gesicht an deren Schulter. Omas typischer Geruch nach Wiesenblumen, selbstgebackenen Keksen und scharfer Zahnpasta steigt ihr in die Nase. Das monotone Tick Tack der Pendeluhr, begleitet vom Knistern der Holzscheite, lässt Lena nach und nach ruhiger werden.
„Komm, ich mach dir eine heiße Schokolade.“
Die dampfende Tasse in beiden Händen haltend, sieht Lena ihre Oma verzweifelt an.
„Oma, Oma, gibt’s das Christkind gar nicht? Hat Amelie gesagt!“
„Ach Lenchen.“ Oma streicht langsam über Lenas blonde Locken.
„Wer lügt denn jetzt? Amelie oder Mama und Papa?“ Dicke Tränen kullern über ihr Gesicht. „Man darf nicht lügen. Sagt Mama!“
„Ach Lenchen. So einfach ist es nicht.“
„Doch! Und was ist mit dem Osterhasen, dem Nikolaus oder den Engeln, die Opa beschützen? Ist Opa alleine?“ Auf Lenas Wangen ziehen die Tränen glitzernde Spuren.
Oma nimmt Lena behutsam die Tasse aus der Hand und schaut ihr fest in die Augen. „Nein. Opa ist nicht alleine.“ Sanft wischt sie ihrer Enkelin mit dem Daumen über die nassen Wangen.
Lena spürt, wie der harte Klumpen in ihrem Bauch langsam kleiner wird. „Aber…“
„Weißt du, es gibt Dinge, die nicht so einfach zu begreifen sind.“ Oma wickelt sich eine von Lenas Locken gedankenverloren um den Zeigefinger.  „Wie fühlt es sich an, wenn Mama dich umarmt?“
„Schön.“
„Und?“
„Und warm irgendwie.“
„Das nennt man Liebe. Oder Geborgenheit.“
„Hm.“
„Würdest du also sagen, dass es Liebe und Geborgenheit gibt?“
„Ja.“
„Und, hast du sie schon mal gesehen?“
„Was gesehen?“
„Liebe?“
„Nein, Oma. Das kann man doch nicht sehen!“ Lena guckt Oma stirnrunzelnd an.
„Hm. Genau. Du hast Recht. Aber es gibt sie trotzdem?“
„Ja natürlich.“
„Weißt du, mit dem Christkind ist es ähnlich.“
„Wie jetzt?“
Nachdenklich schaut Oma aus dem Fenster in den Garten. Nach gefühlten 100 Tick Tacks der Pendeluhr stupst Lena sie vorsichtig an. „Oma?“, flüstert sie.
Den Blick noch in die Ferne gerichtet, dreht sich die Großmutter zu Lena um. „Was ist Weihnachten für ein Gefühl für dich?“
„Ooh. Geschenke.“ Lenas Augen strahlen.
„Und?“
„Was meinst du, Oma?“
„Sind es nur die Geschenke? Die gibt’s auch an deinem Geburtstag.“
„Hm. Stimmt. Aber Weihnachten ist anders.“
„Ja?“
„Ja! Es riecht nach Keksen. Und der Weihnachtsbaum! Und überall funkeln kleine Lichter.“
„Stimmt“, nickt Oma lächelnd und ihr Gesicht bekommt noch viel mehr Falten. „Und deine Augen funkeln. An Heilig Abend sind alle Kinder glücklich. Das ist ein schönes Gefühl, Weihnachten, oder?“
„Ja. Ist es. Aber… Amelie sagt, ihre Eltern kaufen die Geschenke! Also gibt’s kein Christkind!“
„Ach Lenchen.“ Oma knetet ihre schmalen Hände. „Wäre dein Weihnachtsgefühl anders, wenn Mama und Papa die Geschenke kaufen würden?“
Lena tippt sich mit dem Zeigefinger nachdenklich an die Nasenspitze. Diesmal stupst Oma sie nach vielen Tick Tacks in die Seite.
„Weiß nicht.“
„Hast du an Weihnachten schon mal was verschenkt?“
„Aber Oma!“ Abrupt setzt sich Lena auf. „Dein Topflappen! Der grün-rote!“
„Ich weiß, ich weiß…“, lächelt Oma verschmitzt. „Wie könnte ich das vergessen. Ich habe mich sehr über dein Geschenk gefreut! Und trotzdem hatte ich dieses wunderbare Gefühl, das man nur an Weihnachten spürt. Weißt du, was ich meine?“
„Hm. Ja.“
„Weißt du, du kannst das Christkind nicht sehen, nicht anfassen. Aber du kannst es fühlen. Tief in deinem Herzen kannst du es fühlen. Es ist ein warmes, goldenes Gefühl. Es tröstet dich, wenn du traurig bist. Es kennt deine Träume und deine Wünsche. Und vielleicht, ja vielleicht braucht es manchmal ein wenig Hilfe, um diese Wünsche zu erfüllen…“ Oma schaut Lena lange an.
„Ohh… Meinst du, Mama und Papa helfen…“ Lenas himmelblauen Augen werden ganz groß und rund. „Dann…, - dann hat keiner gelogen.“
In Lenas Bauch breitet sich ein warmes Gefühl aus. Freudig springt sie auf, drückt ihrer Oma einen Kuss auf die Wange und hüpft zur Tür. „Das muss ich unbedingt Amelie erzählen. Tschüss, Oma!“
„Tschüss, meine Kleine!“ Mit einem Lächeln lehnt sich die Großmutter in ihrem Sessel zurück, während draußen die ersten Schneeflocken leise vom Himmel fallen.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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