Christa Astl

Die Weihnachtsverwechslung




Es waren einmal Zwillinge, die sich vollkommen gleich schauten und auch am liebsten Tag und Nacht beisammen waren. Aber sie waren ein Junge und ein Mädchen.
Natürlich waren sie der Stolz der Eltern und aller Verwandten und wurden von allen bei allen Gelegenheiten reich beschenkt. Aber sie bekamen nie das Gleiche, obwohl sie so gerne das Gleiche spielen wollten.
Schon von Anfang an achteten die Eltern, dass man sofort sah, dass ein Bub und ein Mädchen verschieden waren. Stefan hatte blaue Strampelhöschen an, Stefanie rosarote. Stefan watete in blauen Gummistiefeln durch die Pfützen, Stefanie in roten. Stefan wurden jeden Monat die Haare kurz geschnitten, Stefanie musste Zöpfe tragen. Stefan bekam Autos geschenkt, Stefanie Puppen. Und wenn Stefan wirklich einmal versuchte, die Babypuppe zu wickeln, kam jemand und sagte: „Das ist doch nichts für einen Jungen, komm, hier hast du deine Autos!“ Umgekehrt wurde es auch nicht gerne gesehen, wenn Stefanie Stefans Autos in die Garage fuhr und noch weniger, wenn sie sich aus Kisten und Stühlen selber ein Auto baute und mit laut heulendem Motor Rennwagen spielte. Stefan durfte nicht weinen, wenn er sich beim Hinfallen das Knie aufschürfte, während Stefanie aufgehoben und getröstet wurde, obwohl sie selber sagte, dass es gar nicht wehtat.
Die Eltern und die Großeltern konnten es einfach nicht verstehen, dass ihre Kinder so anders waren, als sie sein sollten. Aber auch die Zwillinge verstanden das nicht. Sie waren doch beide so gleich. Aber Stefan wollte auch so gerne manchmal ein Mädchen sein und Stefanie manchmal so gerne ein Junge.
Ganz schlimm wurde es immer zu Weihnachten, wenn Onkeln und Tanten zu Besuch waren. Da kam es sogar manchmal zum Streit. Die Tante Anna mochte nämlich nur das Mädchen, die Tante Berta nur den Jungen. Das wäre ja nicht weiter schlimm gewesen, wenn nicht die Tante Anna dauernd etwas an Stefan auszusetzen gehabt hätte und Tante Berta nicht ständig an Stefanie herumkritisiert hätte. Die übrigen Verwandten ergriffen Partei für Stefan oder Stefanie und auf einmal war der größte Streit im Gang. Traurig schlichen die Kinder aus dem Zimmer, sie konnten doch nichts dafür und den Streit auch nicht schlichten.
Sie hockten sich zusammen aufs Bett und überlegten. „Was können wir nur tun, dass wir ganz einfach nur Kinder sein dürfen und nicht immer Mädchen und Junge?“
Und für das nächste große Weihnachtstreffen hatten sie einen Plan zurechtgelegt: Wenn schönes Wetter war, wurde immer gleich vor dem Kaffee ein Spaziergang gemacht. Und da beschlossen die Beiden, ihre Rollen zu tauschen. Stefanie zog Stefans blauen Anorak an und setzte sich seine neue blaue Mütze auf. Allerdings musste sie sehr Acht geben, dass ihre langen Haare nicht hervor standen. Da hatte es Stefan leichter, Stefanies rote Mütze hatte nicht so viel zu verbergen. Draußen musste er sich aber erst mal überwinden, er musste nämlich Tante Anna, die ihn doch nie gemocht hatte, die Hand geben. Dass er mit ihr langsam gehen musste, machte ihm hingegen nichts aus. Anders war es mit Stefanie. Sie war diejenige, die lieber laufen als gehen wollte. Tante Berta wunderte sich darum ein wenig, dass sie den Jungen diesmal überhaupt nicht antreiben oder gar ziehen musste. – Den Kindern aber gefiel der Weihnachtsspaziergang ausnahmsweise einmal sehr gut.
Als dann alle zurück in der Wohnung waren, überreichten die Tanten „ihren“ Kindern die Geschenke. Glücklich wurden diese sofort ausgepackt und noch mit ihren Mützen auf dem Kopf konnten die Zwillinge endlich einmal das Geschenk besitzen, das sie sich immer gewünscht hatten. Stefanie hatte ein Auto und Stefan eine Puppe. Leider wurde dieses Glück bald gestört, denn Mutter kam ins Wohnzimmer und zog „ihrem“ Stefan einfach die blaue Mütze vom Kopf – und lange Zöpfe kamen zum Vorschein und ein grinsendes Stefanie-Gesicht. Unter der roten Mütze waren die eben geschnittenen sehr kurzen Haare Stefans versteckt gewesen. Einen Augenblick schauten alle ziemlich verdutzt, bis Stefanie in schallendes Gelächter ausbrach. Das Lachen steckte an und die ganze Verwandtschaft bog und kugelte sich vor Heiterkeit. Schließlich konnten auch Tante Anna und Tante Berta, die zuerst ziemlich empört und beleidigt dreinschauten, nicht anders als sich zuzublinzeln und in die allgemeine Freude einstimmen.
Und seit diesem Tag dürfen die Zwillinge wirklich zwei Kinder sein, nicht mehr ein Mädchen und ein Junge.


ChA Dez. 2010 (aus meinen "Schneerosengeschichten")
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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