So weit das Auge reich, abgehetzte Menschenmengen. Alle sind sie auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken. Natürlich in letzter Minute. Das wars dann wohl. Bei den Schlangen heißt es warten. Dabei wollte ich doch nur mal eben die letzten Kleinigkeiten besorgen. Entnervt wappne ich mich, denn jetzt heißt es auf in den Kampf. Da braucht man starke Ellenbogen. Ich bin ja auch selbst Schuld, es ist ja nichts Neues, dass Weihnachten am 24.12. beginnt. Dann muss ich da jetzt auch durch.
Doch dann stutze ich. Ein kleines Lächeln schleicht sich in mein verbissenes Gesicht. Ich bleibe stehen, beobachte. Die Geschenke sind erst einmal vergessen. Vor mir, an der Ecke, verteilt ein dickbäuchiger, bärtiger Mann in rot Leckereien an die Kleinsten, die unbarmherzig von ihren Eltern durchs größte Gewühl gezogen werden.
Ein kleines Mädchen hält ängstlich die Hand seiner Mutter umklammert, versteckt sich halb in deren Mantel. Aber nicht lange, und die Furcht ist vergessen. Mit leuchtenden Augen steht das Mädchen vor dem Weihnachtsmann, staunend. Hatten nicht erst gestern die Älteren im Kindergarten gesagt, den Weihnachtsmann gebe es gar nicht? So ein Unsinn! Hier steht er doch! Und das ist doch wohl sicher keine Einbildung!
Glücklich dreht sich das Mädchen zu seiner Mutter um, schaut mich einen Augenblick lang an.
Das rüttelt mich wach. Endlich wende ich mich ab, fühle mich wie ein Eindringling, erwischt, schuldig. Und das, obwohl so eine Szene wie diese in der Vorweihnachtszeit doch eigentlich nichts Besonderes ist. Das spielt sich doch so an jeder Straßenecke ab.
Und doch, jetzt habe ich keine Lust mehr, der kommerziellen Seite des Festes nachzugehen. Das Einkaufen kann warten, später ist immer noch Zeit.
Ich wandere durch dunkle Straßen, langsam wird mir kalt, ich verkrieche mich noch ein wenig tiefer in meiner dicken Jacke. Ich komme an hell erleuchteten Fenstern vorbei, hier und da erstrahlt schon ein Weihnachtsbaum in vollem Glanz.
In Gedanken bin ich weit weg, in einer anderen Zeit.
Wieder sehe ich ein kleines Mädchen, doch dieses Mädchen bin ich selbst. Ich stehe unterm Weihnachtsbaum, sehe das Leuchten und Strahlen der Kerzen, das sich in unzähligen Kugeln wiederspiegelt. Auch in meinen Augen. Im Kamin knistert ein warmes Feuer, wohlige Zufriedenheit. Meine ganze Familie steht um mich herum, Mutter, Vater, Geschwister. Oma und Opa. Ein Wihnachtslied wird gesungen. Ich weiß, in diesem Moment bin ich glücklich, eine kleine, heile Welt. Probleme gibt es in meinem Leben noch nicht, nur Neugierde und Spannung. Was wohl in den vielen bunten Päckchen sein mag? Ist denn auch das Spielzeug, dass ich mir so sehr wünsche, darunter?
Wie gerne wäre ich noch einmal so unschuldig. Nur ein einziges Mal noch mit so unerfahrenen Augen in die Welt blicken, nichts Böses vermuten, einmal wieder an den Weihnachtsmann glauben, ein Kind sein.
Ein tiefer Seufzer holt mich in die Gegenwart zurück. Vor mich hin träumend bin ich fast vor meiner Haustür angelangt. Ich schaue mich um, und jetzt bin ich diejenige, die staunt. Um mich herum wirbeln tausende Schneeflocken durch die Luft. Der erste Schnee des Jahres. In diesem Moment glaube ich daran, dass manchmal eben doch Kinderträume wahr werden, auch wenn es nur weiße Weihnachten ist. Und für einen kleinen Augenblick bin ich wieder dieses kleine Mädchen von damals, möchte einen Schnee-Engel machen, und hoffe, dass genug Schnee fällt, um einen Schneemann zu bauen. Einfach nur so, als kleines Begrüßungsgeschenk für den Weihnachtsmann.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.11.2003.
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