Yvonne Habenicht

Ein Engel auf Erden





Paul hatte sich gleich gefragt, ob er für die Aufgabe wirklich der Richtige sei. Aber bitte, wenn sie es nicht anders haben wollten… Oberengel Vincent war schließlich der Leiter des Projekts, das sich „Engel auf Erden zur Weihnacht“ nannte, und wenn der meinte, Paul solle als Weihnachtsengel hinunterfahren, so tat er es eben. Im Allgemeinen wurden ja als Weihnachtsengel eher zarte, blondlockige Mädchen gesandt, deren bloßer Anblick schon ein Wohlgefallen war, und nicht dickbäuchige männliche Engel mit schütte-rem Haar. Obendrein war Paul schon zu Lebzeiten extrem schusselig gewesen, was ihn schließlich auch das Leben gekostet hatte, als er sich im Labor irgendein kräftiges Gift statt des Süßstoffs in den Kaffee gekippt hatte.
Beim Durchqueren der dicken Wolkendecke und dem anschließenden Flug durch heftiges Schneegestöber war Paul nicht ganz wohl zu Mute, und er hätte Vincent allzu gern verflucht, wenn sich das für Engel nicht streng verboten hätte. Als Erdwesen war er nie schwindelfrei gewesen, und er war noch nicht lange genug Engel, um diese Eigenschaft gänzlich abgelegt zu haben. Die Sicht war schlecht, selbst für einen Engel. Mit einem kräftigen Plumps landete er schließlich auf der Spitze eines Kirchturms, aus dem ihm ohrenbetäubendes Glockengeläut den Kopf dröhnen ließ.
Ehe er noch Zeit fand, sich nach einem besseren Platz umzusehen, hatte sich vor der Kirche schon eine große Schar Gläubiger versammelt und starrte zu dem rundlichen Himmelsboten hinauf. Der Priester und die Mönche des angrenzenden Klosters kamen herbeigeeilt, und alsbald erscholl ein vielstimmiges Hallelu-ja-Geschrei zu ihm herauf. Nun dachte sich Paul, da es schließlich seine Aufgabe sei, die frohe Weihnachtsbotschaft zu verkünden und die Menschen zu erfreuen, sei dies der geeignete Ort und Augenblick. Er setzte zum Fluge an und segelte – zugegebenermaßen ziemlich plump - herunter, wo er würdigen Schrittes, von der erregten Menge gefolgt, die Kirche betrat. Der Organist hieb und trat enthusiastisch in die Orgel, vergriff sich auch vor Erregung kräftig in den Tönen, was der großartigen Erscheinung eines leibhaftigen Engels in der Kirche aber keinen Abbruch tat.
Vom Priester, Abt, Ministranten mit weit aufgerissenen Augen und weichen Knien gefolgt, ging Paul auf den Altar zu, wo er Flügel und Arme ausbreitete. Die Gläubigen fielen auf die Knie, auf seinen Segen hoffend. Wie gesagt, Paul war ein noch nicht sehr erfahrener Engel. Noch nie hatte er einen Segen erteilt oder eine Predigt gesprochen. Im Erdenleben hatte zwar ab und zu die Kirche besucht, die Predigten allerdings meist verschlafen.
„Valus, primus, sancta cruzcius, selectus!“, rief er mit heiserer Stimme. Wenigstens ein wenig Latein hätte man ihnen im Himmel beibringen können. Selbst die Lateinkundigen unter den Kirchgängern waren viel zu hingerissen von dem Erlebnis, um auf die Worte zu achten. Dem Priester jedoch klappte der Mund auf, und er starrte den Himmelsboten ziemlich verdattert an. Paul aber kam in Fahrt.
„Liebe Menschen“, rief er aus, „mein himmlischer Projektleiter, der heilige Vincent, hat mich bestimmt, euch die weihnachtliche Botschaft zu überbringen.“
Spätestens beim „himmlischen Projektleiter“ fuhren bei einigen Ministranten und jugendlichen Anwesen-den verstohlen die Hände vor die Münder.
Unbeirrt fuhr Paul fort: „Seht, geradewegs in eure Kirche bin ich gekommen, um euch zu zeigen, dass wir Engel immer unter euch sind. Heute bin ich für euch ausnahmsweise sichtbar, doch meist schleichen wir unsichtbar zwischen euch herum und passen auf, dass euch nichts geschieht. Nachdem ihr mich nun ge-sehen habt, erzählt allen, dass es wirklich Engel gibt. So, nun habe ich noch viel zu tun auf der Erde, denn ich will mich noch vielen Leuten zeigen.“
Sodann patschte er dem Priester die Hand auf den Kopf und sagte: „Wie dieser hier, gehet nun in Frieden heim zu Frau und Kind, esst und trinkt, lasst es euch wohl sein mit meinem Segen.“
Des Priesters Gesicht lief dunkelrot an, angesichts der Engelsworte, er solle zu Frau und Kind heimkeh-ren. Während nun doch einige sich krampfhaft auf die Lippen bissen, deutete er die Worte so, dass der Engel ihm zeigen wollte, dass er wisse, wie der Priester gegen das Zölibat verstoßen und heimlich mit der Haushälterin ein Kind gezeugt hatte.
„Vergib, vergib, ich werde beichten und mein Amt niederlegen“, murmelte er kaum hörbar.
„Na fein“, meinte Engel Paul, schritt aus der Kirche und flog davon.
Den genauen Ablauf seines Erdenfluges hatte er in seiner üblichen Schusseligkeit längst vergessen. Aller-dings stellte sein bloßes Erscheinen ohnehin jede Planung in den Schatten. Die lang gesuchten Juwelen-diebe Hannes und Stefan ließen vor dem Juweliergeschäft ihr Einbruchswerkzeug fallen und ergriffen schreiend die Flucht, als sie des Engels ansichtig wurden. Dem Engel, dem keine Tür verschlossen war, kam daraufhin die Idee, mit einigen schönen Stücken aus dem Schaufenster Menschen eine Freude zu machen. Als ihm auf der stillen Fußgängermeile ein verträumtes Liebespärchen begegnete, gab er ihnen unversehens seinen Segen und legte dem zitternden Mädchen eine hochkarätige Kette um den Hals. Bevor sich die zwei noch von dem Wunder erholt hatten, erschien Paul am Tisch der ahnungslosen Familie Köh-ler. Als der beleibte Engel seine leuchtenden Hände hob und das Weihnachtsmahl segnete, verschluckte sich Vater Köhler an einem Gänseknochen. Die Kinder verkrochen sich angstvoll unter dem Tisch, und der alte Kater schielte böse und sträubte fauchend das Fell. Für den mühsam nach Luft ringenden Vater musste der Notarzt geholt werden.
Engel Paul jedoch gedachte nun der Kranken und erschien im städtischen Krankenhaus, wo der Chirurg vor Schreck prompt den eigenen Zeigefinger statt des vereiterten Blinddarmfortsatzes des Patienten ab-schnitt. Auch trug es später nicht zum guten Ruf des Krankenhauses bei, dass die ohnmächtige Ober-schwester im Bett eines sehr attraktiven Patienten gefunden wurde.
Eine Frau, in deren Küche er erschien, um der fleißigen Köchin als erster der Familie seinen Weihnachts-segen zu spenden, ließ prompt den heißen Topf auf den neuen Küchenboden fallen, wo er eine hässliche Brandstelle hinterließ. Der Frau sagte man zukünftig nach, sie sei eine heimliche Trinkerin, nachdem sie den Schaden mit dem Erscheinen eines Engels begründet hatte.
Der Bürgermeister fiel zähneklappernd auf die Knie und gestand all seine Sünden, angefangen von den Reisen auf Steuerkosten bis hin zu der Beteiligung an zahlreichen Bauspekulationen, als Paul an seinem Tisch die Flügel ausbreitete und „Frohe Weihnacht, üb immer Treu und Redlichkeit!“ deklarierte.
Der Armen gedenkend, führte Engel Paul schließlich ein Heer von Obdachlosen in ein Nobelrestaurant, und während die Kellner zitternd auf die Knie fielen und die Gäste teils erbebten, teils die Hände falteten, gab er den Frierenden, Hungernden und Durstenden seinen Segen, sich an allem, was Küche und Bar hergaben, gütlich zu tun. Das Chaos, welches er hinterließ, lässt sich kaum in Worte fassen.
Bevor er jedoch noch weitere gute Taten anrichten konnte, kam aus himmlischen Höhen eine starke Hand, packte ihn im Genick und zog ihn schnurstracks in die Ewigkeit zurück.
In der von Paul heimgesuchten Stadt jedoch blieb dieses Weihnachtsfest unvergessen. Die Gläubigen, die sein Erscheinen in der Kirche erlebt hatten, gerieten später in heftigen Streit. Einige glaubten fest an die Erscheinung, andere hielten das Ganze für einen bösen Streich. Der Priester, der unter dem Eindruck des Engels seine Untugend bekannt hatte, wurde exkommuniziert.
Das Pärchen aus der Fußgängerzone wurde wegen Einbruchs und Diebstahls verhaftet. Die Behauptung des Mädchens, ihr sei ein Engel erschienen, der ihr die Kette umgelegt habe, trug zwar nicht zu ihrer Ent-lastung bei, aber zu mildernden Umständen infolge mangelnder Zurechnungsfähigkeit.
Dem Familienvater musste der verschluckte Knochen operativ entfernt werden, so dass er sogar das Neu-jahrsfest noch bei Suppendiät im Krankenhaus verbrachte.
Dem Chirurgen konnte man zwar den Finger wieder annähen, doch zur Weihnachtszeit rührte er nie wie-der ein Skalpell an.
Die noble Gaststätte musste nach dem üppigen Gelage der Obdachlosen in der Heiligen Nacht gänzlich renoviert, das Mobiliar teilweise erneuert werden. Die Obdachlosen dagegen schwelgten noch lange in Erinnerungen an das großartige Festmahl jener Weihnacht, in der der Engel erschien.
Bei den Juwelendieben führte die Begegnung mit dem Engel zu einer unerwarteten Wandlung. Sie gründe-ten eine freikirchlische Gemeinschaft mit dem Namen „Brüder des Engels“ und führten von da an ein untadeliges, frommes Leben.
Vincent wurde der weihnachtlichen Projektleitung enthoben, und nachdem er Pauls Chaos auf der Erde mit „der verdammte Idiot gehört auf die letzte Wolke“ kommentiert hatte, wurde er auch wegen Fluchens für einige Zeit in die Hölle als Heizer strafversetzt.
Paul ließ man jedoch nie mehr auf die Erde. Er wurde zum Putzen der Schneewolken abkommandiert und jeweils zur Weihnachtszeit unter strengster Beobachtung gehalten.


Copyright by Yvonne Habenicht
2003 Berlin/Deutschland

Eine satirische Erzählung von einem allzu menschlischen Weihnachtsengel, der von seiner Aufgabe eines Erdenflugs leicht überfordert ist.
Yvonne Habenicht, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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