Christine Wolny

Wattinchens Weihnachtserinnerungen

Es ist schon eigenartig mit den Weihnachtserinnerungen.
Meist gehen sie einem im Dezember durch den Kopf. Sie kommen nicht nur am Heiligabend, nein, sie kommen unverhofft, manchmal bei Kerzenlicht.....
Dann werden sie wach, die Erinnerungen.

Man sieht sie im Alter etwas verklärt, schöner, als man sie damals empfunden hat.
Wattinchen denkt gerade daran, als sie mit ihrer Schwester an einem kalten, nassen Nachmittag, kurz vor Heiligabend mit dem Kinderwagen eine Runde nach der anderen drehte. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Sie sollte gut zwei Stunden draußen mit ihr verbringen, bis der Tannenbaum geschmückt im Zimmer stand.

Ihre Hände waren kalt, auch ihre Füße. Sie sprach viel mit ihrer kleinen Schwester und deckte sie immer wieder neu zu. Sie sollte sich wohl fühlen. Oft fasste Wattinchen nach ihren Händchen und probierte, ob sie noch warm waren. Dann steckte sie sie wieder in die Fäustlinge und versteckte sie unter der warmen Decke.

Mehrmals beim Rundendrehen kam Wattinchen am Wohnhaus vorbei. Sie sah das Licht durch den Holzrollladen schimmern, wusste, dass darin jetzt Kugeln und Lametta an den Baum gehängt wurden und stellte sich darunter viele Geschenke vor.
Lieber wäre sie in der warmen Stube gewesen und hätte mitgeholfen. Doch ihre kleine Schwester sollte ja glauben, dass das Christkind den Tannenbaum und die Geschenke bringt.
"Was werde ich denn bekommen?", dachte Wattinchen. Sie war damals zwölf Jahre alt.
Sie wohnte damals bei Oma, Tante und Onkel. Warum, das zu erklären, würde die Weihnachtsgeschichte sehr verlängern.

Es waren harte Jahre, die Jahre nach dem Krieg. Jeder Pfennig musste gespart werden.
Da hatte man kein Geld für Luxus wie Spielsachen oder neue Kleidung.
Wattinchen bekam viel getragene Sachen, die die Tante von einer Arbeitskollegin aus Frankfurt mitbrachte. Es machte ihr nichts aus. Sie war ein zufriedenes Kind.
Glücklich war sie, wenn Omas Schwester im Sommer kam. Die Frau konnte nähen, und da fiel auch mal was für Wattinchen ab. Wenn das Kleid zu kurz geworden war, wurde unten ein Streifen eingearbeitet oder auch unter der Brust das Oberteil verlängert. Es sah lustig aus, und sie fühlte sich wohl darin. Wenn man jung und schlank ist, sieht eigentlich alles nett aus, und Wattinchen fand sich hübsch mit ihrer schlanken Figur.

Doch einmal wurde speziell für Wattinchen zu Weihnachten ein Kleid angefertigt. Und das ging so vor sich:

Frau Lorenz, sie wohnte in der oberen Wohnung, war kinderlos. Ihr Mann war krank und beschäftigte sich mit Briefmarken sammeln. Das Ehepaar sah sicher, wie an Wattinchen gespart wurde, und so kam der Gedanke, ihr eine Freude zu machen sicherlich im Herzen von Frau Lorenz auf. Wattinchen sollte für eine Nichte Modell stehen. Die Schneiderin nahm bei ihr Maß, denn es sollte ja eine Überraschung am Heiligen Abend werden.
Den Stoff sieht Wattinchen noch heute vor sich. Er war rot-blau kariert mit etwas weiß drin. Der Rock war in Falten gelegt. Am Hals wurde ein weißer Kragen aufgenäht, den man auch wechseln konnte. Doch davon wusste sie noch nichts, als sie draußen im Kalten mit ihren Gedanken und ihrer Schwester herum lief.

Wattinchen schaute auf ihre Armbanduhr. Nun waren es noch zehn Minuten.

Verschiedene Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Ob ich schon eher mal klingeln könnte und nachfragen, wie weit die Arbeiten voran gekommen sind?
Nein, das werde ich nicht machen, denn sonst heißt es vielleicht, es dauert noch eine halbe Stunde.
So kann ich wenigstens in zehn Minuten ins Warme.
Was wird für mich unter dem Tannenbaum liegen? Wieder stellte sich Wattinchen verschiedene Sachen vor. Ein Kettchen? Ein paar Schuhe? Eine neue Schultasche?

Wattinchen hatte von Onkel eine derbe Ledertasche, die sehr hart und schwer war als Schultasche, und sie hätte gerne eine andere gehabt. Mit solchen Wunschvorstellungen vertrieb sie sich die Zeit.
Endlich ging der Zeiger auf die ausgemachte Uhrzeit. Es war 18 Uhr.
Sie klingelte nicht, schob ihre kleine Schwester durch das Tor, hob sie aus dem Kinderwagen, stellte diesen in den Schuppen und ging mit ihr dann leise ins Haus. Im Flur zog sie erst mal ihre Schwester aus, dann ihren Mantel und setzte sich mit ihr in die Küche, denn die Wohnzimmertür war geschlossen.

Wattinchen nahm ihre Schwester auf den Schoß, schaute mit ihr ein Bilderbuch an und las ihr etwas vor. Doch die Kleine kannte das alles schon und rutschte unruhig herum.

Dann ging endlich die Wohnzimmertür auf und Wattinchen durfte mit dem Schwesterchen hinein.
Die Kleine machte große Augen, als sie den Lichterbaum sah. Sie hatte wunderschöne, blaue Augen, die Wattinchen besonders gefielen, denn sie selbst hatte braune Augen, und da war das Blau der Augen etwas Besonderes. Diesmal war die Schwester schon in dem Alter, wo man so etwas wahr nahm. Mit drei Jahren versteht man schon was vom Christkind und von Geschenken.

Unter dem Tannenbaum lagen mehrere Päckchen und Pakete, jedes mit einem Namen versehen.
"Für Wattinchen", las sie als erstes. "Oh, das ist ziemlich groß." dachte sie. Was kann das sein? Sie packte es vorsichtig aus, denn das Papier wollte sie aufheben.
Ein großes Buch kam zum Vorschein. "Die Welt von A-Z", hieß der Titel. Ein interessantes Buch war es, das Wattinchen heute noch besitzt.

Die Schwester hielt glücklich lächelnd einen Mecki im Arm und war froh über diesen lustigen Burschen.

Doch dann sah Wattinchen noch ein Riesenpaket, das mit ihrem Namen beschriftet war.
Darin lag das Kleid, das sie nicht vermutete. Der Stoff war ihr von der Anprobe bekannt, aber es sollte doch gar nicht für "sie" sein! Wattinchen konnte das alles so schnell nicht begreifen.
Ihre Freude war riesig, als sie erfuhr, dass das Kleid ihr nun gehörte. Sie zog es am Heiligen Abend gleich an und war stolz und glücklich zugleich, einmal was zu besitzen, was eigens für sie angefertigt wurde.

Dieses Kleid trug Wattinchen mehrere Jahre. Auf Bildern kann sie es heute noch oft bewundern. Sie trug es zum Kirchgang. Es war ihr Sonntagskleid geworden.
Dann kam noch Besuch, Verwandte, die jeden Heilig Abend zum Essen kamen.
Tante fuhr vormittags noch nach Frankfurt, um einen frischen Karpfen zu besorgen. Das war jedes Jahr Tradition.

Wattinchen aß die Fischsuppe nicht gerne. Der große Fischkopf ängstigte sie jedes Mal. Vom Fisch bekam sie nur ein Zipfelchen, und das war ihr schon genug, denn er schmeckte ihr nicht sonderlich.
Der bunte Teller mit den gebackenen Köstlichkeiten war eher was für Wattinchen. Da konnte sie einmal nach Herzenslust naschen.

Das Geschirrspülen hat Wattinchen in keiner guten Erinnerung. Es wollte gar kein Ende nehmen. Alle Töpfe und Schüsseln, die die Küche hergab, waren in Gebrauch. Teller über Teller, kleine Teller, große Teller, tiefe Teller, Suppenteller......

Wattinchen hatte einen schönen Schlafplatz. Ihre Couch stand im Wohnzimmer und dort durfte sie dann einschlafen, wenn alles aufgeräumt war. Da schaute sie nochmals nach dem wunderschönen Tannenbaum und schlief ruhig ein.
In der Früh war ihr erster Blick wieder nach ihm, und sein Duft betörte Wattinchen. Es weckte in ihr eine richtige Weihnachtsstimmung.

Sie schlich aus dem Bett, machte ein Licht an und blätterte voller Freude in ihrem neuen Buch. Da waren schöne bunte Bilder drin, und diese interessierten sie mehr als der Text.
Ihr Kleid lag ordentlich über einem Sessel. Der weiße Kragen leuchtete und sicher auch ihre Augen, denn sogar jetzt noch zaubert der Gedanke an dieses Kleid ein Lächeln in ihr Gesicht.
Es war ein Weihnachten, an das Wattinchen gerne zurück denkt.

by Christine Wolny

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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