Andreas Korte

2412 - Heiligabend in Werne

15:45
Der Wecker klingelt. Es ist Heiligabend und ich liege im Bett und höre die Kirchenglocken, die die Gemeinde mahnen, den im Münsterland obligatorischen Kirchgang mitsamt der ganzen Familie nicht zu verpassen. Ich werde mich, wie in jedem Jahr, dieser Aufforderung wiedersetzen.
Allerdings und das ist so eines von den Dingen, für die ich meinen Eltern dankbar bin, es ihnen jedoch nie gesagt habe, wurde ich auch nie zu solchen in der Regel mehr oder weniger scheinheiligen Familienauftritten gezwungen. Und das, obwohl beide evangelische Religion unterrichten.
Aber dies ist auch schon alles, was an diesem Weihnachtsfest so sein wird, wie in jedem Jahr. Ich werde zum Beispiel nicht am frühen Nachmittag zu Antje gehen und Geschenke austauschen. Ich werde nicht bei meiner Mutter mit meinen Schwestern und ihren Familien zu Abend essen und ich werde danach auch nicht wieder zu Antje gehen, um bei ihrer Familie den Rest des Abends und einen Teil der Nacht zu verbringen. Und ebenso wenig werde ich den ersten Feiertag damit zubringen, die restlichen Familienmitglieder zu besuchen und dann am 2. Feiertag mit Freunden Stephanus zu steinigen.
Die Gründe sind:
1. Zu Antje kann nicht, weil wir uns getrennt haben,
2. Zu meiner Mutter kann ich nicht, weil sie im Urlaub ist.
Zu 1. gibt es anzumerken, das die Formel „Wir haben uns getrennt“ zugegebenermaßen souverän und erwachsen klingt, aber wie auch hier - in den meisten Fällen nicht der Wahrheit entspricht, denn Antje hat nach 7 Jahren unsere Beziehung für beendet erklärt und ist einer Zufallsbekanntschaft („Ehrlich, es war Liebe auf den ersten Blick, das musst Du doch verstehen.“) nach Dänemark nachgereist.
Das sie kurz nach dem Wintersemesterferienende aber wieder solo und dazu schwanger nach Werne zurückkehren würde und damit nicht nur ihre Probleme im Studium anfingen, ist nicht Gegenstand dieser Geschichte und wird hier auch keine weitere Erwähnung finden.
Wüsste meine Mutter von 1., gäbe es 2, gar nicht, denn sie wäre niemals in Urlaub gefahren, hätte sie eines ihrer Kinder nicht in einer intakten Beziehung gewusst. Oder dies auch nur geahnt. Sie wusste aber nichts davon, also saß sie am 22.12., ihren einzigen unverheirateten Sprössling an den bevorstehenden Weihnachtsfeiertagen bei der Familie seiner Freundin wähnend, mit ihrem Lebensgefährten im Auto auf den Weg in die Berge, in die Schweiz, was ihr ohnehin schwer genug fiel. Meine Schwestern feierten Weihnachten bei den Familien ihrer Ehemänner und ich hatte Wolfgang versprochen über die Weihnachtsfeiertage das Biercafe zu übernehmen und ihn dort zu vertreten.
Das Biercafe ist seit Generationen eine Institution in Werne und es gibt wohl keinen oder zumindest kaum einen Einheimischen, der von sich behaupten könnte, dort noch kein Pils getrunken zu haben. Ich hatte mein Studium mit dem kellnern dort mitfinanziert und half auch jetzt – nach meinem Berufsstart bei der Sportredaktion der NRZ – wenn immer es nötig war, dort aus und längst hatte sich ein freundschaftliches Verhältnis zu Wolfgang, dem Inhaber des Lokals entwickelt.

16:00
Ich stehe auf, stelle die Anlage im Wohnzimmer an und gebe Eins Live die Möglichkeit weihnachtliche Stimmung in meiner Wohnung zu erzeugen, die sich aber nicht so recht einstellen will und gehe, nachdem ich Kaffee aufgesetzt habe, unter die Dusche.
Der gestrige Abend mit all seinen Pannen und Katastrophen schiebt sich, während ich mir die Haare einschäume, unweigerlich in den Vordergrund meiner Gedanken und sie lassen sich weder herausmassieren, noch wie das Shampoo herauswaschen und sich durch den Ausguss von mir entfernen, um sich im Abwassernetz mit anderen Pleiten, Pannen und Peinlichkeiten zu treffen, zu vermischen und zu verdünnen, um schließlich in der Kläranlage aufbereitet zu werden.
Damit jeder versteht, was ich meine, präsentiere ich hier eine Auswahl dieser Katastrophen (ohne Anspruch auf Vollzähligkeit und korrekte chronologische Reihenfolge):
1. Die Katastrophe schlechthin: um 23:00 Uhr war das Pils alle und die Kneipe noch voll.
2. Das Altbier ging um 02:00 Uhr zur Neige.
3. Das Weizenbier kurz darauf (ca. 02:15 Uhr).
4. Volker, der kleine Bruder unseres Stammkellners Uwe, der für seinen großen Bruder, der an einer spontan einberufenen Feuerwehrübung teilnehmen musste, einsprang, aber leider vorher noch nie gekellnert hatte. Immerhin erhielt von einem Gast 10 € Trinkgeld, leider mit dem Hinweis, er möge sich davon einen Taschenrechner zulegen. Dies steigerte eigenartigerweise weder das Selbstvertrauen noch die Rechenkünste.
5. Nicht nur das Bier ging aus, auch das Essen und zwar wie nachstehend aufgelistet: Tortellini, Nasi Goreng, Gulaschsuppe, Frikadellen, Pizzabaguette, Käse am Stiel und zuletzt die Mettendchen.
6. Um 22:45 ereichte mich die Information, dass die Damentoilette verstopft sei und das überschüssige Wasser sich seinen Weg aus der Damentoilette hinaus auf den Flur suchen würde. Wir mussten also die Herrentoilette – unter großem Hallo – auch für das weibliche Geschlecht freigeben. Gegen Mitternacht war der Schaden behoben, der Kanalreiniger hatte das verstopfte Rohr unter anderem von einigen Damenbinden, Zigarettenschachteln, Kleingeld, Slips und einer schwarzen blickdichten Strumpfhose befreit.
7. Menix (BVB) und Manne (S04) stritten sich wie immer über Fußball, schafften es aber diesmal – im Gegensatz zu sonst – die Thekenkollegen so einzubeziehen, dass es fast zu einer ordentlichen Hauerei gelangt hätte.
8. Das das Wechselgeld zur Neige ging und ich eine Zeitlang großzügig rausgeben musste, sei hier nur als Randnotiz vermerkt.
9. Ebenso der melodramatische Auftritt von Julia (sie wurde vor wenigen Tagen von ihrem Lover sitzen gelassen) in dessen Verlauf sie auf einen Tisch stieg, sich zunächst von ihrer Bluse, dann von ihrem BH befreite und in die interessierte Runde fragte, ob dies nicht reichlich zwingende Gründe wären, bei ihr zu bleiben. Ich half ihr schnell vom Tisch in ihre Jacke und dann ins Taxi.
10. Der letzte Gast ging um 06:30 Uhr.

17:00
Welche Musik spielt man im Biercafe zu Weihnachten? Sicherlich nicht: Wham, Chris Rea, Slade oder jedweden Best-of-Christmas-Sampler.
Eingepackt werden dagegen: der Soundtrack zu High Fidelity, Nirwana „Unplugged“, Eric Clapton „Unplugged“, Pogues „The very best of“ und Stoppok „Live“. Ich denke das wird reichen, da ich mit Wolfgang verabredet habe, nur von acht bis zwölf zu öffnen.
„Ich will kein Gerede in der Stadt. Von wegen Konkurrenz zum Familienfest und so. Wir wollen nur, dass sich ein paar Stammgäste ein „Frohes Fest“ wünschen können“, hatte er gesagt.
Nach dem gestrigen Abend habe ich da so meine Zweifel, ob dies so gelingen kann.

18:00
Ich habe 2 Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter. Der erste von meiner Mutter, die mir und meiner Freundin und der Familie meiner Freundin und so weiter ein schönes Weihnachtsfest wünscht. Ich rufe zurück, aber ihr Handy ist nicht für das Ausland freigeschaltet. Die andere Nachricht ist von Antje. Ich lösche sie, ohne sie vorher anzuhören und schalte den Fernseher ein.

19:30
Putzfrau Monika und der Getränkeservice haben ganze Arbeit geleistet. Von den Spuren der vorherigen Nacht ist nichts mehr zu sehen und zu riechen, im Gegenteil: es duftet nach frischen Plätzchen und Tannennadeln (Monika hat Theke und Tische mit Selbstgebackenem dekoriert) als ich das Lokal betrete. Der Bierkeller ist frisch gefüllt.
Ich koche eine Kanne Kaffee, stelle mich ans Fenster und schaue hinaus auf den menschenleeren Marktplatz. Die unbeleuchteten Reste des Weihnachtsmarktes geben an diesem Abend ein dunkles Zeugnis dieser Adventszeit. Restaurant und Hotel am Rande des Marktplatzes sind ebenso wenig erhellt, wie der Ratskeller, der dem Biercafe gegenüber liegt. Nur die Schaufenster des Modehauses sind erleuchtet.
Ein kurzer Blick in den Himmelgenügt, um zu sehen, dass es bewölkt ist und es nach bevorstehenden Niederschlägen aussieht, aber für Schnee ist es wohl doch zu warm (der Wetterbericht nennt die Temperaturen seit Tagen als für die Jahreszeit zu mild).
Es klopft an der Tür.
„Einen Moment“, rufe ich und gehe in der Annahme zum Eingang, dass es einer der Stammgäste zu Hause nicht mehr ausgehalten hat.
Ich öffne die Tür und sage ins Dunkle: „Na, schon den Kaffee auf...“,breche den Satz aber abrupt ab, nachdem ich von meinem Gegenüber Notiz genommen habe.
Vor mir steht ein junges Mädchen, sie mag vielleicht Mitte 20 sein, aber sicher bin ich nicht, in der Rubrik „Frauen-Alter-Schätzen“ bin ich nicht gerade herausragend erfolgreich, auf jeden Fall aber hat sie schulterlanges, blondes gelocktes, fast neige ich zu sagen, gekraustes Haar, das ein rundes ebenmäßiges, fast puppenhaftes ungeschminktes Gesicht, aus dem mich 2 tiefgrüne freundliche Augen anblicken, umrahmt.
„Darf ich reinkommen? Mir ist kalt.“
Ich trete zur Seite, halte ihr die Tür auf und als sie an mir vorbeigeht, sehe ich, warum sie friert, denn unter einer dünnen Strickjacke trägt sie nur ein leichtes buntgeblümtes Sommerkleid und an den strumpflosen Füßen entdecke ich dünne Leinenturnschuhe.
Sie setzt sich auf einen Barhocker an der Theke.
„Möchtest Du einen Kaffee?“
Das Mädchen nickt und lächelt mich dabei an. Die Kaffeemaschine steht hinter mir und ich bin froh mich umdrehen zu können, ich fühle mich unsicher.
Als vor jedem von uns ein Becher Kaffee steht, weiß ich nicht so recht, wie ich das Gespräch beginnen soll, aber glücklicherweise klopft es erneut an der Tür und ich kann weitere Gäste hereinlassen und mich ihnen widmen.

00:30
Die vergangenen Stunden flogen nur so dahin und alle, aber auch alle Ängste, die ich diesen Abend betreffend hatte, waren offensichtlich unbegründet gewesen: der Getränkevorrat hielt dem Durst der Gäste stand, ich schaffte es, alle Gäste auch ohne Kellner zu versorgen, die Toiletten verstopften nicht, Menix und Manne stritten nicht (nicht einmal über Fußball), Julia blieb angezogen und später ging sie mit ihrem Ex zusammen nach Hause, ich hatte genug Wechselgeld und als ich Feierabend machen wollte, gingen die letzten Gäste willig nach Hause. Und der Abend war gekennzeichnet von einer entspannten und gemütlichen Atmosphäre.

Der letzte Gast ist gerade gegangen. Nicht ganz richtig, denn das Mädchen sitzt immer noch an der Theke und schaut mir zu, wie ich sie putze, die Gläser poliere und schließlich aufstuhle.
„Feierabend.“ Ich schalte die Anlage aus. Das Mädchen steht auf und wir gehen zur Tür.
Ich schalte das Licht aus, wir treten vor das Biercafe und ich schließe die Tür hinter uns ab. Und gerade in dem Augenblick, in dem wir vor die Tür treten, beginnt es zu schneien. Erst sind es nur einige wenige kleine Schneeflocken, aber nach wenigen Augenblicken stehen wir in einem heftigen Schneegestöber voller großer schwerer Flocken.
Das Mädchen fängt eine große Schneeflocke und heftet sie mir wie einen Orden an die Jacke.
„Frohe Weihnachten“, sagt sie.
Dann küssen wir uns.

Nachtrag
Wenige Stunden später bebt die Erde im Iran.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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