Thomas Klemm

Warum duzen mich noch alle?

Vorwort

Zugegeben, einiges was ich im Anschluss über mein bewegtes Prominentendasein preisgeben werde, lässt Menschen ab einer gewissen geistigen Reife, süffisant an dem offenbarten Wahrheitsgehalt zweifeln. Es mag vielleicht auch dem einen oder anderen wie die bekennende Entweihung deutschen Kulturgutes erscheinen. Man wird mir den typischen Geltungsdrang einer chronisch unterschätzten Figur des öffentlichen Lebens unterstellen und natürlich werden viele neidvoll munkeln, das ich es nur des verlockenden Honorars wegen getan habe.
Aber Hand aufs Herz! Erstens trifft das auf fast alle Biographien wichtiger Persönlichkeiten zu und zweitens bin ich schließlich der Weihnachtsmann. Wer, wenn nicht ich, vermag ungestraft, unter offensichtliche Missachtung der schreibenden Zunft, solch debile Lektüre verbreiten? Keine einstweilige Verfügung kann verhindern, dass meine schonungslose Teilpräsentation als geschätzte Prosa in den Bücherregalen ihren Ehrenplatz finden wird.
Da ich in Vorbereitung auf mein enziklophädisches Beschenkungsritual, die Frankfurter Buchmesse und quotenträchtige Talkshows für die Promotion nicht wahrnehmen konnte, musste ich mir einen gewieften Verbündeten suchen. Und so beschlossen wir in dieser kreativen Zweckgemeinschaft, meine überfälligen Enthüllungen als Geschenk getarnt, ahnungslosen Geschäftspartnern unter den Christbaum zu schlenzen.


"Warum duzen mich noch alle?"

Es begann vor vielen Jahren in einer eher unscheinbaren kleinen Hütte nördlich des 55. Breitengrades. Von unzähligen Lawinen sichtlich ramponiert, erwies sich dieser anonyme Geheimtipp aber als idealer Unterschlupf bei den liebestrunkenen Paaren. Die Wände waren verziert von eingeritzten Herzchen und Vornamen ganzer Generationen. Genau an diesem Ort passierte es dann auch. Mit einem lautstarken Höhepunkt kündigte sich meine nahende Ankunft als kleiner, pupsender Schreihals an.
Meine ahnungslosen Eltern wurden schon damals irgendwie das Gefühl nicht los, dass mit mir etwas nicht stimmte. Nicht, das mein Äußeres optische Unregelmäßigkeiten aufzuweisen hatte, oder mein Verhalten schwere Gebrechen vermuten ließ. Es war eher die Tonlage, in der ich mich geräuschvoll artikulierte. Meine seit Geburt an tief schwere Stimme dröhnte in Moll die typischen Säuglingslaute quer durch die Stube, das es meinen Eltern Angst und Bange wurde. Weder die heidnische Kräuterhexe, noch der schrumplige Medikus vermochten etwas festzustellen. Enttäuscht sagte mein Vater dann die vielleicht erleuchtende Audienz bei der orakelnden Wahrsagerin ab. Sei es drum. Er hätte ihr die Geschichte mit dem funkelnden Prozze-Schlitten sowieso nicht geglaubt.
Aber es sollte der Anfang meiner nicht enden wollenden Karriere sein. Die unbeachtete Geburt eines kleinen Brüllers, der zum beliebtesten Rentner aller Zeiten wurde. Der Beginn eines langen Weges zu Ehrfurcht und Respekt. Und obwohl ich alles erreicht habe, bleibt bis heute eine Frage leider unbeantwortet. Warum duzen mich noch alle?


"Was für ein Kerl!"

An die meisten Details meiner Kindheit kann ich mich kaum noch erinnern, aber eines werde ich nie vergessen. Diese furchtbare Kälte, die meinen schmächtigen Körper durchdrang. Ständig hatte ich eiskalte Füße und nur um die Mittagszeit konnte ich meine Ohren spüren. Die wenigen Taler meiner erwerbslosen Eltern ließen nur verschlissene Kleidungsstücke und eine Mahlzeit pro Tag zu. Sozialhilfe wurde erst viel später eingeführt.
Resigniert nährte jeder verschämte Blick auf meine kräftigen Spielkameraden meinen vorpubertären Komplex, später das Schicksalsdasein eines schmächtigen Dorfschreibers fristen zu müssen. Da keiner der mir bekannten Dorfschreiber verheiratet war, ja nicht mal eine Freundin hatte, hechelte ich fortan stundenlang über holprige Feldwege und schleppte in jeder freien Minute sinnlos schwere Steine durch das Dorf. Über mein klappriges Bett hatte ich alle erkaupelten Bildchen, üppig eingeölter Muskelmänner, genagelt. In meiner empfundenen Ohnmacht stopfte ich wütend alles halbwegs genießbare in mich hinein. Doping war zwar noch nicht strafbar, aber meine frühzeitig aufgetretene Eiweißallergie schränkte die Auswahl an diversen Hilfsmittelchen weitestgehend ein.
Ich wollte ein richtiger Mann werden. Koste es, was es wolle. In meinen intimsten Träumen sah ich mich souverän durch metertiefen Schnee von Hütte zu Hütte stapfen. Eingehüllt in einem fellbesetzten Mantel, die Füße in gefütterten Markenstiefeln, zog ich allerorts die bewundernden Blicke auf mich. Das von weißem Flausch gerahmte Gesicht krönte eine anmutende Kopfbedeckung. Eine richtige Bommelmütze. Man, sah ich gut aus! Was für ein Kerl!


"Welch eine Herausforderung!"

Aber schon bald sollte ich meine Chance bekommen. Es erschien zwar nicht die ersehnte blonde Fee, um meine antiken Galoschen wertneutral gegen ihren Zauberstab einzutauschen, aber immerhin. Es war eines von diesen bemalten Handzettelchen, die heute Flyer genannt werden. Schon damals wurden sie uns zuhauf unter die Pforte geschoben. Selbst die Botschaften dieser Offerten haben sich nur unwesentlich verändert. Elch-Rouladen im Angebot, der Köhler macht Räumungsverkauf und ein Barde aus dem Nachbardorf zupft ab Sonnenuntergang in der Schenke.
Der tägliche Frust über die ungebremste Papierflut wurde aber regelmäßig von meiner Neugier übermannt. Und so blätterte ich, noch immer zähneklappernd, durch die gefalzten Blätter. Plötzlich glitt mir etwas durch die klammen Finger, was mein tristes Leben grundlegend veränderte. Mein kühnster Traum, die Bommelmütze, rückte in greifbare Nähe.
Ruprecht suchte einen Knecht. Er war vor vielen Jahren eher zufällig für die gestressten, heiligen drei Könige beim Geschenke verteilen eingesprungen. Wie sich später herausstellte, liebäugelte er gerade mit der neuen Vorruhestandsregelung. Schon damals konnte man nie wissen, wie schnell ein Erlass der Regierenden sich förmlich in Luft auflöste. Es musste schnell ein Nachfolger her. Nicht irgendeiner. Nein, der Beste sollte es sein. Ein landesweiter Wettbewerb wurde ausgerufen. Es galt den Superstar unter den Sackträgern zu finden und nach einem kurzen Bescheidenheitszögern füllte ich geschwind den Bogen aus. Natürlich erlag ich der Versuchung, die geforderte Selbstdarstellung etwas zu lancieren, ja teilweise sogar übertrieben zu flunkern. Aber es sei mir verziehen. Ich war heiß. Welch eine Herausforderung!


"Nicht ohne Bommelmütze!"

Mir war klar, das jeder schnorrende Trottel, welcher nur halbwegs eine Einkaufstüte heil nach Hause tragen konnte, sich diesem Wettkampf stellen würde. Nahezu alle Gazetten hatten nur noch ein Thema. Erste schmalzige Kandidaten lächelten schon von grellen Plakaten, mit denen jede freie Fläche im Land beleimt war. Kichernde Mädchen handelten erste Favoriten und belagerten die Vorgärten ihrer vermeintlichen Traumprinzen. Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen?
Ich verdoppelte meine Anstrengungen. Berge von Holzscheiten stopfte ich in einen riesigen Sack und schleppte ihn nächtelang durch den Wald. Regelmäßig hielt ich inne und ließ den schweren Sack theatralisch von den Schultern gleiten. Wie Elvis kreiste ich dann mit den Hüften und schmachtete mit sonorer Stimme "Hoh, Hoh.....drauß vom Wald, da komm ich her...", bis ich heiser war. Jeder Ahnungslose, der den Fehler machte mich zu besuchen, wurde vereinnahmt. Mittlerweile schleppte ich den Sack überall mit. Mein Bekanntenkreis hatte sich deutlich reduziert und manch irritierte, mitleidige Blicke meiner Nachbarn ließen erste Zweifel keimen.
Kann ich es wirklich schaffen. Soll ich es tatsächlich wagen? Als traditioneller Versager aus dem nordöstlichen Randgebieten, ohne Lobby, ohne Fürsprecher? Könnte ich das hämische Gelächter ertragen, wenn mir auf der Bühne die geprobten Verse nicht einfallen, oder der Sack beim Absetzen aufplatzt?
Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum ausgerechnet in diesen Momenten immer der blassgraue Dorfschreiber scheinbar zufällig meinen Weg kreuzte. Nein! So wollte ich nicht enden! Nicht ohne Bommelmütze.


"Tor zur Unsterblichkeit"

Ausgerechnet jetzt drängten meine besorgten Zeuger fast täglich auf eine klare Bestimmung, in welcher Zunft ich eine Lehre beginnen wolle. Aus mir sollte schließlich mal was werden. Etwas, auf das sie stolz sein konnten und sie im Alter versorgt. Aber Lehrstellenmangel war schon damals eine gängige Vokabel. Die wenigen Ausbildungsstätten hatten ihre freien Plätze Jahre im Voraus zweifelhaften Sprösslingen diverser Bekannten versprochen. An ein Studium war aus finanziellen Gründen nicht zu denken und auf die Idee mit dem Bafög war noch keiner gekommen.
Die missverstandene Obhutpflicht meiner Eltern resultierte schließlich in einem Bildungsultimatum, welches sie als Entscheidungshilfe tarnten. Entweder Militär, oder Kommunalbeamter. Die Vorstellung, den Rest des Lebens in Zehner-WG´s mit transpirierenden Männerleibern zu verbringen, löste eine existentielle Phobie aus, die nur noch durch das plötzliche Auftauchen des Dorfschreibers übertroffen wurde.
Eilig vorgetragene psychologische Bedenken und Plädoyers über meine gewaltfreie Gesinnung wurden mir als Erwerbsunwilligkeit ausgelegt. So gestand ich dann meine visionären Pläne. Da die teilweise sehr überzeugenden Phantasien, von der Zukunft eines professionellen Geschenk-Versandhandels, kein Gehör fanden, konnte ich nur mit der Verpflichtung zu einem freiwilligen Sozialjahr, im nahegelegenen Versehrtenstift, meine Chancen auf ein erfülltes Leben wahren. Sozialer Pflegedienst als Weg zum Ruhm. Tor zur Unsterblichkeit?


"Der Erbe des Imperiums"

Der große Abend der Entscheidung rückte heran. Eine riesige Scheune, mächtig wie eine Kathedrale, war dazu extra hergerichtet worden. Überall standen tausende Kerzen und unzählige Schaulustige hatten die oft tagelange Anreise in Kauf genommen. Ich war so aufgeregt, das ich von der fantastischen Lebkuchentafel keinen Bissen runterbekam und stattdessen bis zu meinem Auftritt den Glühwein-Tresen belagerte. Das leckere Gebräu wandelte meine anfängliche Nervosität schnell in entspannte Gelassenheit.
Hinter der hölzernen Bühne herrschte eine lauernd, argwöhnische Gladiatorenatmosphäre. Jeder von uns bekam eine überdimensionale Nummer angesteckt und heimlich fixierte ich jeden Widersacher. Donnerwetter, hier waren wirklich nur die Besten. Jeder König hätte aus uns problemlos eine elitäre Leibgarde rekrutieren können. Langsam begann der Wein seine ganze Wirkung zu entfalten. Meine Wangen und die Nase fingen an zu glühen. Just in diesem Moment wurde meine Nummer aufgerufen.
Die natürliche Farbgebung meiner Gesichtszüge fiel der Jury gleich positiv auf. Auch mein benommenes Lächeln und der weiche Schritt wurde als erfreulich selbstbewusst eingestuft. Der geschmeidiger Umgang mit dem textilen Geschenkbehälter löste anerkennendes Raunen aus. Das ich vor lauter Lampenfieber das Hüfte kreisen total vergessen hatte, stellte sich später als Vorteil heraus. Derart anrüchige Gesäßschlenker waren in diesem seriösen Gewerbe verpönt. Meine einmalige Stimme jedoch war der goldene Joker. Im letzten Stechen zündete ich mit diesem Obolus ein Begeisterungsfeuerwerk und Ruprecht erkor mich unter Tränen gerührt zu seinem Nachfolger. Der Erbe des Imperiums.


"Vom Knecht zum Hecht."

Meine Popularität stagnierte seit Jahrhunderten. Dabei wollte ich doch noch so viel erreichen. Ich musste dringend etwas unternehmen, was mehr Aufmerksamkeit auf meine Person lenkte. Meine beschränkter Erfindergeist war wohl nicht der Nährboden für wirklich zündende Ideen. Meine ganze Erscheinung musste reformiert werden. Es bedurfte dringend engagierter Missionare, welche die Werbetrommel rührten und meinen Ruf in die ganze Welt hinaus trugen.
Sogleich ließ ich verbreiten, das ich gedenke, qualifizierte Berater anzuheuern. Aus der Vielzahl der Bewerbungen befand ich die Idee mit den Förderern am genialsten. Die beiden avisierten Manufakturen waren zum einen die aufstrebende Brauseküche Coca-Cola und der etablierte Klingengigant Gillette. Nach reiflichen Überlegungen entschied ich mich aber doch für die Limonadenbrauerei. Der leuchtrote Mantel, die neuen Stiefel und vor allem diese traumhafte Mütze waren einfach zu reizvoll. Außerdem brauchte ich mich nicht "für mein bestes im Weihnachtsmann" täglich den schon so stolzen Bart abrasieren. Das ich verschiedene Markennamen bekommen sollte hielt ich anfangs für nicht so wichtig. Weihnachtsmann gefiel mir noch am besten und Santa Claus und die anderen klangen auch irgendwie gut.
Erst viel später belastete mich dieses ständig wechselnde Pseudonym. Mein Leben gleicht seither dem eines Kronzeugen in einem Schutzprogramm der Justizbehörden. Keiner darf wissen, wo ich wohne und wie mein richtiger Name lautet. Aber der Erfolg gab mir recht. Ich hatte mit den gewieften Strategen einen genialen Schachzug gemacht. Mein Pakt mit dem Kommerz sorgte fortan, neben einer üppigen Entlohnung, für ausreichend Flüssigimage und regelmäßige Beliebtheitseruptionen. Ich hatte es geschafft. Vom Knecht zum Hecht.


"Bin ich jetzt im Radio?"

Ich konnte mir jetzt den teuersten Schlitten leisten und im renommiertesten Hofgestüt das begehrte Rentier Rudolf ersteigern. In jedem Winkel der Welt investierte ich in meinen Beschenkungsfeldzug. In Amerika zwang mich mein, durch einseitige Trinkgewohnheiten, fortschreitendes Übergewicht, Helfer einzustellen, welche der Tradition folgend durch den Schornstein passten. Auch hierzulande musste ich alljährlich mehr zuverlässige Tagelöhner engagieren, um der Lage Herr zu werden. Mittlerweile beschäftige ich schon eine kleines Heer von Bediensteten.
Die steigenden Abgaben für meine Verbündeten ließen mich aber nicht selten mit dem Gedanken spielen, fremdländische Helfer oder notfalls Schwarzarbeiter ins Auge zu fassen. Mein drohendes Ungemach, über die ständige Gewissensgrätsche zwischen ungescholtenen Ehrenbürger und anonymen Steuersünder, hat mir nicht wenig schlaflose Nächte bereitet.
Ich habe mehrfach versucht, meine fürstlichen Belastungen als Geschäftsausgaben beim Finanzamt geltend zu machen. Ehrlich und treudoof schicke ich brav meine Erklärungen ab, aber niemand beantwortete meine ausführlichen Schilderungen. Noch nicht einmal die lumpige Steuernummer konnte bisher vergeben werden. Meine telefonischen Audienzen bei der Steuerbehörde, wurden wiederholt von den Beleghütern mit kichernden Sprüchen abgewimmelt. "Hi, hi,...ha, ha, bin ich jetzt im Radio?"


"Sicher ist sicher"

Ja auch im Alter ist man vor zwischenmenschlichen Irritationen nicht gefeit. Sicherlich ist man bodenständiger geworden und reifer, aber so mache ledige Mama hat keine Vorstellung, was sie mir mit ihrem festlich, leichtem Abendkleid antut und wie warm es mir dann plötzlich unter meinem Mantel werden kann.
Einmal habe ich einer Dame die gutgemeinte Einladung zu einem Glas Jagertee nicht abschlagen können. Da es nicht bei einem Glas geblieben ist, habe ich erst viel zu spät registriert, was sie mit ihrer Schwärmerei für reifere, erfahrene Männer meinte. In fing sofort an, einen moralschwangeren Vortrag über Weihnachtsmannprinzipien einzuleiten. In dieser aufgeladenen Atmosphäre gelangen mir jedoch nur schüchterne Stammeleien und halbherzige Verweise auf mein fortgeschrittenes Alter. Bevor sie meine verwirrte Argumentation als Versagensängste fehlinterpretierte, beendete ich diese prekäre Situation. Phrasenreich schilderte ich auf dem Weg zur Tür meinen unglaublichen Zeitdruck und meine stressbedingte Eile.
Seither bin ich vorsichtig geworden. Wenn die vorgerückte Stunde einen erhöhten Konsum von weinhaltigen Genussmitteln, unbeherrschte Verhaltensweisen erahnen lässt, lege ich die Geschenke nur noch heimlich unter den Tannebaum und verschwinde ganz leise wieder. Sicher ist Sicher:



"Rot-Weiß ist eben Kult"

Es war einer dieser Tage, an denen schon mittags alles erledigt schien. Ich schlürfte gelangweilt durch das Haus und fiel vor dem Garderobenspiegel plötzlich in eine seltsame Starre. Bisher hatte ich jede Anspielung auf meine Eitelkeit vehement dementiert. In diesem Moment aber konnte ich mich einer gewissen, kritischen Betrachtung nicht entziehen. Zugegeben, ich war noch immer attraktiv. Erfolg macht ja bekanntlich erotisch, aber meine Haare waren völlig ergraut. Und immer die gleiche Frisur. Auch die altersbedingten Verformungen meiner Silhouette hatten beträchtliche Ausmaße angenommen. Von meinem Kostüm ganz zu schweigen. Kein Mensch ging mehr freiwillig mit so einem albernen Fummel unters Volk.
Ich griff sofort zum Fernsprecher und eine Stunde später tagte der Krisengipfel in meiner Küche. Mit harschen, emotionalen Debatten versuchten wir mit meiner beflissenen Agentur, dem Sponsor die geforderten Zugeständnisse abzuringen. Er pochte aber gnadenlos auf seinen Vertrag und war nur zu wenigen Kompromissen bereit.
Gutscheine für die neuesten Unterwäschekollektionen, üppige Sonderkonditionen im nahegelegenen Körperertüchtigungstempel und eine Ehrenmitgliedschaft im monetären Schönheits-Club. Aber eine modische Tönung versagte mir der Sponsor. Haarwachs und Pomade wurden unter Schadenersatzandrohung untersagt und der Bart war sowieso tabu.
Ich muss an der Stelle wohl nicht betonen, das mich die lüsternen Blicke, der reiferen weiblichen Clubmitglieder, von weiteren Besuchen abhielten. Auch das verspielte Dauerzwinkern meines Konditions-Trainers war mir auf Dauer nicht geheuer. Die zartseidenen Unterhosen dagegen sind einmalig und meine ständig wachsende Fangemeinde zerstreut zum Weihnachtsfest auch zuverlässig die letzten Zweifel an meiner ungewöhnlichen Erscheinung. Rot-Weiß ist eben Kult.


"Erfahrung macht Weise"

Ständig versuchen sich lästige Berichterstatter an meine Fersen zu heften, meine Privatsphäre auszuschnüffeln, vermutete Affären zu enthüllen und meine angeblich suchtbehafteten Gewohnheiten in der Öffentlichkeit auszubreiten. Das ist aber bisher noch keinem Schergen des Journalismus gelungen. Kein belastendes Photo und keine wilde Beziehungsstory ist je zustandegekommen. Und ganz ehrlich, es gäbe da schon einiges zu berichten. Ich bin ja schließlich auch nur ein Weihnachtsmann.
In den vielen Jahrzehnten, die ich nun schon hinter mir habe, hat die eine oder andere Frau meinen Weg gekreuzt, und mit einigen habe ich auch eine Zeit lang zusammengelebt. Nicht auszudenken, wenn die Welt erfährt, das ich lediglich meine Scheinadresse im hohen Norden habe und sonst doch eher die Sonne und den Strand bevorzuge. Was würde wohl für ein Aufschrei durch die Welt gehen, wenn ein Lichtbild mit meiner Lebensgefährtin am Strand die Runde macht? Ohne Mütze und Mantel in Badeshorts würde ich in allen Boulevard-Blättern aus dem Gummiboot winken. Undenkbar.
Geheiratet habe ich allerdings nur einmal. Für die heutigen Verhältnisse war es mit 60 Jahren zwar eine utopische Ehezeit, doch nichts ist bekanntlich für immer. Die anschließende Trennung und die damit verbundenen Kosten hatten das Volumen des Landeshaushaltes von Mecklenburg-Vorpommern. Leider waren Eheverträge damals noch nicht so verbreitet und mir deshalb nicht geläufig. Erfahrung macht Weise.


"Man kann nie wissen"

Viele werfen mir ja vor, das ich meine beherrschende Stellung ausnutze und mit dem schrulligen Nicolaus ein machtbesessenes Kartell bilde. Ich würde den Geschenkemarkt dominieren und mit meiner Monopolstellung die Mitbewerber einschränken. In letzter Zeit versucht da ein gewisser Monti von einer europäischen Wettbewerbskommission diesen Beweis anzutreten. So richtig kommt er mit diesen hanebüchenen Vorwürfen aber nicht voran.
Die erste provozierende Aufforderung zur Stellungnahme habe ich mit der Schutzbehauptung abgeschmettert, das ja wohl eine Vielzahl von Teilzeit-Propheten alljährlich versucht, sich in der Gunst um unsere süßen Wonneproppen gegenseitig zu überbieten. Wenigstens der ewig grinsende Hoppelhase mit seiner anspruchslosen Eiernummer muss hier zwingend mit in die strafrechtliche Betrachtung einbezogen werden. Der Gleichbehandlungsgrundsatz muss schließlich gewahrt bleiben. Da die Prophezeiung einer Bedrohung durch meinen Pseudo-Geheimbund auf dem Geschenkemarkt, von teuren Gelehrtengutachten nicht untermauert werden konnte, und nicht mal symbolische Zuwendungen von der europäischen Union je geflossen sind, habe ich erst mal Ruhe.
Aber den Typen kann man ja nicht trauen. Wer weiß, was da noch alles kommt. Lassen wir uns überraschen. Vorsorglich habe ich mir erst mal eine Liste mit Nationen aus dem Internet heruntergeladen, welche Länder ohne Auslieferungsabkommen dokumentiert. Man kann nie wissen.


"Vertraut mir!"

Überhaupt sollten die Menschen anfangen, nicht mehr alles demütig zu ertragen, was ihnen vordergründig untergeschoben wird. Keine noch so kleine Seele darf im hektischen Alltag untergehen. Die wahren Werte sollten dagegen wieder das ihnen angemessene Gewicht erhalten. Respekt, Anstand und Würde müssten einkommensrelevant werden. Mit Schwafelsteuern und progressiven Abgaben auf Intoleranz könnten wir unsere Schuldenberge in Rekordzeit tilgen. Die Nörgler, Zweifler und Zögerer hätten die gesellschaftliche Verpflichtung unsere Autos zu waschen und uns Sonntag frische Brötchen zu holen. Es gibt bestimmt noch viel bessere Ideen, aber sie nützen niemandem, wenn man nicht den ersten Schritt unternimmt.
Auf meinem Weg durch die Jahrhunderte habe ich viele Missstände bewusst erlebt und hätte ich mich nicht von Anfang an in naiver Manier gegen die gelebte Selbstverständlichkeit zur Wehr gesetzt, würde heute vermutlich ein gelber Pokemon den Heiligen Abend organisieren. Mutig scheinbar unmögliches zu vagen, um der Durchschnittlichkeit zu entfliehen, kann der Schlüssel zu einem erfüllten Leben sein. Auch ich kann niemandem, der seinen Traum versucht zu leben, versprechen, das ihn das unsterblich macht. Aber der Versuch ist es wert. Der Glaube zählt. Vertraut mir!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.03.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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