Klaus-Peter Behrens

Eine nicht ganz stille Nacht

„Ich sollte mich allmählich zur Ruhe setzen.“
Müde stapfte der Weihnachtsmann durch den tiefen Schnee. Sein Atem bildete kleine Wolken in der kalten, kristallklaren Luft, die in immer kürzeren Intervallen geradewegs aus den Tiefen seines schneeweißen Bartes zu kommen schienen. Grundsätzlich besuchte der Weihnachtsmann die Kinder am Weihnachtsabend ja gerne, doch dieser Anstieg durch den Wald den Hügel hinauf war wahrlich kein Vergnügen. Schon gar nicht, wenn man mehrere hundert Jahre alt war, dazu noch einen großen Sack mit sich herumschleppen mußte und einem als Lichtquelle nur der gute alte Mond zur Verfügung stand, der es sich nicht nehmen ließ, gelegentlich hinter einer Wolke zu verschwinden. „Vielleicht hätte ich doch Ruphus mitnehmen sollen“, überlegte der Weihnachtsmann, während er für einen Moment anhielt, um wieder zu Atem zu kommen. Fast ein wenig neidisch dachte er an den Weihnachtselfen, der es sich vermutlich gerade in dem Rentierschlitten bequem machte und nichts anderes zu tun hatte, als auf die Rückkehr seines Meisters zu warten. Elf mußte man eben sein. Sein müder Blick wanderte den Hügel hinauf. Ein warmer Lichtschein fiel dort durch die Bäume und wies ihm so auf den letzten Metern den Weg. „Nun gut, die Pflicht ruft. Wäre doch gelacht, wenn ich den Rest nicht auch noch schaffe“, seufzte er und setzte sich wieder in Bewegung.

Etwas weiter oben lag Harro, der Hofhund, in seiner Hütte und sinnierte über die Ungerechtigkeit des Lebens. Heute war Heiligabend. Das war nicht zu übersehen. Überall auf dem Hof brannten bunte Lampen, und aus dem Haus roch es zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig gut. Ganz offensichtlich wurde dort etwas Schmackhaftes zubereitet, nur ihm würde das vermutlich nicht viel nützen. Mißmutig fiel sein Blick auf den Freßnapf, der vor seiner Hütte stand und vor Trockenfutter überlief. „Eigentlich müssen wir ja sparen“, hatte sein Herrchen ihm vorhin verkündet und dann sein Futternapf doch bis zum Rand gefüllt. „Aber heute ist Weihnachten. Tut mir leid, alter Junge, aber mehr als Trockenfutter ist nicht drin.“ Und das zu Weihnachten! Harro war sauer. Am liebsten hätte er jetzt Minka, die alte Hauskatze, über den Hof gejagt und sich ein wenig mit ihr gestritten, doch die war leider diesen Herbst verstorben. Harro vermißte sie. Auch wenn er es ihr nie gegenüber hatte zugeben können, er hatte die alte Katze gemocht. Nun war er das einzige Tier im Haus, und das war langweilig. Noch mehr als er, schien jedoch die fünfjährige Tina unter dem Verlust zu leiden. Seit Minka verstorben war, lief sie nur noch mit Trauermiene herum und schien Harro gar nicht wahrzunehmen. Als ausgewachsener Schäferhund war er eben kein geeigneter Ersatz für eine Angorakatze, egal wieviel Mühe er sich auch gab, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Das Leben war einfach ungerecht. Ein plötzliches Geräusch lenkte Harro von seinen trübseligen Gedanken ab. Wenn ihn sein gutes Gehör nicht täuschte, schlich sich jemand auf der anderen Seite des Hofes den Hügel hinauf. Das war zur Abwechslung einmal interessant. In freudiger Erwartung bleckte Harro die Zähne. Während andere Hunde nun laut bellend den Eindringling begrüßt hätten, liebte Harro den Überraschungseffekt, den er, sehr zum Leidwesen des örtlichen Briefträgers, bis zur Perfektion eingeübt hatte. Leise schlich er im Schatten der Hauswand zur anderen Seite hinüber, ve! rbarg sich hinter einem großen Rhododendrenstrauch, der unter der Last des Schnees halb begraben war und wartete auf den Eindringling. Der große Weihnachtshund schien ein Einsehen zu haben und ihm etwas zum Spielen zu schicken. Harro würde sein Geschenk gebührend empfangen.

„Meinst du, der Weihnachtsmann hat mich vergessen?“
„Natürlich nicht“, beruhigte Maren ihre kleine Tochter. Liebevoll strich sie ihr über das blonde, leicht gewellte Haar und vergaß für einen Moment den ganzen Ärger, der sie zu überrollen drohte. Michael, ihr Mann, hatte vergangenen Sommer seinen Job verloren und bisher keinen neuen gefunden. Mit über vierzig Jahren hatte man ihn bisher überall rigoros abgelehnt. „Zu alt“ war die regelmäßige Begründung, auch wenn keiner sich traute, das direkt auszudrücken. Aber zwischen den Zeilen konnte man deutlich lesen, was der wirkliche Grund war. Sie steckten wirklich in der Klemme. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, würden sie sogar ihr Haus verkaufen müssen.
„Aber es ist schon spät, und er ist immer noch nicht da.“
„Keine Sorge, er wird schon noch auftauchen, Papa hat dafür gesorgt“, vertröstete sie die Kleine, „aber ich weiß nicht, ob er dir das Spielzeug schenkt, das du dir wünscht“, bereitete sie ihr Kind auf eine mögliche Enttäuschung vor, denn das Geld reichte dieses Jahr nicht für große Geschenke. Mit ihrem Mann hatte sie sogar abgemacht, sich gegenseitig gar nichts zu schenken und das, obwohl sie doch einen Herzenswunsch hatte.
„Ich habe mir kein Spielzeug gewünscht“, erwiderte Tina ernsthaft.
„Was dann?“
„Das darf ich nicht verraten, sonst geht es nicht in Erfüllung.“
„OK, verstehe. Na dann lassen wir uns eben überraschen, und nun laß Mami weiter arbeiten. Ich muß noch viel erledigen, bevor der Weihnachtsmann kommt.“
„Ist gut.“ Wie der Wirbelwind verschwand Tina aus dem Zimmer, wobei sie fast Michael umgerannt hätte, der gerade im Begriff war, den Weihnachtskranz mit neuen Kerzen zu bestücken.
„Du hast doch den Studentendienst nicht vergessen?“, hakte Maren vorsichtig nach. Sie mußten zwar sparen, aber der Weihnachtsmann vom Studentendienst kostete nun wirklich nicht die Welt. Das hatte allerdings auch seinen Grund.
„Nein, obwohl ich das für Unsinn halte. Wenn ich nur an das letzte Jahr zurück denke. Der Typ, den sie uns geschickt hatten, war vor lauter Alkohol so weggetreten, dass er vom Schlitten fiel und die ganze Zeit wie ein Vodoopriester auf Valium vor sich hin grinste.“
„Ja, ho ho hol mir mal ein Bier“, kam wirklich nicht so gut an“, gab Maren kleinlaut zu, „aber diesmal haben sie versprochen, jemand mit Erfahrung zu schicken.“
„Vielleicht sollte ich mich dort bewerben. Mit meinem Alter wäre doch gut qualifiziert.“
„Michael!“
„Tut mir leid, aber ich hatte heute schon wieder Post.“
„Absagen?“, hauchte Maren ängstlich. Michael nickte.
„Verbunden mit den besten Weihnachtswünschen. Reizend, nicht wahr? Vielleicht sollte ich wirklich auf Weihnachtsmann umsatteln. Das wäre doch einmal ein lockerer Job.“

Diese Einschätzung konnte der Weihnachtsmann gar nicht teilen. Nachdem er endlich schwer prustend sein Ziel erreicht hatte, mußte er feststellen, dass dieses von einem Jägerzaun umgeben war. Ihm blieb auch nichts erspart. Natürlich hätte er auch den Weg durch die Gartenpforte nehmen können, aber er wollte ja unbemerkt bleiben. Also wählte er den Weg über die Rückseite des Gartens und hievte ächzend ein Bein über den erstaunlich hohen Zaun. Prompt blieb er mit dem Hosenboden an einem der spitzen Pfähle hängen. „Verdammt, das fehlt mir noch“, fluchte er, während er wenig elegant das zweite Bein über den Zaun beförderte, das Gleichgewicht verlor und erst einmal der Länge nach mit dem Gesicht voraus im Schnee verschwand.

Harro war gelinde gesagt enttäuscht. Einen Einbrecher hatte er sich anders vorgestellt. Gut, der Typ schleppte einen großen Sack mit sich herum, was seine Absichten aus der Perspektive des Hundes hinreichend dokumentierte. Trotzdem, in dem Alter sollte man nach Harros Meinung besser im Schaukelstuhl sitzen und nicht in einem abgefahrenen Kostüm Einbrüche verüben. Harro bezweifelte, dass es Spaß machen würde, den Einbrecher, der sich gerade wie ein altersschwacher Bär aus dem Schnee hoch kämpfte, über den Hof zu jagen. Aber egal, man nimmt was man vor die Schnauze bekommt. Vielleicht würde er ja munterer werden, wenn er ihn mit seinen Zähnen bekannt machen würde. Das war eine gute Idee. Auf steifen Beinen verließ Harro sein Versteck. Das Spiel konnte beginnen.
„Das ist das letzte Mal“, fluchte der Weihnachtsmann leise vor sich hin, während er den verbliebenen Schnee von seinem roten Mantel klopfte. Eine Inspektion seiner Kehrseite bestätigte ihm, dass dort ein erschreckend großer Riss klaffte. Verfluchter Jägerzaun. Seufzend brach er die weitere Überprüfung ab. Zumindest hatte er sich nichts gebrochen, und das war die Hauptsache. Nun mußte er nur noch seine Aufgabe erledigen, doch die war nicht gerade leicht. Sein Blick wanderte über die weiße Fassade des hübschen Einfamilienhauses, das mit seinen hölzernen Fensterläden und der bunten Beleuchtung in dem tief verschneiten, großzügigen Garten fast wie eines dieser Kerzenhäuser aus den Weihnachtsboutiquen wirkte. Sorgfältig musterte der Weihnachtsmann die hell erleuchteten Landhausfenster der ersten Etage, bis sein Blick an einem Fenster hängenblieb, das mit lauter Weihnachtsmalereien geschmückt war. Auf der Fensterbank saß ein Bär, der lässig eine Weihnachtsmütze über seinem rechten Ohr trug und in den Garten hinab sah. Die schwarzen Knopfaugen schienen ihn vorwurfsvoll anzustarren, und der Weihnachtsmann hätte schwören können, dass der Bär mitleidig sein Stoffhaupt schüttelte. Der Weihnachtsmann schnaubte. Wer interessierte sich schon für die Meinung eines altklugen Stoffbären? Zumindest wußte er nun, wo er hin mußte. Mit einem Seufzen langte er nach seinem schweren Sack und erstarrte. Soweit er sich erinnern konnte, bestand dieser aus stabilem, von Elfen handgewebtem Sackleinen, nicht jedoch aus struppigem Fell. Auch hatte er keine elfenbeinfarbenen Reißzähne gehabt. Erschrocken riß er die Hand zurück.
„Hallo“, knurrte Harro in seiner tiefsten Tonlage und stellte erfreut fest, dass die rosigen Wangen des Einbrechers plötzlich blass geworden waren. „Hast du dich verlaufen?“

„Sag mal, hat da nicht eben jemand um Hilfe gerufen?“, fragte Maren irritiert. Sie war überzeugt, gerade einen verzweifelten Hilfeschrei, gefolgt von einem freudigen Bellen und Knurren, vernommen zu haben.
„Ich habe nichts gehört.“
„Und wenn Harro gerade den Studenten verspeist?“
„Dann sparen wir Trockenfutter.“
Maren verzog wütend den Mund. Mit ihrem Mann konnte man im Augenblick wirklich nicht allzuviel anfangen. „Schon gut, dann sehe ich eben nach“, schnaubte sie und schritt energisch zur Vordertür.

„Das war wahrlich in letzter Sekunde.“ Mit dem, was von seinem rechten, roten Ärmel übrig geblieben war, wischte sich der Weihnachtsmann über die schweißnasse Stirn, dann schlug er dem Elfen Ruphus dankbar auf die Schulter. „Was würde ich nur ohne deine Zaubertricks machen?“
„In der Klemme stecken“, versetzte der Elf, während er grinsend den armen Harro betrachtete. Der fand das Ganze weniger komisch. Gerade noch hatte er sich so gut mit seinem Spielzeug amüsiert und nun, von einem Moment auf den anderen, konnte er kein Glied mehr rühren. Selbst seine Schnauze, aus der noch einige rote Stoffetzen heraushingen, war wie gelähmt. Er würde sich beim großen Weihnachtshund beschweren und sein Geschenk umtauschen.
„Solltest du nicht auf den Schlitten aufpassen?“, versuchte der Weihnachtsmann abzulenken.
„Klar, aber ich kenne Euch ja schon ein paar hundert Jahre, und in letzter Zeit habt Ihr immer Hilfe gebraucht.“
„Unsinn“, wiegelte der Weihnachtsmann ab, während er beobachtete, wie der Elf mit einer lässigen Handbewegung Harro in seine Hütte zurück beförderte. Es war schon ungerecht, dass Zaubern nur den Elfen vorbehalten war.
„Ich erinnere mich noch gut an das letzte Jahr, als Ihr Euch im Zimmer geirrt hattet und um Haaresbreite als Sittenstrolch verhaftet worden wäret.“
„Ach das..“ Verlegen rückte der Weihnachtsmann sein mitgenommenes Wams zurecht.
„Oder als man Euch in Texas für einen Viehdieb gehalten und auf Euch geschossen hat. Gut war auch die Geschichte in Australien...“
„Schluss jetzt“, unterbrach der Weihnachtsmann die Aufzählung. „Ich habe zu arbeiten, außerdem kommt jemand.“
Während Weihnachtsmann und Elf sich in den Schatten der seitlichen Hauswand duckten, ging an der Vorderseite des Hauses die Tür auf. Eine Frau trat ins Freie und sah sich aufmerksam um.
„Und?“, erklang eine gelangweilte Männerstimme aus dem Inneren.
„Falscher Alarm, Harro liegt friedlich in seiner Hütte.“ Die Frau verschwand wieder und schloss die Tür hinter sich. Harro konnte es nicht fassen. Sah denn keiner was hier los war? Dafür atmete der Weihnachtsmann erleichtert auf. „Das war knapp“, gab er zu und schritt zur Rückseite des Hauses. Ruphus folgte ihm amüsiert. „Also weiter im Text. Ich muß da oben hinein.“ Mit dem Finger wies der Weihnachtsmann auf die bemalte Scheibe, hinter der noch immer der Bär thronte. Sein Blick schien zu sagen: Hier kommst du nicht rein.
„Gut, dass Ihr so durchtrainiert seid“, spottete Ruphus mit einem bezeichnenden Blick auf den immensen Bauch des Weihnachtsmannes, der sein Wams bedenklich spannte.
„Das macht eine Woche Rentierstriegeln extra“, knurrte der Weihnachtsmann beleidigt und begab sich auf die Suche nach einer einfacheren Zutrittsmöglichkeit. Irgendwie würde er schon in dieses Haus kommen. Er spürte, dass die kleine Tina ihn brauchte. Viele Wünsche von Kindern gingen ihm im Laufe eines Jahres auf geheimnisvolle Weise zu. Doch leider wünschten sich diese, sehr zum Mißfallen des Weihnachtsmannes, nur Spiele für ihre Computer oder Spielekonsolen, bei denen regelmäßig ganze Monsterhorden von einem degenerierten Helden unter Zuhilfenahme diverser Hypermegaüberkillwaffen vom Bildschirm gepustet wurden. Der Weihnachtsmann seufzte unbewußt. Wo war nur die Zeit geblieben, als er noch mit einer Holzeisenbahn aus seinem Rucksack ein Lächeln auf jedes Kindergesicht zaubern konnte? Vergangen, wie so vieles. Doch bei Tina war das anders, ganz anders. „Lieber Weihnachtsmann“, hatte sie ihren Wunsch begonnen, „ich wünsche mir nur zu wissen, dass es Minka im Katzenhimmel gut geht. Mehr nicht! Bitte, bitte sag mir, ob sie gut angekommen ist. Sie ist nämlich schon ein bißchen alt und sieht nicht mehr so gut. Ich wünsche mir nur, dass du ihr hilfst, falls sie sich auf dem Weg nach oben verflogen hat. Ich warte auf deine Antwort.“ Der Weihnachtsmann war gerührt und hatte Tinas Wunsch ganz oben auf die Liste gesetzt. Klar ging es Minka gut. Liebe Katzen kommen in den Himmel. Keine Frage! Und das würde er Tina mitteilen, außerdem hatte er da noch etwas in seinem Sack, das sie vielleicht ein wenig trösten würde.
„Und, schon eine Möglichkeit gefunden“, riß Ruphus ihn aus seinen Gedanken, "oder soll ich ein wenig nachhelfen?".
„Hier ist noch eine Tür“, erwiderte der Weihnachtsmann leise. Tatsächlich befand sich auf der Rückseite des Hauses eine weitere Tür, hinter der sich eine strahlend hell erleuchtete Küche im Landhausstil verbarg. Wie sie von da allerdings unerkannt ins Zimmer der kleinen Tina gelangen sollten, blieb vorerst ein Rätsel. Dafür tat sich ein neues Problem auf. Während der Weihnachtsmann noch nachdenklich vor der hell erleuchteten Küchentür stand, öffnete sich diese plötzlich von selbst, und im Türrahmen erschien ein kräftig gebauter Mann.
„Da sind Sie ja. Wurde auch langsam Zeit“, begrüßte er den verdutzten Weihnachtsmann. „Na wenigstens haben Sie das mit der Hintertür nicht vergessen. Aber wer ist das?“ Mit erstauntem Gesichtsausdruck deutete er auf Ruphus, der seine spitzen Ohren unter seiner Wollmütze verschwinden ließ.
„Gestatten, Ruphus, Weihnachtself“, stellte er sich vor.
„Ich habe nur einen Mann bestellt und werde auch nur für einen bezahlen“, knurrte Michael unfreundlich zurück.
„Oh, der ist umsonst“, wiegelte der Weihnachtsmann, der allmählich seine Fassung wieder zurück erlangte, ab.
„Na schön, dann kommt rein.“ Michael trat zur Seite und machte eine auffordernde Handbewegung. Zögernd leisteten Weihnachtsmann und Elf der Einladung Folge. Erfreut stellten sie fest, dass es in der Küche wie in ihrer heimischen Weihnachtsbäckerei am Nordpol roch. Auf der Arbeitsplatte standen fein säuberlich aufgereiht diverse Schüsseln mit selbst gebackenen Keksen, und im Ofen brutzelte irgendetwas vor sich hin, das Ruphus das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
„Die Maske ist gut“, stellte Michael nüchtern fest, nachdem er den Weihnachtsmann näher in Augenschein genommen hatte. „Sie könnten glatt für hundert Jahre durchgehen.“
„Danke“, erwiderte der Weihnachtsmann erfreut. „Sport lohnt sich eben doch.“
Michael sah ihn daraufhin mißtrauisch an. „Sie haben doch nichts getrunken?“
Weihnachtsmann und Elf schüttelten demonstrativ den Kopf. Erst jetzt fiel Michael der zerfledderte Ärmel des Weihnachtsmannes auf, der seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war. „Was ist denn damit passiert?“, fragte er irritiert. Verlegen versuchte der Weihnachtsmann seinen Ärmel hinter dem Rücken zu verbergen.
„Motten“, half Ruphus dem Weihnachtsmann mit einer Erklärung aus der Patsche.
„Ganz schön gefräßig“, stellte Michael beeindruckt fest.
„Oh ja, besonders die eine Plage hatte ziemlich große Zähne.“ Der Weihnachtsmann nickte bestätigend bei der Erinnerung an Harro, den Hofhund.
„Wann werde ich je erleben, dass die uns einmal einen vernünftigen Mann schicken?“ Michael seufzte, worauf der Weihnachtsmann beleidigt das Gesicht verzog. „Na schön, das ist jetzt nicht zu ändern“, fuhr Michael fort. „Nehmen Sie Platz, ich erkläre Ihnen gleich, was Sie tun sollen, doch zuerst muß ich dafür sorgen, dass wir nicht gestört werden. Dauert nicht lange.“ Ohne ein weiteres Wort verschwand er durch die Küchentür und ließ einen verdutzten Weihnachtsmann nebst Elf zurück.
„Wie meint er das? Er erklärt uns, was wir tun sollen?“, fragte der Weihnachtsmann irritiert, während sie sich in die kleine, halbrunde Eßecke, die an der Stirnseite der Küche halb unter dem gemütlichen Küchenfenster stand, zwängten. Er war ja schon eine ganze Weile im Amt, aber so eine Behandlung war ihm noch nicht untergekommen.
„Ich schätze, er verwechselt uns mit jemanden“, spekulierte Ruphus, während er sehnsüchtig die Keksschalen ins Auge fasste.
„Wie kann man mich verwechseln? Sehe ich vielleicht aus wie der Osterhase?“, fauchte der Weihnachtsmann empört.
„Naja, wenn man da etwas mit den Ohren machen würde...“
„Ruphus!“
„Schon gut, ich denke, er hält Euch für einen Mietstudenten, der den Weihnachtsmann spielen soll“, klärte Ruphus ihn auf.
„Oh..“
„Tja, ich schätze, wir bekommen ein ernstes Problem, wenn der echte Miet-Weihnachtsmann hier auftaucht. Vielleicht sollten wir besser wieder verschwinden.“
„Nicht bevor ich die kleine Tina glücklich gemacht habe“, erwiderte der Weihnachtsmann entschlossen. Liebevoll tätschelte er den großen Sack, aus dem zu Ruphus Erstaunen ein klägliches Miauen ertönte. Doch er zuckte nur die Achseln. Was das Beschenken anging, duldete der Weihnachtsmann keine Kritik. Dafür stellte Ruphus etwas anderes fest.
„Hier ist nicht nur Tina unglücklich“, bemerkte er, wobei er sich durch einen großen Haufen Papier wühlte, der plötzlich mitten auf dem Tisch wie von Zauberhand erschienen war. „Ihre Bewerbung“ war auf vielen der Schreiben zu lesen, andere trugen die Überschrift „Letzte Mahnung“.
„Laß das sofort wieder verschwinden“, fauchte der Weihnachtsmann erschrocken.
„Das auch?“ In der Hand hielt Ruphus einen zerfledderten Reiseführer über Paris. Neben dem Bild des Eiffelturms, der die Titelseite schmückte, war handschriftlich notiert „Hochzeitstag in Paris?“ Weiter unten befand sich eine weitere Notiz. „Wahrscheinlich nicht, schade“, war dort zu lesen.
„Scheint so, als ob es hier noch ein wenig mehr Arbeit zu erledigen gibt“, seufzte der Weihnachtsmann. Ruphus nickte kurz, und die Ansammlung von Post nebst Reiseführer verschwand auf genauso wunderliche Weise, wie sie erschienen war. Gerade noch rechtzeitig, denn just in diesem Moment öffnete sich die Küchentür, und Michael kehrte zurück, gefolgt von seiner Frau.
„Frohe Weihnacht“, begrüßte Maren den Weihnachtsmann nebst Begleitung, die auf sie einen erschrockenen Eindruck machten, so als hätte man sie beinahe bei etwas erwischt. Ihr Blick streifte besorgt den großen Sack der auf dem Boden stand, doch eine kurze Inspektion der Küche lieferte keinen Anhaltspunkt dafür, dass etwas fehlte. Selbst die Kekse sahen noch vollzählig aus.
„Frohe Weihnacht“, erwiderte der Weihnachtsmann mit tiefer Stimme. „Und was wünscht du dir zur Weihnachten, Maren?“
„Sie wünscht sich nichts! Und hören Sie auf, uns mit dem Vornamen anzureden“, erwiderte Michael. Der Weihnachtsmann sah plötzlich verärgert aus.
„Du bist sehr unfreundlich, Michael! Außerdem stimmt das nicht. Deine Frau hat sehr wohl einen Wunsch. Habe ich Recht?“ Auffordernd sah der Weihnachtsmann Maren an, die rot anlief.
„Nun ja, eigentlich schon, aber dieses Jahr wollen wir darauf verzichten“, brachte sie zögernd hervor.
„Aber Schatz, ich dachte..“
„Sie wünscht sich eine Reise nach Paris, zum Hochzeitstag, ist doch nicht schwer zu erraten“, warf Ruphus lässig ein. Verwirrt irrte der Michaels Blick zwischen Weihnachtsmann, Elf und seiner Frau hin und her.
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Das würde mich auch interessieren?“, hakte Maren nach. Der Weihnachtsmann lächelte sie gutmütig an.
„Du hast es dir doch gewünscht, und alle Wünsche gehen auf verschlungenen Pfaden dem Weihnachtsmann zu“, erklärte er.
„Jetzt verstehe ich.“ Liebevoll sah Maren Michael an. „Du hast es ihm verraten, um mich zu überraschen. Oh Hase, das war lieb von dir.“ Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Du hast doch an meinen Wunsch gedacht. Hast du schon gebucht?“
Michael fing an zu schwitzen. Er hatte das Gefühl, plötzlich in eine Bärenfalle getappt zu sein, aus der es kein Entkommen gab. „Nun..“, stotterte er, während er sich über das gutmütige Grinsen des Weihnachtsmanns ärgerte. „Ehrlich gesagt, habe ich nichts .....“ Das Klingeln der Türglocke rettete ihn vor einer Erklärung.
„Wer kann das sein?“, fragte Maren erstaunt.
„Ich schätze, ich habe da so eine Befürchtung“, seufzte Ruphus.

Vor der Tür wartete Thomas, Jura-Student im siebten Semster, in seinem schon leicht mitgenommenen Weihnachtsmannkostüm. Dies war nun schon sein neunter Auftritt für heute und dementsprechend motiviert war er. Die ersten zwei bis dreimal waren ja noch ganz lustig gewesen, doch spätestens beim vierten Mal hatte ihn der Job zu nerven begonnen. Wahrscheinlich würden ihn die Weihnachtslieder, die die Kinder ihm mit quietschenden Stimmen vorgesungen hatten, noch im nächsten Sommer verfolgen. Zum Glück hatte der eine oder andere Hausherr Mitleid gehabt und ihm gelegentlich etwas zum Trinken angeboten. Das hatte das Ganze ein wenig erträglicher gemacht. Er seufzte bei dem Gedanken, was ihn in diesem Haus wieder erwarten würde, während er erneut auf die Klingel drückte. Wollten die ihn hier erfrieren lassen? Dies war seine letzte Tour für heute, und er wollte endlich nach Hause! Gelegentlich warf er einen nervösen Blick auf die Hundehütte, in der ein beeindruckend großer Schäferhund lag. Doch zum Glück hatte der sich bisher nicht gerührt. Das Drehen des Schlüssels im Schloss der Haustür riß Thomas aus seinen Gedanken. Anscheinend hatte man ihn endlich gehört. Innerlich gab er sich einen Ruck, es war wieder Showtime.
„Ho, ho, ho, von draußen vom Walde komme ich her und .....“
„Das ist doch logisch, schließlich leben wir im Wald“, unterbrach Tina, die als Erste zur Tür gerannt und diese geöffnet hatte, Thomas Vortrag. Der war verblüfft. „Ähh, ja, da ist was dran“, stotterte er. „Also, Kleine, kann ich mal deine Eltern sprechen.“
„Wo ist denn dein Rentierschlitten?“ Neugierig sah Tina sich im Garten um, doch alles was sie entdeckte war ein betagter VW-Golf, der vor ihrer Gartentür parkte. Thomas seufzte. Wieder so ein Kind, das ihn mit Fragen quälte. „In der Inspektion“, erwiderte er sarkastisch. „Hör mal, ich würde jetzt wirklich gerne deine Eltern sprechen.“ Tina sah ihn mißtrauisch an. Dieser Weihnachtsmann entsprach so gar nicht den Bildern aus ihren Büchern. So weit sie sich erinnern konnte, trug der Weihnachtsmann auch keine ausgetretenen Turnschuhe und Jeans unter seinem roten Mantel. „Du bist gar nicht der Weihnachtsmann“, stellte sie energisch fest.
„Bin ich doch, und ich habe sogar eine große Rute mitgebracht“, knurrte Thomas verärgert, dem allmählich klar wurde, dass er sich von seinem Honorar verabschieden konnte, wenn es ihm nicht gelingen sollte, seine Rolle überzeugend zu spielen. Und im Augenblick sah es nicht so aus, als würde ihm das gelingen.
„Wenn du der Weihnachtsmann bist, dann weißt du auch, was ich mir gewünscht habe“, gab Tina ihm eine letzte Chance. Hoffnungsvoll sah sie zu ihm auf. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt und dies war wirklich der Weihnachtsmann.
„Na klar, jede Menge Spielzeug“, bluffte Thomas aufs Geratewohl.
„Falsch!“
„Hey, mach die Tür wieder auf!“ Ein dumpfes Klopfen ertönte, das Tina jedoch unbeeindruckt ließ. Im Eilschritt lief sie den Flur entlang und dann die Treppe hinauf. Beinahe hätte sie dabei zum zweiten Mal an diesem Abend ihren Vater überrannt, der gerade aus der Küchentür trat.
„Wer war denn an der Tür?“, rief er seiner Tochter hinterher.
„Ein Betrüger“, schallte es von oben zurück, gefolgt von einem lauten Knallen einer Zimmertür. Michael zuckte die Achseln. Heute war wirklich ein verrückter Tag. „Ja, ja, ich komme ja schon“, rief er, als erneut das ungeduldige Klingeln an der Haustür ertönte.
„Ho, ho, ho, von draußen vom Walde komme ich...“, setzte Thomas zu einem zweiten Versuch an, doch auch diesmal schaffte er es nicht, seinen Vortrag zu Ende zu bringen.
„Was wollen Sie denn hier?“, fragte Michael beim Anblick des schlecht verkleideten Studenten, der über eine beachtliche Alkoholfahne verfügte, erstaunt. Der ließ resigniert die Schultern hängen. Entweder hatte sich die gesamte Hausgemeinschaft gegen ihn verschworen oder er war Opfer der versteckten Kamera geworden.
„Ihnen den neuen Hyper-Turbo-Staubsauger mit wieder verwendbarem Jutestaubsack andrehen“, brummte er, wobei er Michael seinen Weihnachtssack unter die Nase hielt. „Ich hoffe, ihnen gefällt die Ausführung. Den Besen gibt es gratis dazu.“

In der Küche versuchten inzwischen der Weihnachtsmann und Ruphus verzweifelt mitzubekommen, was draußen an der Tür passierte. Doch angesichts des Umstandes, dass Maren ihnen begeistert von Paris vor schwärmte, erwies sich das als aussichtslos. Ein plötzlicher Ruf Michaels unterbrach ihren Vortrag.
„Schatz, kommst du bitte mal. Hier stimmt etwas nicht.“
„Sie entschuldigen mich, ich bin gleich wieder da.“ Maren verschwand aus der Küche.
„Jetzt sitzen wir in der Falle.“ Der Weihnachtsmann seufzte. Ruphus legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.
„Keine Sorge, mir fällt schon etwas ein. Wozu kann ich schließlich zaubern?“

Tina lag tief enttäuscht auf ihrem Bett, das Gesicht im Kissen vergraben. Was würde der Weihnachtsmann wohl dazu sagen, wenn er von diesem Betrüger wüßte?, fragte sie sich, als eine tiefe Stimme sie erschrocken hoch fahren ließ.
„Na, wer wird denn am Weihnachtsabend weinen?“
„Bist du der echte Weihnachtsmann?“, flüsterte Tina beim Anblick des weißbärtigen, gütig wirkenden Mannes in dem roten Anzug, wobei sie Ruphus argwöhnisch betrachtete. Ihr war schleierhaft, wie die beiden so plötzlich in ihrem Zimmer auftauchen konnten. Fast kam es ihr vor, als sei hier Zauberei im Spiel. Der Weihnachtsmann bückte sich zu ihr hinunter und strich ihr liebevoll über das Haar.
„Ja, ich bin der einzig wahre Weihnachtsmann, und das ist mein Gehilfe Ruphus. Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Habe ich auch nicht“, erwiderte Tina trotzig, obwohl ihre Stimme ein wenig zitterte. „Aber wenn du der echte Weihnachtsmann bist, dann weißt du auch, was ich mir gewünscht habe.“
Der Weihnachtsmann nickte und öffnete seinen Sack. Tinas Augen wurden groß, als sie sah, was der Weihnachtsmann vorsichtig zutage förderte. Eine kleine, schwarz weiß gemusterte Katze. „Minka läßt dich übrigens grüßen. Es geht ihr gut im Katzenhimmel, und sie hofft, dass du auf diese Kleine hier aufpassen wirst. Bekommst du das hin?“
Tina nickte stumm, während eine einzelne Träne über ihre Wange lief.
„Danke“, flüsterte sie leise, dann sah sie den Weihnachtsmann ehrfürchtig an. „Du bist wirklich echt!“, staunte sie. Der Weihnachtsmann schmunzelte. „Oh ja, das bin ich, aber nun muß ich wieder los.“ Nervös sah er zu Ruphus hinüber. „Hol den Schlitten. Und laß dir etwas für diesen falschen Weihnachtsmann einfallen, damit wir Zeit gewinnen.“
„Schon geschehen“, antwortete Ruphus amüsiert.

In seiner Hütte stellte Harro begeistert fest, dass er die Kontrolle über seine Gliedmaßen zurückbekommen hatte. Nun war es an der Zeit, den Eindringlingen zu zeigen, wer der Hund auf diesem Hof war. Sein Blick fiel auf den Mann in dem lächerlichen roten Kostüm, der sich heftig mit seinen Leuten stritt. Er sah zwar mit seinem weißen Bart aus wie ein alter Mann, aber Harro konnte riechen, dass das nicht stimmte. Der Mann war ein Betrüger, und Harro mochte keine Betrüger. Er hatte schon so eine Vorstellung, wie er sich dem Unbekannten vorstellen würde. In froher Erwartung zog er die Lefzen zurück, so dass sich das Mondlicht auf seinen Zähnen spiegelte. Für einen kurzen Augenblick zögerte er und hob irritiert den Kopf. War da nicht eben etwas Großes lautlos zur anderen Seite des Hauses hinüber geflogen? Ein Schlitten, der von seltsamen Tieren gezogen wurde? Argwöhnisch musterte er den Himmel, an dem jedoch nur der Mond in einem Meer aus lauter kleinen Wolken schwamm. Unwillig schüttelte Harro den Kopf. Jetzt litt er schon unter Wahnvorstellungen. Es war an der Zeit, sich auf das zu konzentrieren, was er vor der Schnauze hatte, und das leuchtete verlockend rot. Harro setzte sich leise in Bewegung.

„Toll, ein echter Rentierschlitten, und er kann fliegen.“ Tina war begeistert. „Nehmt ihr mich mit?“, fragte sie den Weihnachtsmann, der gerade dabei war, mit der Hilfe von Ruphus durch das geöffnete Fenster auf den Schlitten zu klettern. Die Augen des Stoffbären, der bei diesem Manöver wie zufällig von der Fensterbank gefallen war, schienen zu sagen: Das schaffst du nie.
„Das geht leider nicht“, ächzte der Weihnachtsmann, während er einen halsbrecherischen Spagat zwischen Fensterbank und Schlittenkufe zu Wege brachte, der jeden Stuntman vor Neid hätte erblassen lassen. „Noch mehr Gewicht verträgt der Schlitten nicht.“

Auf der anderen Seite des Hauses ging es inzwischen lautstark zu.
„Sie verschwinden jetzt von unserem Grundstück. Ein betrunkener Student, der dazu noch meine Tochter verängstigt hat, kommt uns nicht ins Haus“, fauchte Maren wütend.
„Nicht ohne mein Geld. Wir haben einen Vertrag.“
„Das können Sie mit Harro aushandeln.“
„Wer ist Harro?“
Statt zu antworten, wies Michael nur lässig auf etwas oder jemanden hinter Thomas. Ein tiefes Knurren, das plötzlich hinter seinem Rücken ertönte, ließ Thomas schlucken.
„Ärgern Sie ihn nicht zu sehr, er ist sehr sensibel“, spottete Maren.
„Warten Sie, ich..“, setzte Thomas an und brach ab, als er sich unvermittelt der geschlossenen Tür gegenüber sah.

„Meinst du, Harro wird ihm etwas antun?“, fragte Maren mit leichter Besorgnis in der Stimme. Immerhin war Weihnachten, da sollte man Milde walten lassen. Michael winkte beschwichtigend ab.
„Ach was, er wird ihn nur ein wenig durch den Garten jagen, wie er es immer mit dem Postboten macht. Das schadet nicht und ist gut für die Fitness. Er wird uns dankbar sein.“ Ein lautes Bellen, gefolgt von einem heftigen Fluchen, ließ Michael aufhorchen. Dann ertönte das laute Klappen der Gartentür, und einen Augenblick später heulte ein altersschwacher VW-Golf Motor auf. Dem Tempo nach zu urteilen, mit dem er leiser wurde, hatte der Fahrer es eilig, Distanz zwischen sich und dieses Haus zu bringen. „Siehst du, er hat es geschafft.“
„Oder Harro fährt den Wagen und jagt ihn jetzt den Berg hinunter.“
Michael lachte. „Nette Idee, aber jetzt würde ich zu gerne wissen, wo dieser Weihnachtsmann in unserer Küche herkommt. Der kam mir gleich ein wenig suspekt vor.“ Energisch schritt Michael den Flur hinunter, öffnete die Küchentür und blieb verblüfft stehen. „Er ist verschwunden“, stellte er erstaunt fest.
„Wo ist er hin?“
„Keine Ahnung, vielleicht füllt er gerade seinen Sack mit unserer Stereoanlage.“
„Dann sollten wir ihn schleunigst finden.“

Eine Etage höher hatte der Weihnachtsmann inzwischen das Wunder vollbracht, sicher auf dem Schlitten zu landen. Der hatte zwar bedenklich geschwankt, so dass Tina erschrocken die Luft angehalten hatte, aber letztlich war nichts weiter passiert.
„Auf Wiedersehen lieber Weihnachtsmann.“
„Auf Wiedersehen Tina, und paß gut auf die Kleine auf“, erwiderte er und wies auf die Katze, die es sich auf Tinas Armen gemütlich gemacht hatte. Sie sah mindestens so glücklich aus wie Tina.
„Ach ja, da wäre noch etwas“, bemerkte Ruphus, der aus seinem grünen Umhang ein offiziell aussehendes Schreiben hervor zog. „Gib das deinem Vater und sag ihm, ich hätte den Brief vorhin auf dem Weg gefunden. Wahrscheinlich hat er ihn verloren. Vergiss das bitte nicht, es ist wichtig.“
Tina nickte stumm und nahm den Brief entgegen, der auf wundersame Weise vom Schlitten ins Zimmer hinüber geschwebt war.
„Und nun leb wohl.“
„Auf Wiedersehen“, rief Tina, „bis zum nächsten Jahr“, dann verschwand der Schlitten wie ein Gespenst in der Nacht.

„Den Brief hast du doch nicht wirklich gefunden“, stellte der Weihnachtsmann fest.
„Sagen wir, ich habe ein wenig nachgeholfen, außerdem habe ich noch eine kleine Überraschung vorbereitet“, erwiderte Ruphus mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Der Weihnachtsmann schnaufte gutmütig. „Ich sehe schon, in ein paar hundert Jahren trägst du einen langen weißen Bart und machst meinen Job.“
„Tja, wer weiß, möglich ist alles. Vielleicht sollte ich meine Berufsplanung noch einmal überdenken“, bemerkte Ruphus, worauf beide in ein so herzhaftes Gelächter ausbrachen, dass die Rentiere beinahe vom Kurs abgekommen wären. „Na dann wollen wir mal sehen, was uns als nächstes erwartet.“

„Was machst du denn da?“ Erstaunt betrachtete Maren ihre kleine Tochter, die vor dem offenen Fenster stand und in den Himmel starrte. Erst jetzt entdeckte sie, dass Tina etwas auf dem Arm trug. „Und wo kommt die Katze her?“
„Die hat mir der Weihnachtsmann geschenkt, und er hat gesagt, dass es Minka gut geht. Ist das nicht toll?“
„Ja, das ist toll, mein Schatz. Michael, kommst du mal, ich glaube, sie sind hier hinaus.“ Vorsichtig ging Maren zum Fenster hinüber und spähte in den Garten hinab, doch da war nichts zu sehen.
„Kannst du etwas entdecken? Hey, Tina, wo kommt denn die Katze her?“
„Hat sie vom Weihnachtsmann“, erwiderte Maren an Tinas Stelle.
„Und das hat mir der Weihnachtself für dich gegeben. Er hat es gefunden.“
„Zeig mal her.“ Erstaunt nahm Michael seiner Tochter den Brief ab, öffnete ihn und begann zu lesen. Maren, die inzwischen das Fenster schloss, warf ihm einen besorgten Blick zu. So einen Gesichtsausdruck hatte sie bei ihrem Mann schon lange nicht mehr gesehen. „Was steht denn da drin?“, wollte sie wissen.
„Das glaubst du nicht!“ Michael jubelte begeistert, worauf die Katze verängstigt von Tinas Armen sprang und sich unter einem Stuhl versteckte. „Ich habe einen neuen Job!“
„Was?“ Aufgeregt rannte Maren zu Michael hinüber und riß ihm den Brief aus der Hand. Ihre Augen flogen über den Text. „Tatsächlich“, stellte sie ungläubig fest. „Das ist ein Wunder.“ Als hätten sie den gleichen Gedanken gehabt, fuhren ihre Köpfe zum Fenster hinüber, wo angeblich der Weihnachtsmann verschwunden war.
„Glaubst du ..?“, fragte Maren zögernd.
„Ehrlich gesagt ....“ Michael stockte. Seine Welt war mit einem Mal ins Wanken geraten. Hatte er etwa wirklich den Weihnachtsmann in seine Küche geschleppt? Tinas Blick irrte zwischen ihren Eltern hin und her. Konnte das sein, dass die etwa nicht an den Weihnachtsmann glaubten? Energisch stampfte sie mit dem Fuß auf.
„Natürlich war das der Weihnachtsmann!“, stellte sie kategorisch fest.
Michael nickte, bückte sich und hob die kleine Katze auf, die noch immer unter dem Stuhl hockte. Er sah fragend zu Maren hinüber, die unbemerkt von Tina ihre Zustimmung signalisierte, dann wandte er sich seiner Tochter zu. „Natürlich war das der Weihnachtsmann“, sagte er und stellte erstaunt fest, dass er selbst ein wenig daran glaubte, „und einen neuen Hausbewohner hat er uns auch noch gebracht. Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Und nach Paris kommen wir auch noch.“ Liebevoll zwinkerte er seiner Frau zu.

Harro hatte inzwischen seine Posten am Gartentor aufgegeben. Er bezweifelte, dass sein Opfer noch einmal zurückkehren würde. Das war schade, denn es hatte Spaß gemacht, den Fremden durch den Garten zu jagen. Während er zurück zu seiner Hütte trottete, meldeten sein feines Gehör ihm, dass seine Leute etwas taten, was sie als Singen bezeichneten und Harro regelmäßig in den Ohren weh tat. Doch da sie immer nur dann sangen, wenn sie glücklich waren, nahm Harro es gelassen hin. Wenigstens ging es seinen Leuten gut. Plötzlich jedoch stieg ihm der Geruch von Gebratenem in die Nase. Verblüfft blieb er stehen und hob witternd die Nase. Kein Zweifel! Der Geruch kam direkt von seiner Hütte. Begeistert rannte er hinüber und stellte verblüfft fest, dass sich sein Trockenfutter in einen riesigen Haufen seiner Lieblingsfleischstücke verwandelt hatte. Der große Weihnachtshund hatte ihm also doch nicht vergessen. Einen Augenblick zögerte er noch, hineinzubeißen, da ihm die Sache nicht geheuer vorkam, doch dann überwand er seine Scheu. Schließlich lautete seine Devise, man nahm, was man vor die Schnauze bekam.


Ende

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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