Eva Markert

Milch und Blut

In dieser Winternacht war das Dorf wie ausgestorben. Arglos schliefen die Häuser, warm zugedeckt unter einer dicken weichen Schneedecke. Auch der schwarze Himmel hatte all seine funkelnden Augen geschlossen.

Doch von Norden her nahte Unheil.

Eine altmodische Straßenlaterne stand vor dem kleinen Haus zwischen der Bäckerei und der Dorfkneipe. Ihr trübes Licht fiel durch die einzigen Fensterläden in dieser Straße, die geöffnet waren.

Der Schlitten war nicht mehr weit von dem Ort entfernt. Kein fröhliches Geläut war zu hören, denn die Glöckchen hatten schon lange keine Klöppel mehr. Ab und zu schnaubte eins der Zugtiere verächtlich.

In der Wohnstube war es grabesstill. Der kleine Junge stand bewegungslos hinter dem roten Samtvorhang. Er wartete.

Der Schlitten kam vom Nordpol. Pfeilschnell flog er über den Schnee.

Der Junge lugte hinter dem Vorhang hervor. Auf dem Tisch in der Mitte der Stube stand ein Teller mit Keksen und daneben ein Glas Milch.

Der Kutscher des Schlittens hatte es eilig. Ungeduldig peitschte er seine Rentiere voran. Es war schon recht spät und er musste noch schnell das kleine Haus zwischen der Bäckerei und der Kneipe erreichen. Es war das letzte auf seiner Liste.

Dieses Jahr würde der Junge es herausfinden. Er wollte wissen, wie die Geschenke in den Strumpf kamen, den er jedes Jahr neben dem Kamin aufhängte. War es wirklich der Weihnachtsmann, der sie brachte?

Lautlos hielt der Schlitten hinter dem Haus. Der Kutscher sprang herunter.

Das Warten hatte den kleinen Jungen müde gemacht. Mit dem Kopf auf den Knien kauerte er hinter dem Vorhang und atmete tief und gleichmäßig.

Auf dem Dach knirschte es leise. Im fahlen Widerschein des Schnees war neben dem Schornstein eine rotgekleidete Gestalt zu erkennen. Rot – die Tarnfarbe, die Blut verschluckte.

Der kleine Junge schlief ganz tief. Er träumte von einem zerrissenen Strumpf und von Milch, die sich blutrot färbte. Unruhig bewegte er sich im Schlaf.

Der beleibte Mann kletterte behände den Kamin hinunter. Zwar fühlte er sich matt, doch der quälende Durst trieb ihn vorwärts. Wie er gierte, wie er lechzte nach dem Saft! Er holte sich sein Lebenselixier regelmäßig, am Ende einer jeden Reise. Er musste es tun, seit er einen Winter lang gedient hatte in dem alten östlichen Land jenseits der Wälder, wo der ortsansässige Weihnachtsmann spurlos verschwunden war.

Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Boden des Kamins. Der kleine Junge fuhr aus seinem Schlummer hoch.

Ächzend kletterte der Mann heraus, nahm den Jutesack von seinem Rücken und klopfte sich seinen roten Mantel ab.

Vorsichtig schob der Junge den schweren Vorhang ein wenig beiseite. Im Halbdunkel der Stube konnte er eine mächtige Gestalt erahnen. Der kleine Junge bekam plötzlich Angst. Würde Santa Claus böse werden, wenn er ihn hier entdeckte?

Der Weihnachtsmann drehte seinen Kopf in alle Richtungen. Dabei machte er leise, schnüffelnde Geräusche. Er sah aus wie ein Tier, das eine Witterung aufnahm.

Noch während der Junge sich darüber wunderte, hörte er eine kehlige Stimme: „Ich rieche dich.“

Er hielt den Atem an.

Die dunkle Gestalt tat einen Schritt auf den Vorhang zu. „Ich weiß, dass du da bist.“

Der Junge rührte sich nicht.

„Komm, mein Kind, komm her zu mir!“

Doch der Junge stand wie gelähmt.

„Hilf mir, liebes Kind, ich habe Durst!“

Jetzt begann der Junge zu zittern.

„Zeig dich sofort, oder ich hole dich!“

Da trat der Junge hervor. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Zögernd streckte er seinen dünnen Zeigefinger aus. „Da steht Milch, wenn du magst“, flüsterte er mit bebender Stimme.

Santas weißer Bart leuchtete grell im Licht der Straßenlaterne, und sein Mund war wie ein dunkles Loch. „Ho ho ho ho!“, lachte er. „Da steht also Milch. Ho ho ho ho!” Dabei fletschte er die Zähne. Deutlich konnte der Junge seine kräftigen Fänge erkennen.

“Da sind auch Kekse, wenn du Hunger hast.”

„Ja, ich habe Hunger“, stieß Santa heiser hervor, und seine Augen glommen bernsteinfarben. „Großen Hunger sogar – und Durst.“

Damit stürzte er sich auf das Kind.

Der Junge schrak zusammen, als der Stuhl umfiel. Das eine Ende der Schnur war um ein Stuhlbein geknotet und das andere am Fuß des Schrankes befestigt.

Santa stieß einen Wutschrei aus, als er fiel. Gleichzeitig hörte man ein hässlich berstendes Geräusch.

„Das – das habe ich nicht gewollt“, stammelte der Junge. „Ich wollte nur, dass du ein bisschen stolperst. Damit ich aufwache, falls ich schlafe.“

Stöhnend versuchte Santa Claus sich aufzurichten, aber er brach sofort wieder zusammen. Unschlüssig stand der Junge da.

Santa begann, mühsam auf ihn zuzukriechen. Ein Bein zog er hinter sich her. Doch bei jeder Bewegung schien er an Kraft zu gewinnen. Wie gebannt starrte der Junge in die Abgründe seiner seelenlosen Raubtieraugen. Als Santa Claus ihn schon fast mit der Hand berühren konnte, befreite er sich aus seiner Erstarrung. Sein Blick suchte etwas neben dem Kamin. In weitem Bogen lief er um den Weihnachtsmann herum, ergriff den eisernen Schürhaken und schlug ihn Santa über den Schädel.

Voll Furcht betrachtete der Junge die Gestalt, die reglos am Boden lag. Dann rannte er hinaus und schloss die Tür zur Wohnstube hinter sich ab.

Er weckte seine Eltern. „Du hast geträumt“, sagten sie. „Geh wieder ins Bett und schlaf weiter.“

Aber der Junge konnte nicht mehr schlafen. Er stand am Fenster und sah zum Himmel hinauf, dessen Schwarz allmählich verblutete. Im Osten zeigte sich ein schmaler roter Streifen. Als die Sonne aufging, glaubte der Junge einen Rentierschlitten zu erkennen, der über den rötlich glitzernden Schnee am Haus vorbeiglitt und entschwand.

Der Tag hatte begonnen.

Die Eltern des kleinen Jungen wunderten sich über den Jutesack, der vor dem Kamin stand. Und ein wenig wunderten sie sich auch über das Häufchen Staub mitten in der Wohnstube.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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