Dichte große Schneeflocken
verzauberten das Leben in eine Märchenwelt. Die Kinder im Dorf
nutzten die Gunst der Stunde und beschlossen, einen ganz großen
Schneemann zu bauen, größer als all die Jahre zuvor.
Freudig stapften sie an den Waldesrand vor die hohen Tannen. Man sah
rotbäckige Kinder, wie sie fleißig Schnee zu Kugeln
rollten. Diese stapelten die großen Helfer aufeinander und
formten sie zu einer Riesenkugel. Zwischendurch ließ der dichte
Schneefall etwas nach und das bisherige Werk konnte begutachtet
werden.
"Höher kommen wir jetzt nicht
mehr, wir brauchen eine Leiter! Wer holt eine von zuhause?", rief
Peter in die Runde.
"Bin schon unterwegs", sagte
Florian und spurtete davon.
Sie nutzten die Wartezeit für
weitere Überlegungen, denn ein richtiger Schneemann brauchte ja
einen großen Schal, eine Mütze, eine Möhre für
die Nase, zwei Eierkohlen für die Augen, gebogene Stöckchen
für den Mund und einen Besen für den Arm. Fast jedes der
Kinder lief nach Hause und brachte die notwendigen Utensilien mit
zurück. Jetzt konnte auch der Bau weitergehen und kleinere
Schneekugeln wurden herangeschafft und hinaufgereicht. Es dauerte
nicht lange und der heißersehnte Schneemann war fertig. Lustig
sah er aus und schien zu den Kindern hinunter zu lächeln.
Die kleine Gundi rief ganz aufgeregt: "
Seht nur, der Schneemann lacht mich an und wackelt mit der Nase!".
"Ja, ja der blinzelt auch mit den
Augen und streckt gleich noch die Zunge raus", fügte ihr
größerer Bruder hinzu.
Es dunkelte bereits, als sie sich wie
pitschenasse Pudel auf den Heimweg machten. Peters Mutter öffnete
die Tür und man hörte sie verzweifelt sagen:
"Peter, wo kommst du schon wieder so
naß her! Jetzt habe ich keine trockenen Hosen mehr für
dich!" und zog ihn ins Zimmer.
"Natürlich von draußen!",
murmelte der Großvater verständnisvoll und zwinkerte Peter
zu.
Der Tag der Wintersonnenwende stand vor
der Tür. Ein recht alter Weihnachtsmann aus dem Nachbarsdorf,
dem das Laufen schon schwerfiel, hatte sich nach altem Brauch auf den
Weg zu den Kindern gemacht, um sie zu beschenken. Es war sehr dunkel
und nur der Mond brachte etwas Licht. Mißmutig brummelte er
vor sich hin: "Mit dem Kinderkram wird mir das langsam zu viel!
Keiner will mein Nachfolger werden. Weil sie alle keine Zeit haben,
angeblich."
Als er schließlich den Waldrand
erreichte, entdeckte er von weitem schon den ungewöhnlich großen
Schneemann. Stapfend kam er ihm immer näher und näher. Dann
geschah es. Er stolperte über eine dicke Baumwurzel und landete
lang vor dem Schneemann. Seine Rute und der schwere Sack flogen durch
die Luft und blieben in einiger Entfernung liegen. Sein Bein
schmerzte höllisch, vielleicht war es gebrochen.
"Aua, aua, Hilfe, Hilfe!" hallte es
durch die Nacht. Doch wer sollte ihn hier schon hören?
Plötzlich vernahm er eine
eigenartige Stimme: "Ich will dir gerne helfen. Rutsche dicht an
mich ran und atme kräftig gegen meinen Bauch. Nimm deine Hände
und höhle mich aus!"
Erschrocken schaute sich der
weihnachtlich angezogene alte Mann um, konnte aber keinen Menschen
erblicken. Noch einmal hörte er die selben Worte und sah nach
oben in das Gesicht des Schneemannes, der zu lächeln schien. So
seltsam ihm die Situation auch vorkam, gehorchte er doch den
Anweisungen des Schneemannes. Die Höhle im Bauch des
Schneemannes wurde zusehends größer. Trotz der Schmerzen
grub er sich immer weiter in das Innere, als er über sich wieder
die eigenartige Stimme sagen hörte: "Mach so weiter, dann
wirst du auch nicht erfrieren!".
Verängstigt machte er weiter und
schließlich gelang es ihm, sich hineinzuzwängen und
schlief bald darauf vor Erschöpfung ein.
Die rote Morgensonne weckte den
Verletzten und dieser drehte sich mit all seinen noch vorhandenen
Kräften aus seiner mißlichen unbequemen Lage zur Öffnung
hin.
"Wo bin ich denn!" staunte er und
rieb sich verwundert die Augen.
"Hilfe, Hilfe!", stöhnte er
und sein Rufen wurde immer lauter.
"Du hast schon Hilfe bekommen!"
sagte die Stimme von oben, "sonst wärst du erfroren!".
Sein Herz fing laut an zu pochen und
sein schlechtes Gewissen wurde im Gesicht sichtbar, denn ihm kamen
all die Kinder in den Sinn, die auf ihn gewartet hatten.
Während er die Nacht im Bauch des
Schneemannes verbrachte, entstand im Ort große Unruhe. Man sah
Menschen aufgeregt von einem Haus zum anderen huschen. Fenster und
Häuser waren hell erleuchtet und festlich geschmückt, doch
Freude kam nicht auf. Keiner wußte, warum der Weihnachtsmann
nicht zu den Kindern kam. Schließlich standen Groß und
Klein auf den Straßen und Peters Vater rief in die Menge:
"Dem Weihnachtsmann wird doch nichts
passiert sein?".
Ein anderer sagte mit kräftiger
Stimme: "Ich glaube schon, denn er ist schon alt. Ihr Kinder geht
jetzt nach Hause und legt Euch schlafen und wir werden nach ihm
suchen!".
Der Morgen graute schon, als der
Verletzte plötzlich in weiter Ferne Stimmen hörte, die
seinen Namen riefen.
"Hier bin ich! Hier oben am
Waldrand!", rief er so laut er konnte.
Sofort eilten die Männer hinauf
und entdeckten ihn liegend und schimpfend vor dem großen
Schneemann und staunten nicht schlecht über das ausgehöhlte
Schneewesen.
Worte wie: "Hermann, was machst du
denn für Sachen! Haben wir dir nicht oft genug gesagt, daß
du nicht mehr alleine gehen sollst?", mußte er sich anhören
und winkte ab. Zwei liefen bereits los um einen Arzt und eine Trage
zu holen.
"Nie wieder werde ich den
Weihnachtsmann spielen. Das ist einfach nichts mehr für einen
alten Mann!", erwiderte er und ließ sich gerne mit einem
warmen Schluck Tee verwöhnen.
"Der da, der Schneemann hat mich
gerettet!", sprach er und zeigte nach oben.
"Ein Schneemann kann doch nicht
retten, wie soll das denn gehen?", sagte einer der Männer laut
und fügte noch hinzu: "Ach Hermann, erzähl doch keine
Märchen!".
So gingen die Worte hin und her, doch
keiner wollte dem Alten glauben.
Inzwischen erfuhren auch die Kinder von
dem verletzten Weihnachtsmann, den man vor ihrem Schneemann gefunden
hatte und eilten hinauf zum Waldesrand. Als die kleine Gundi hörte,
daß der Schneemann sprechen konnte, so wie es der
Weihnachtsmann erzählte, rief sie ganz laut und selbstbewußt:
"Und lächeln kann er auch. Das
habe ich genau gesehen. Keiner will mir glauben!".
"Ja, Kleine, ich glaube dir!",
sagte der alte Mann ganz ruhig und wandte sich an die erstaunten
Gesichter der Erwachsenen, während die Kinder in der Nähe
herumtobten, und sprach dann weiter: "Das Leben als Weihnachtsmann
macht keinen Spaß mehr. Die Zeiten sind so hektisch und
ungemütlich geworden. Keiner hat mehr Zeit, wer will schon mein
Nachfolger werden!"
Er schaute nach unten und irgendwas
schien ihn zu bedrücken. Die Männer bemerkten es und einer
fragte besorgt: "Hermann, nun raus mit der Sprache, dir liegt doch
was auf dem Herzen! Sag es uns doch einfach!"
Nach einer Pause drängte es aus
ihm heraus: "Wie wäre es mit einem neuen Fest zur Erinnerung
an meine Rettung durch einen Schneemann? Jedes Jahr könnten die
Kinder zu dieser Zeit viele ausgehöhlte Schneemänner bauen
und sie mit Geschenken für die armen Kinder der Umgebung füllen.
Ihr werdet sehen, die Freude wird groß!".
Sprachlosigkeit stand in fast allen
Gesichtern, doch Peters Vater entspannte die Situation und winkte die
Kinder herbei und fragte: "Was haltet ihr von einem
Schneemann-Fest?"
"Hurra, ein Fest für den
Schneemann!", jauchzten die Kinder aufgeregt und kullerten erneut
übermütig im Schnee herum.
"Ich muß aber noch dazu sagen,
daß dann kein Weihnachtsmann mehr zu euch kommen wird, um euch
zu beschenken, sondern ihr könnt dann viele viele Schneemänner
mit Geschenke füllen. Es gibt weltweit eine Menge arme Kinder
oder die keine Eltern mehr haben, und die würden sich von Herzen
freuen, wenn andere Kinder an sie denken", redete er weiter und
wartete gespannt auf die Reaktion.
Die Kinder sahen sich an und waren sich
ohne Worte einig. So verkündete der große Peter stolz: "
Na klar, wir wollen lieber das Schneemann-Fest und anderen Kindern
helfen. Wir kriegen doch das ganze Jahr über genügend
Geschenke!".
"Seht nur, wie der Schneemann mich
wieder anlächelt!", rief die kleine Gundi.
"Ja, ja, und gleich blinzelt er mit
den Augen und wackelt mit der Nase!", fügte der große
Bruder hinzu.
"Vielleicht!", erwähnte Gundi
leise und stellte sich dicht neben den Schneemann.
Der letzte Weihnachtsmann war sehr sehr
erleichtert. Er kam in ärztliche Obhut und konnte noch
mitverfolgen, wie sein Schneemann-Fest sich über die ganze Welt
verbreitete.
Seither wurde am Ende des Jahres nur
noch das Fest der "Schneemänner" gefeiert. Alle Kinder waren
froh und glücklich und kannten den Weihnachtsmann bald nur noch
aus den Märchen.
© Heidrun Gemähling