26. November 2005
Ein Augenblick kann unendlich lang sein, wenn man etwas erwartet, das seit Tagen, ja sogar seit Wochen angekündigt wurde. So ein Augenblick war es damals, als wir Kinder am Heiligabend in der kleinen Stube auf die Ankunft des Christkindes warten mussten. „Es dauert nur noch einen kleinen Augenblick“ meinte unsere Mutter, als Vater in die schöne Stube verschwand. Diese war schon den ganzen Tag als verbotene Zone deklariert worden, streng geheim und abgeschlossen. Alle Jahre wieder dasselbe Ritual, und doch war es für uns immer wieder eine hoch spannende Angelegenheit, die Warterei auf das Christkind...
In der ersten Dezemberwoche waren wir jeweils mit dem Basteln eines Wunschzettels beschäftigt. Mit dem Schreiben alleine war es nicht getan, nein, es musste etwas besonderes sein. Es musste ein Wunschzettel sein, der dem Christkind Eindruck machte, so dass all unsere Wünsche in Erfüllung gehen sollten. Der Wünsche waren wir voll und etwa gar nicht bescheiden. Denn immer wenn wir durchs Jahr hindurch einen ausgefallenen Wunsch äußerten, hiess es: „da müsst ihr schon noch ein bisschen warten bis das Christkind kommt.“ Also wurde gezeichnet, geklebt und gebastelt was das Zeugs hält. Und dann, eines Abends war es so weit, Grossvater meinte, dass genau an diesem Abend das Christkind hier vorbeifliegen werde, wir sollen jetzt unsere Wunschzettel vor das Fenster legen, am besten vielleicht hier vor das Küchenfenster. „Es dauert nur noch einen kleinen Augenblick, seid ja still, ruhig und artig“, meinte Grossvater. Natürlich war dieser Augenblick zu lange für uns Buben. Ich fragte, und das nicht gerade leise, wenn es denn nun endlich käme. „Scht...“ mahnte Grossvater. Es nutzte nichts, Mutter rief aus der Stube etwas von Christkind und dass es soeben sich am Stubenfenster gezeigt hatte. Wir stürmten in die Wohnstube ans Fenster, aber es war weit und breit nichts von einem Christkind zu sehen. Oder doch? das lag doch draußen etwas auf dem Sims. Schokoladen, zwei Weihnachtsschokoladen! in farbiges Stanniol -papier verpackt, mit einem in ganz weiss bekleideten, blonden Engel. „Ein Zeichen vom Christkind“, sagte Grossvater und schmunzelte vor sich hin. „Und unsere Wunsch -zettel?“ fragte mein kleiner Bruder. Gleichzeitig rannten wir ans Küchenfenster. Weg, sie waren tatsächlich weg.
...Auch an diesem Heiligabend dauerte der kleine Augenblick eine Unendlichkeit. Daran sollten wir Buben eigentlich gewohnt sein, dies wiederholte sich ja alle Jahre auf dieselbe Weise, dieses Augenblickritual. Das Weihnachtsglöcklein klingelte auch alle Jahre auf dieselbe Weise und der Baum sah auch alle Jahre gleich aus. Und trotzdem, es war immer wieder ein großes Ereignis für uns, dieser kleine Augenblick, der uns dem Fest entgegenfiebern liess und der nie enden wollte.
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