Maren Frank

Weihnachtsengel

 
 
Die Kisten mit dem Weihnachtsbaumschmuck hatten ein ziemliches Gewicht und mit einem leisen „Uff, geschafft“ setzte Linda sie im Wohnzimmer ab. Sie streckte sich kurz, trank einen Schluck Kräutertee und schob sich einen Anismond zwischen die Zähne, dann begann sie mit dem Schmücken. Diesmal sollte der Baum ganz besonders schön werden und sie gab sich deshalb viel Mühe. Das Lametta vom letzten Jahr war größtenteils verknotet und Linda war froh, gestern im Supermarkt zwei neue Päckchen mitgenommen zu haben. Auch eine neue Kugel hatte sie erstanden; weiß mit blauem Glitter in Form einer Kirche.
Sie summte einige Weihnachtsmelodien, während sie die Girlanden, Kugeln und Zapfen anbrachte und einige Süßigkeiten an den oberen Zweigen befestigte. Zwar war Tapsi gut erzogen und nahm nie etwas vom Tisch, doch sie wollte die Hündin gar nicht erst in Versuchung führen.
Nachdem nun der Baum fertig war und die elektronischen Kerzen ihr sanftes und sicheres Licht verbreiteten, ging Linda ins Schlafzimmer hinüber.
„Ist der Baum geschmückt?“
„Ja, Großvater.“ Sie lächelte und half ihm in den Rollstuhl. Sein Leiden hatte sich in den letzten Wochen rapide verschlimmert und er war zu schwach um mehr als einige Schritte selbst zu laufen.
Er rückte seine Brille zurecht. „Wie wunderbar er aussieht.“
Linda ging zum Wassernapf, goß es aus und füllte es mit frischem Wasser. Beim Bücken fühlte sie in ihrer Hosentasche den Brief ihrer älteren Schwester. Cornelia hatte eigentlich mit ihrem Mann und den Kindern kommen wollen, das Fest gemeinsam mit Linda, dem Großvater und den anderen Eingeladenen verbringen wollen. Doch nun hatte Cornelia geschrieben, dass sie mit ihrer Familie über die Feiertagen auf die Malediven fliegen würde. Auch Ruth, ihre andere Schwester konnte nicht kommen. Sie hatte schon vorgestern angerufen und abgesagt, die lange Anreise war ihr einfach zu nervig, sie wollte sich in ihrem Urlaub lieber erholen. Blieb noch Johannes, der Bruder, doch dessen Frau erwartete diese Tage ihr zweites Kind, so dass er schon vor Monaten gesagt hatte, dass seine Teilnahme am Familienfest sehr unwahrscheinlich sein würde. Auch die Eltern waren verhindert, eine Konferenz in Japan, sehr wichtig, wie ihr Vater ihr gesagt hatte und auf ihr näheres nachfragen hatte er lachend geantwortet: „Zerbrich dir darüber nicht deinen hübschen Kopf, Schätzchen, das verstehst du sowieso nicht.“
Und so stand Linda nun allein am 23. Dezember da und sah einem Heiligabend entgegen, den sie mit ihrem Großvater und ihrer Hündin verbringen würde. Sie hatte beim Fischhändler den Karpfen wieder abbestellt, es würde kein Festmahl geben ohne die Familie.
„Wann kommt Cornelia?“
Die Frage riß sie aus ihren Gedanken und sie schrak zusammen. Mit fahrigen Händen strich sie sich ins Gesicht gefallene Haarsträhnen zurück, bei ihr eine fast automatische Geste, um sich zu sammeln. „Sie kommt nicht, da ist was dazwischen gekommen. Aber sicher kommt sie uns nach den Feiertagen besuchen.“
Ihr Großvater nickte nur. Das Licht war zu schwach, um seine Augen zu erkennen, doch Linda wusste auch so, dass er enttäuscht war. Möglicherweise hatte er aber wohl schon damit gerechnet, denn nun lächelte er seine Enkelin an und sagte: „Nun, dann machen wir drei uns eben einen schönen Heiligabend. Den Baum hast du ja schon fast perfekt hinbekommen.“
„Fast?“
„Der Engel fehlt noch“, erklärte er. „Und ohne den Engel auf der Spitze ist es kein kompletter Weihnachtsbaum. Du weißt doch, welchen Engel ich meine?“
Ja, das wusste sie genau. Seit sie denken konnte, war der Baum mit einem weiß-silbernen Engel auf der Spitze geschmückt worden. Der Engel war nicht mal besonders hübsch, sein Kopf bestand nur aus einer Holzkugel, an der strohiges Goldhaar angeleimt war und sein Gewand wies einige Flecken auf. Doch er strahlte einen ganz besonderen Zauber aus und ohne ihn war der Baum undenkbar. Doch ausgerechnet dieser Engel war vor einer Woche zu Bruch gegangen. Weil sie die Wohnung schmücken wollte, hatte Linda die Kisten aus dem Keller geholt, dabei war ihr eine aus der Hand gerutscht und scheppernd auf dem Steinboden aufgeschlagen. Die Kugeln waren hinüber und mit ihnen der Engel, der in der gleichen Kiste gewesen war. Die Holzkugel hatte sich vom Rumpf gelöst und das filigrane Gestell war in unzählige Einzelteile zerbrochen. Ihn zu reparieren war unmöglich und verschreckt hatte Linda es ihrem Großvater gebeichtet. Doch der hatte nur gelacht, sie kaufe doch sowieso jedes Jahr neuen Weihnachtsschmuck dazu, solle sie halt einen Engel mitbringen, der genauso aus sah.
Natürlich hatte Linda sofort beim nächsten Supermarktbesuch die Weihnachtsabteilung gestürmt. Engel gab es zwar, doch waren das entweder ganz winzige aus Papier zum Anhängen oder große Porzellanfiguren. Und dann war der Engel im üblichen Streß in Vergessenheit geraten. Diese Erkenntnis ließ sie blaß werden.
„Du hast doch einen Engel gekauft oder?“
„Es gab so einen nicht bei Aldi.“ Linda ging zur Tür. „Aber ich geh sofort los, in der Stadt gibt es zig Geschäfte mit Deko-Zeug.“
„Das ist lieb von dir.“ Er lächelte ihr zu.
„Mach ich gern.“ Linda wusste, dass er sonst keine Wünsche äußerte – andere hätte sie ihm auch nicht erfüllen können. Doch gleichzeitig wusste sie, dass es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit sein letztes Weihnachtsfest war und das wollte sie so schön wie möglich gestalten. Sie hatte ihr Informatikstudium unterbrochen, als seine Krankheit anfing, sich zu verschlechtern und war mit Tapsi zu ihm gezogen. Das war vor knapp einem halben Jahr gewesen und nach sehr kurzer Beratung mit ihrer Familie geschehen. Sie war die einzige, die noch studierte und keiner der anderen war bereit gewesen, einfach so auf den Beruf zu verzichten und sich um den alten kranken Mann zu kümmern. Doch Linda wäre auch ohne Studium sofort zu ihm gezogen.
Feiner Schneeregen fiel von dem grauen Himmel hinab und Linda zog ihren Schal bis zur Nase hoch. Es war wirklich kein schönes Weihnachtswetter. Letzte Nacht hatte es zwar richtig geschneit, doch besonders in der Stadt war der Schnee nur noch als schmutzige Anhäufungen in den Rindsteinen zu bewundern.
Im Kaufhaus herrschte eine unbeschreibliche Fülle. Die Luft war überheizt und stickig, doch darauf achtete Linda nicht, als sie sich zwischen Frauen mit vollen Einkaufswagen und quengelnden Kindern zum Stand mit den Engeln drängte. Die Porzellananhänger waren schon ausverkauft, von den großen Plastikfiguren stand nur noch ein einziger Engel da, dessen weißes Gewand bereits recht mitgenommen aussah.
Linda ging um den Stand herum, auf der Rückseite gab es ebenfalls noch Baumschmuck. Neben den obligatorischen Kugeln, Glocken und Zapfen hingen noch ein paar Figuren. Kleine Schneemänner mit Mini-Besen im Leib, Weihnachtsmänner auf Geschenkeschlitten und Engel. Doch diese Engel waren bunt, hielten Musikinstrumente in den Händen und waren maximal drei Zentimeter groß.
Über dem nächsten Regal stand ein Schild mit der Aufschrift „Baumschmuck – reduziert“ und sofort ging Linda hin. In der großen Wühlkiste steckten bereits die Hände drei anderer Frauen, die kleine Elche, Schneemänner und übergroße Eiskristalle in ihre Wagen luden, Figuren zur Seite warfen und tiefer gruben. Beherzt drängte Linda sich dazwischen, suchte nach Flügelwesen und fand schließlich einen Engel, der vor einer schneebedeckten Tanne stand und den Mund zum Gesang geöffnet hatte. Sie schob ihn zur Seite, suchte weiter, erwischte ein Jesuskind, eine Maria ( die sie aufgrund des langen Gewandes im ersten Moment für einen Engel gehalten hatte ) und heilige Könige.
Sie gab auf, hier würde sie den gesuchten Engel bestimmt nicht finden. An der Kasse vorbei schlängelte sie sich nach draußen, wohl wissend um die neidischen Blicke, denn wenn sie etwas gekauft hätte, hätte sie trotz der vier geöffneten Kassen mindestens eine halbe Stunde anstehen müssen. Doch das hätte sie für den Engel gern in Kauf genommen.
Im Geschenkeladen gegenüber versuchte sie ihr Glück als nächstes. Doch auch hier waren es nur noch winzige Papierengel, die an dem bereits arg leergeräumten Ständer hingen.
„Suchen Sie etwas bestimmtes?“, sprach sie der Verkäufer, ein leicht untersetzter Mann mit graumeliertem Haar, an. Der Laden war leer und er wirkte nicht so genervt und hektisch wie die gestreßten Verkäuferinnen in den Supermärkten.
„Ja, einen Weihnachtsengel, etwa so groß.“ Zur Verdeutlichung hielt Linda ihre Hände entsprechend und beschrieb den Engel genauer.
„Tut mir leid, so einen habe ich nicht mehr. Aber warten Sie mal einen Moment, Sie haben doch kurz Zeit?“ Bevor sie darauf überhaupt antworten konnte, war er unter die Theke getaucht und kam dann mit einem Katalog wieder hervor. Er begann rasch zu blättern und stoppte dann plötzlich. „Hier, das ist das gesamte Engel-Sortiment.“
Linda blickte auf die aufgeschlagenen Seiten des Katalogs, den er zu ihr hingeschoben hatte. Ja, da war ihr Engel abgebildet, gleich in der obersten Reihe. „Genau das ist er!“
Ihr strahlendes Lächeln musste ansteckend wirken, denn auch der Ladenbesitzer lächelte nun übers ganze Gesicht und griff nach Kugelschreiber und Block. „Ich bestell ihn gern für Sie. Wie oft?“
„Einmal.“
Er notierte es und schrieb die Bestellnummer der Figur daneben. „Ihr Name?“
„Linda Peters.“ Sie blickte weiterhin auf den Katalog. „Klappt das bis morgen früh?“
„Bis morgen früh?“, wiederholte er und starrte sie fast entsetzt an. „Junge Dame, dieser Engel liegt im Zentrallager, schauen Sie bitte mal auf die Uhr, dort arbeitet um diese Zeit niemand mehr. Ich faxe die Bestellung sofort hin, dann wird sie mit ziemlicher Sicherheit morgen als eine der ersten bearbeitet und so um den 30. rum können Sie herkommen, dann müsste der Engel da sein. Aber wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, rufe ich Sie an, sollte er schon vorher eintreffen.“
„Aber ich brauche den Engel sofort! Morgen ist doch schon Heiligabend.“
Er machte eine bedauernde Geste mit den Händen. „Da hätten Sie eher kommen müssen.“
Vor Enttäuschung spürte Linda, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Sie wandte sich ab. „Danke für Ihre Mühe“, murmelte sie beherrscht.
Er hatte ihre feucht glänzenden Augen bemerkt und schob ihr die Plätzchenschale zu, die süßen Duft verströmend auf der Theke stand. „Na na, kommen Sie, das ist doch kein Grund zum Weinen. Nehmen Sie erstmal einen Keks und dann schauen Sie sich ein bißchen um, vielleicht finden Sie ja was anderes für Ihren Baum, das Ihnen gefällt.“
„Danke.“ Linda nahm einen Zimtstern und kaute langsam. „Es ist nur so, dass ich unbedingt diesen Engel haben muß. Er ist nicht für mich, sondern für meinen Großvater.“ Und sie erzählte ihm die ganze Geschichte, dass ihr Großvater todkrank war, dies sein letztes Fest war und sie den Engel, der für ihn so mit Weihnachten verbunden war, zerbrochen hatte. Wenn sie nachgedacht hätte, hätte sie sofort peinlich berührt geschwiegen, denn normalerweise war es nicht ihre Art, andere mit ihren Problemen zu belasten, noch dazu völlig Fremde. Doch vielleicht war es gerade die Tatsache, dass dieser ältere Herr mit den freundlichen hellbraunen Augen gar nichts von ihr wusste, die sie zum Reden veranlaßte.
Er hörte zu, ohne dreinzureden und erst als sie länger schwieg, sprach auch er. „Ich würde Ihnen wirklich gern helfen und bestell den Engel gern, doch wie gesagt, das dauert. Aber Sie könnten es bei einem anderen Laden probieren, der von dem gleichen Lager seine Waren bezieht. Möglicherweise haben Sie da Glück. Soll ich Ihnen die Adressen raussuchen?“
„Das wäre sehr freundlich.“ Sie schniefte und nahm mit einem gemurmelten Dankeschön das Taschentuch an, das er ihr reichte.
Unterdessen tippte er auf der Tastatur des Computers herum und hielt kurz darauf einen Ausdruck in den Händen. „Hier, das ist die Liste der Ladenkette, zu der auch mein Geschäft gehört.“
Linda bedankte sich und überflog die Liste. Die meisten befanden sich in näherem Umkreis und sie lief gleich los, kratzte die Scheiben ihres VWs frei und reihte sich in den Stau an der Autobahnauffahrt ein. Auf dem Armaturenbrett hatte sie die Liste liegen, wenn der erste Laden nichts hatte, würde sie eben den nächsten ansteuern – bis sie den Engel hatte.
Im ersten Geschäft herrschte eine unbeschreibliche Fülle, der kleine überheizte Raum flirrte fast vor den unterschiedlichen Stimmen und Gerüchen. Die Regale waren größtenteils leer geräumt und das, was noch übrig war, waren Kugeln und Glocken in so unmöglichen Farben, dass man sie nur kaufte, wenn man wirklich keine andere Wahl hatte oder einen sehr ungewöhnlichen Geschmack.
Die beiden völlig überforderten und stark gestreßten Verkäuferinnen nahmen sich erst nach gut zehn Minuten Lindas Begehren an und dann bestand die Antwort aus einem knappen „was wir an Weihnachtsschmuck noch haben, steht da in den Regalen. Wenn da kein Engel bei ist, haben wir auch keine mehr.“
In den Regalen hatte Linda natürlich zuerst geguckt, also hielt sie sich nicht länger auf und steuerte das nächste Geschäft an. Es lag mitten in der Innenstadt des Nachbarortes und sie musste fast einen Kilometer zu Fuß gehen, da ein näherer Parkplatz nicht zu finden war.
Der Laden war zwar nicht ganz so mit gestreßten Käufern überfüllt, doch als sie die fast leeren Regale sah, wusste sie, warum. Auch hier hätte sie höchstens noch gelbe Weihnachtskugeln, grüne Glockenanhänger und Christbaumständer in rosa bekommen können.
Linda hetzte zum Auto zurück, trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad und wartete darauf, dass endlich einer ein Einsehen hatte und sie aus der Parklücke ließ.
Auf der Autobahn war der Verkehr nicht so stark und sie schaltete das Radio ein, ließ sich von Weihnachtsliedern berieseln und summte einige der Melodien mit. Bis zum nächsten Laden fuhr sie fast eine halbe Stunde, doch auch diesmal war es umsonst. Die nächste Adresse war in der gleichen Fußgängerzone nur einige Nummern weiter und so ließ Linda ihr Auto an dem einmal ergatterten Parkplatz stehen und suchte den Laden zu Fuß auf.
Das im mit kleinen Sternenlämpchen beleuchteten Fenster Pappmache-Engel standen, ließ sie neue Hoffnung schöpfen. In den anderen Geschäften war überwiegend schon die Dekoration aus den Schaufenstern verkauft worden.
Sie trat ein, ging an den leeren Regalen vorbei und fragte eine Verkäuferin. Bedauernd schüttelte die junge blonde Frau den Kopf. „Ja, ich weiß, welche Engel Sie meinen, die hatten wir auch, eine ganze Palette, doch gerade erst vor einer Stunde haben wir den letzten davon verkauft. Aber ich könnte Ihnen einen bestellen, die im Lager sind recht flott, liefern bestimmt noch vor dem Dreikönigstag.“
Vor Enttäuschung und Wut, dass sie lediglich eine Stunde zu spät dran war, hatte Linda Mühe, die Tränen zurück zu halten. Sie riß sich zusammen, bedankte sich mit knappen Murmeln bei der Verkäuferin und trat in den Dezembernachmittag heraus. Es war nun schon dunkel, die Weihnachtsbeleuchtung über der Einkaufspassage eingeschaltet und in dem Licht konnte sie den Tanz der kleinen Schneeflocken sehen, die bestätig vom Himmel fielen und sich mehrten. Instrumentale Weihnachtsmusik erklang aus dem Kaufhaus gegenüber und Werbespots wiederholten sich auf dem großen Schirm über dem Eingangsschild.
Linda fror, ihre Hose war zu dünn für lange Aufenthalte im Freien und die ledernen Halbschuhe waren ebenfalls nicht für Schneespaziergänge gedacht. Sie reihte sich in die Schlange vor einem der Stände ein, kaufte einen Becher heißen Punsch ohne Alkohol und zwei große Waffeln mit Puderzucker.
Unter dem Vordach des Kaufhauses aß und trank sie, betrachtete sich dabei die Schaufenster und die vorbeihastenden Leute. Alle schienen es eilig zu haben und das erinnerte sie daran, dass sie eigentlich ebenfalls keine Zeit für eine Pause hatte. Ihr gegenüber saß eine Frau in zerlumpten Kleidern, der lange braune Mantel war aus grobem Stoff und schon mehrmals geflickt. Ein Hut lag vor ihr, in dem einige wenige Münzen glitzerten und sie spielte auf einer Säge.
Linda schaute fasziniert zu. Sie hatte noch nie live den Gesang einer Säge gehört. Das Weihnachtslied erkannte sie sofort und sie hätte nicht gedacht, dass mit diesem ungewöhnlichen Instrument derartig klare Töne erzeugt werden konnten. Sie griff in ihre Tasche, ging zu der Musikantin und warf die Münzen in den Hut. Die Frau lächelte ihr zu und scheu lächelte Linda zurück.
Durch das heiße Getränk und die überzuckerten Waffeln war ihr warm geworden, außerdem fühlte sie sich nach der kurzen Rast gestärkt. Sie lief zum Auto zurück und nahm sich die Liste vor. Zwei Adressen hatte sie noch darauf stehen, doch die waren mindestens eine Fahrstunde entfernt. Das bedeutete, dass es spät werden würde, bis sie nach hause kam, zu spät, denn am Abend musste ihr Großvater seine Medikamente pünktlich einnehmen. Und Tapsi musste bald auch raus.
Andererseits jedoch wollte sie unbedingt den Engel. Sie kramte aus dem Handschuhfach ihr Handy und rief Doreen an. Doreen war schon seit der Schulzeit ihre Freundin, arbeitete als Krankenschwester und kam einmal pro Woche, um neue Medikamente zu bringen. Linda erwartete sie erst am zweiten Weihnachtsfeiertag und es tat ihr leid, die Freundin in den Festvorbereitungen – denn Doreen hatte ein kleines Kind und erzählt, dass sich zum Fest die Eltern ihres Mannes so wie seine Schwester samt Familie angesagt hatten – zu stören, doch sie wusste keine andere Möglichkeit.
Leicht abgehetzt nahm Doreen nach dem fünften Klingeln ab, ließ sich von Linda die Situation erklären und versprach sogleich zu ihrem Großvater zu fahren und ihm auszurichten, dass es bei ihr noch dauern würde. Sie würde bis Linda zurück kam, bei ihm bleiben und auch mit der Hündin raus gehen.
Erleichtert diese Sorge aus der Welt geschafft zu haben fuhr Linda wieder auf die Autobahn auf. Sie gab ordentlich Gas, denn bis Geschäftsschluß war nicht mehr viel Zeit.
Doch es war umsonst; auch im letzten Laden, auf den sie all ihre Hoffnung gesetzt hatte, gab es keinen einzigen Engel. Das Lager, fuhr es Linda wie ein Blitz durch den Kopf. Fast jede der Verkäuferinnen, die sie gefragt hatte, hatte ihr angeboten, den Engel aus dem Warenlager zu bestellen. Also bedeutete das, dass es dort die Engel noch gab, sie musste also bloß direkt zum Warenlager fahren. Warum nur war ihr diese Idee nicht sofort gekommen? Den ganzen Tag hatte sie damit vertan sinnlos durch die Gegend zu fahren. Die Tankanzeige näherte sich bereits bedrohlich dem roten Bereich.
Linda nahm die nächste Ausfahrt zur Tankstelle und während sie darauf wartete, dass der schlaksige junge Tankwart das Benzin einfüllte, studierte sie im Schein der Leuchtreklame ihre Liste. Die Adresse das Lagers stand ganz zuunterst, kleiner ausgedruckt als die anderen.
Im nächsten Moment bekam Linda einen Schreck, das Lager war fast 400km entfernt, kein Katzensprung, noch dazu bei Dunkelheit und Glätte auf den Straßen. 400km, das bedeutete eine Fahrt von mindestens vier Stunden, aufgrund der Straßenverhältnisse aber mit ziemlicher Sicherheit mehr.
Aber sie wollte es versuchen, selbst wenn es bedeutete, die ganze Nacht auf der Autobahn zu verbringen. Sie ging in die Tankstelle, bezahlte das Benzin und kaufte sich eine Straßenkarte so wie einen großen Becher Kaffee. Im hinteren Bereich standen ein paar Tische und Stühle und da die beiden dort sitzenden Fernfahrer ihr freundlich zuwinkten, gesellte Linda sich zu ihnen.
„Setz dich, Kleine, bei dem Wetter braucht man einfach eine Pause, besonders, wenn man noch eine lange Strecke vor sich hat.“ Der schmächtigere der beiden deutete auf die Karte, die sie unter den Arm geklemmt trug.
Sein Kumpel grinste sie an. „Aber eine Truckerin bist du nicht.“
„Stimmt.“ Linda nahm Platz. Eigentlich hatte sie vorgehabt, den Kaffee rasch im Stehen zu trinken, aber sie wollte nicht unhöflich sein. „Ist das so offensichtlich?“
„Für uns schon“, erwiderte er. Dann reichte er ihr die Hand, die abgearbeitet und rauh war. „Ich bin Tom, und das ist Christoph. Wir müssen heute Nacht noch bis an die dänische Grenze, sind bis obenhin mit Möbeln vollgepackt.“
Linda stellte sich ebenfalls vor und nippte an ihrem Kaffee, der heiß, stark und süß war. Sie schüttelte den Kopf, als Tom ihr eine Packung Zigaretten hinhielt. „Ich rauche nicht.“
Er steckte die Packung wieder weg. „Aber Hunger hast du doch sicher, oder? Ich hole uns nämlich jetzt eine Runde Sandwiches und du bist herzlich eingeladen.“
Schon wollte sie widersprechen, denn schließlich hatte sie es eilig und je eher sie los fuhr, desto früher konnte sie wieder zu Hause sein. Doch auf ein paar Minuten kam es nicht an und wirklich satt war sie von den Waffeln vorhin ohnehin nicht geworden.
Die nächste halbe Stunde verbrachte Linda damit belegte Brote zu essen und den beiden Truckern zuzuhören, wie sie von ihren Touren erzählten. Sie fand es wahnsinnig interessant und als sie sich schließlich verabschiedeten und einander noch eine gute Fahrt wünschten, kam ihr zu Bewußtsein, dass sie an einem Tag mehr erlebt und gesehen hatte als im ganzen vergangenen Jahr. Sie hatte noch nie vorher in einer Tankstelle Kaffee getrunken und Leute wie die Bettlerin mit der singenden Säge oder die beiden Fernfahrer hätte sie normalerweise einfach nicht beachtet.
Die Fahrt durch die Nacht zog sich dahin. Aufgrund des Glatteises war es zu einem Unfall mit mehreren beteiligten Wagen gekommen und die Strecke vorerst gesperrt. Linda hörte die Meldung zu spät im Verkehrsfunk, so dass sie mitten hinein in den Stau kam und in einer Schlange von über fünfzig Autos darauf wartete, dass die Autobahnpolizei den Weg wieder frei gab.
Sie hörte Radio, ließ die Heizung auf vollster Stärke laufen und griff von Zeit zu Zeit in die Spekulatiustüte, die sie sich an der Tankstelle noch gekauft hatte.
Irgendwann fuhr dann ihr Vordermann endlich los und auch Linda konnte Gas geben. Die Streufahrzeuge waren auf der gesamten Autobahn unterwegs, kämpften gegen den Schnee an, der nun in beachtlicher Menge fiel.
Doch sie kam gut durch und als sie kurz vor ihrem Ziel von der Autobahn abfuhr, tanzten nur noch wenige kleine Flocken im Licht der Scheinwerfer. Linda fuhr die nächste Tankstelle an, sie brauchte dringend einen Kaffee, außerdem war es noch viel zu früh, der Tag erwachte gerade erst und kaum ein Auto war auf den Straßen zu sehen.
Die Rast in der überheizten Tankstelle lud ihre Kraftreserven neu auf. Sie gestattete sich keine Müdigkeit, schließlich hatte sie schon so manche Party durchgetanzt und war nach einer kurzen Dusche munter zur Universität gefahren. Eine Dusche oder noch lieber eine heiße Badewanne hätte sie jetzt auch gern gehabt, doch sobald sie den Engel hatte, würde sie nach hause fahren und konnte all das genießen. Und vor allem sich an dem Strahlen ihres Großvaters freuen, wenn sie den Engel auf die Baumspitze steckte.
Sie kaufte sich eine Zeitung und ein Schokohörnchen und sah zu, wie es langsam hell wurde. In der spiegelnden Fensterscheibe kontrollierte sie kurz ihr Aussehen. Ihr Haar war ein paarmal naß geworden, doch sah es nicht zu schlimm aus, da sie es im Nacken zusammen gebunden trug. Ein bißchen Rouge wäre nicht schlecht gewesen, sie war winterblass und der fehlende Schlaf hatte leichte Schatten unter ihre Augen geworfen. Nun ja, das Schminken musste eben warten, wichtig war nur der Engel.
Sie nahm sich noch eine Packung Pfefferminzbonbons mit, zahlte und fuhr weiter. Auf der Karte hatte sie sich den Weg während der Zeit im Stau gut eingeprägt und sie fand die entsprechende Straße problemlos.
Zu übersehen war das Lager ohnehin nicht, es war ein riesiges Anwesen und auf dem Parkplatz davor standen mehrere große LKWs. Linda parkte ein Stück entfernt, sie wollte keinem im Wege stehen, der einladen musste.
Ziemlich gestresst wirkende Arbeiter hetzten über den Platz, schrien sich zu, wer noch Teddys, Autorennbahnen oder Puppen wo hin fahren musste. Linda wich Männern aus, die die Arme voll Kisten hatten und hätte dabei fast gejubelt. So viel Weihnachts-Kram, bestimmt würde sie gleich ihren Engel in der Hand halten.
Sie fragte sich zum Vorarbeiter des Lagers durch und trug ihm ihren Wunsch vor. Nachdenklich kratzte er sich das stoppelige Kinn. „Hm, ja, solche Engel hatten wir, erinner ich mich noch gut dran, haben wir nämlich durch das ganze Land geschickt, alle Läden hatten sie angefordert.“
Ungeduldig und weil ihr in der zugigen Halle kalt wurde, trat Linda von einem Fuß auf den anderen. „Haben Sie denn noch so einen Engel da?“
„Weiß ich nicht, Moment.“ Er ging einige Schritte. „He, Karl, haben wir noch diese großen Engel, du weißt schon, die die Rainer letzte Woche nach Berlin gefahren hat.“
Der Angesprochene schlenderte näher. Er war ein schmaler Endfünfziger, etwas kleiner als sie selbst und wirkte noch überarbeiteter als die anderen Männer. „Ne, die sind alle weg, drei der Läden hatten nachbestellt. Auch die kleinere Ausgabe davon ist weg. Aber die Schaukelpferde sind noch da, diese kleinen, zum an den Baum hängen.“
„Aber wieso, ich meine, hier ist doch das Zentrallager, wo die Läden auch bestellen. Das haben mir die Verkäufer immer angeboten, sie sagten, dass sie die Engel von hier bestellen können.“ Linda wollte nicht glauben, dass alles umsonst gewesen war.
„Ja schon“, räumte der Vorarbeiter ein. „Aber wir bekommen den Kram direkt von der Produktionsstätte. Unsere LKWs fahren zur Fabrik, laden die Sachen da ein, kommen dann hierher und dann bearbeiten wir die Bestellungen.“
„Können Sie denn nicht noch mal nachsehen? Vielleicht haben Sie ja doch noch eine Kiste mit Engeln über“, bat Linda und hoffte dabei nicht all zu verzweifelt zu klingen.
Er machte eine die Halle umfassende Armbewegung. „Die Engel standen hier und Sie sehen ja, was noch da ist. Hier, bitte, Schaukelpferde, außerdem Puppenhäuser und Lichterketten. Die haben wir noch in Massen, wollen Sie eine?“
Linda war unfähig zu reagieren, ihre Welt stürzte gerade Stein für Stein ein und sie glaubte, keinen Schritt mehr zu schaffen, geschweige denn ihre Beherrschung noch länger aufrecht zu halten.
„Der Engel war wohl sehr wichtig für sie, hm?“, sagte der Mann, den der Vorarbeiter Karl gerufen hatte.
Schwach nickte Linda. „Er ist für meinen Großvater, für ihn bedeutete der Engel sehr viel und ich möchte dieses Fest für ihn so schön wie möglich machen.“
Verstehend nickte er und fragte nicht weiter nach. „Kommen Sie mal mit, mir fällt gerade was ein.“
Linda tappte hinter ihm her, durch weitere Hallen, in denen aus- und umgeladen wurde, durch den verlassenen Aufenthaltsraum auf dessen Tischen noch leere Kaffeebecher standen, bis in die kleine Küche, die sich daran anschloß.
Karl nahm eine Figur von dem Bord neben dem kleinen Fenster und reichte sie Linda. „Hier, dieser Engel sitzt schon seit Jahren da oben, war aus einer früheren Produktion, die jetzigen sind viel schöner, haben richtig süße Gesichter. Irgendwer hat den hier mal da hingesetzt und wir haben ihn nie weg genommen, weil keiner richtig auf ihn geachtet hat. Er ist nicht besonders schön, aber vielleicht möchten Sie ihn ja dennoch haben.“
Linda strich vorsichtig über das Gewand, das fleckig und knittrig war und betrachtete die Holzkugel, an die strohiges Goldhaar geleimt war. Er sah fast genauso aus wie jener Engel, der kaputt gegangen war. „Darf ich ihn wirklich haben?“, fragte Linda und da er nickte, griff sie nach ihrer Handtasche.
Doch Karl legte ihr eine Hand auf den Arm. „Für diesen Engel brauchen Sie wirklich nichts zu bezahlen, nehmen Sie ihn und wenn Sie wollen, geben Sie mir Ihre Adresse, dann schicke ich Ihnen einen, sobald die neue Lieferung eintrifft.“
„Das ist nicht nötig“, flüsterte Linda. „Dieser Engel ist perfekt, genau den habe ich gesucht.“
„Ja dann, frohe Weihnachten.“
„Frohe Weihnachten.“ Linda küßte den überraschten Karl ( der begriffen hatte, welch große Bedeutung jener Engel für die junge Frau besaß ) auf die Wange und lief den Engel fest unter dem Arm zu ihrem Auto. Sie platzierte ihn vor sich auf dem Armaturenbrett, stellte die Musik lauter und sang aus voller Kehle mit.
Die Welt war einfach schön, auf den Feldern, an denen sie vorbeikam, lag zentimeterhoch der Schnee, eine weiße Pracht, selbst in der Stadt war er noch blütenweiß, da er noch so frisch war, dass Autoabgase und die Emissionen der Kohleöfen ihn noch nicht verfärbt hatten.
Ihr Großvater erwartete sie schon, Doreen war ebenfalls da, hatte schon das Weihnachtsmahl gekocht, das aus Kartoffelbrei und gedünstetem mageren Fisch bestand, denn schwere Speisen vertrug ihr Großvater nicht. Linda umarmte sie, holte aus dem Schrank einen Kauknochen für Tapsi und ging dann zum Baum, setzte den Engel auf die Spitze.
„Ja, das ist der Weihnachtsengel“, sagte ihr Großvater leise und sein graues Gesicht strahlte.
 
 

ENDE

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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