Stefan Rieger

von mensch zu baum

Jeder von uns hat wohl eine besondere beziehung zur natur. Wenn wir uns jedoch fragen, zu welchen pflanzlichen lebensformen wir eine besonders intensive beziehung, wenn nicht sogar verwandschaft besitzen, so müssen wir wohl antworten: zu den bäumen.
 
Woran liegt das?
 
Betrachten wir einen baum. Woraus besteht er? Aus den wurzeln im erdreich, dem stamm mit der rinde, der krone mit den ästen und den zweigen, daran die blätter.
 
Wie lebt der baum?
 
Ganz einfach: die wurzeln saugen das wasser aus dem boden, über ein ventilsystem saugt sich der stamm wie ein schwamm oder, wenn man so will, eine injektionsnadel, voll, das wasser gelangt bis in die äußersten astspitzen zu den blättern. Diese sind einem kleinen kraftwerk vergleichbar. Denn dort geschieht, mittels photosynthese (die wir noch aus der schule kennen) die umwandlung von wasser und kohlendioxid in traubenzucker und sauerstoff. auf diese Weise erzeugt sich der baum die für ihn wichtigen nährstoffe selbst. Er ist autark. So kann man vereinfacht den ablauf der mechanischen und photochemischen prozesse erklären, die den baum am leben erhalten.
 
Aber erklärt das den sinn, warum der baum lebt?
 
Wir haben zunächst definiert, woraus der baum besteht: aus wurzeln, stamm, krone, blätter. Kann der baum ohne wurzeln leben? Nein, aber manchmal gelingt es, wenn man einen jungen ast abschneidet, dass dieser wurzeln austreibt. Ohne stamm? Auch aus einem abgesägten stamm können wieder äste wachsen. Ohne krone? Viele bäume werden jedes jahr derart zurückgestutzt, ohne schaden zu nehmen. Im nächsten frühjahr treiben sie wieder aus. Und ohne blätter? Nun, das sehen wir jedes jahr im herbst und im winter. Aber so kommen wir in der frage nach dem sinn des baumes nicht einen schritt weiter.
 
Was macht der baum?
 
Nun, er wächst. Manche bäume werden über tausend jahre alt. Was noch? Jeder Baum treibt jedes jahr im herbst früchte aus. In diesen früchten befindet sich im kern oder stein der keimling, der, wenn er mit der frucht zur erde fällt, austreibt. So entsteht ein neuer baum. Das ist der kreislauf des lebens.

Kommen wir auf den sinn des baums zurück:
 
Der baum lebt , um ständig zu wachsen und, um jedes jahr früchte auszutreiben, aus denen wiederum neue bäume entstehen. Dies ist nur eine umschreibung des allgemeinen lebensprinzips auf dieser erde, das auf alle lebewesen zutrifft.
 
Das erklärt aber alles noch nicht, warum wir menschen uns den bäumen so nahe fühlen.
 
Betrachten wir wiederum einen baum. Sofort erkennen wir, nicht jeder baum ist gleich. Ich meine nicht die unterschiedlichen arten wie eiche, buche, tanne usw. nein, wir können sehr deutlich einzelne bäume der gleichen art voneinander unterscheiden. Nicht umsonst sagt man jemand kenne "jeden baum und strauch". Wohlgemerkt: kennen. Das ist schon mehr als nur wissen, wie er aussieht. Da gibt es große, kleine, junge, alte, knorrige, morsche, hohle, verschrumpelte, verhutzelte, verkrüppelte, gedrungene, kräftige, ehrwürdige, majestätische, usw. Das können wir von anderen pflanzen nicht behaupten, denken wir an gräser, farne, usw. vielleicht noch bei einigen pilzsorten. Das ist die erste grundgemeinsamkeit mit dem menschen: die unterscheidbarkeit des individuums. Jeder baum ist anders und für uns als solcher erkennbar.
 
Die zweite wichtige grundgemeinsamkeit besteht in der ausbildung von populationen. In der menschlichen zivilisation unterscheiden wir lebenformen wie familie, dorf, stadt, volk und staat. Übertragen auf den baum nennen wir die lebensform wald: Am gesündesten sind nicht die reinrassigen wälder, also nadel- oder laubwald, sondern am unanfälligsten gegen krankheiten und schädlingsbefall ist der mischwald. Auch in der menschlichen population ist das so.
 
Dadurch, dass der baum im jahreslauf sein aussehen ständig verändert, erkennen wir darin ein sinnbild des wachsens und vergehens, somit ein symbol für unser menschliches leben.
 
Die enge symbiose von mensch und baum drückt sich vor allem in der mythologie aus:
 
Denken wir nur an den biblischen „baum der erkenntnis“ im garten eden, gottes erscheinen im „brennenden dornbusch“ oder an so manchen der wunderbäume im märchen, z.b. in aschenbrödel: das „bäumchen rüttel dich, bäumchen schüttel dich…“. Auch sei an verschiedene sprichwörter erinnert, die unser dasein eng mit dem des baumes verknüpfen. Am bekanntesten dürften wohl die „der apfel fällt nicht weit vom stamm“, oder „einen alten baum verpflanzt man nicht“sein. Und in wievielen Liedern wird der baum besungen. Denken wir nur an so bekannte volkslieder wie "am brunnen vor dem tore da steht ein lindenbaum", "nun ruhen alle wälder" oder das, gerade jetzt in der weihnachtszeit so häufig zu hörende "o tannenbaum". Naja, und was wäre weihnachten ohne den christbaum? Aber auch in anderen kulturen und religionen spielen bäume eine sehr wichtige rolle (z.B. bei den juden das laubhüttenfest, die erscheinung gottes im brennenden dornbusch)
 
Und noch eines dürfen wir zum schluss nicht übersehen:
 
Neben den (meist essbaren) früchten, beschert und der baum aus seinem holz einen der wichtigsten werkstoffe und baumaterialien: ganze häuser sind aus holz gebaut. Es gibt keinen gesünderen und besseren baustoff. Denken wir an möbel, oder an den bekannten ausspruch: „von der wiege bis zur bahre“, holz, holz, überall holz. (wir klopfen jetzt im geiste "dreimal auf holz").
 
Oder gerade jetzt, in der kalten jahreszeit. Wie angenehm ist es, wenn wir jetzt vor einem knisternden wärmenden holzfeuer sitzen und uns des letzten sommers erinnern, oder daran, was bäume für uns bedeuten… vielleicht hören wir dazu noch im hintergrund leise eine herrliche musik, gespielt auf kunstvollen meisterviolinen, angefertigt dem aus bestem fichten- und ahornholz...

... und auf einmal fühlen wir, bäume haben eine seele...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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