Blut, überall nichts anderes als Blut, das bräunlich im
Halbdunkel der Halle schimmerte. Als hätte man hier 50 Stiere geopfert, doch
Chrysippos mochte nicht daran glauben, dass das Blut von Tieren stammte und nur
Momente später, nachdem sich die Augen an das dämmerige Licht gewöhnt hatten,
bestätigte sich der grausige Verdacht. Im hinteren Bereich der Halle, wo
einstmals der Thron gestanden haben dürfte, lag ein dunkler Haufen, bestehend
aus Menschenleibern, oder vielmehr dem was davon übrig war. Gliedmaßen,
abgeschlagene Häupter, Eingeweide, alles säuberlich aufgeschichtet.
Wahrscheinlich hatten sich die Bewohner der Stadt in die Halle retten können,
doch früher oder später war es den Belagerern gelungen hier einzudringen und
dieses Gemetzel zu vollbringen. Dies zumindest war die Vorstellung des
Chrysippos. „Welcher Mensch kann so etwas nur tun“, murmelte Demokles, ein
junger Soldat von nicht einmal 20 Jahren. Eine ähnliche Bestürzung hatte auch
Chrysippos ergriffen, doch verlor er selbst kein Wort darüber. „Was seid ihr
nur für Männer?“ Themistokles Worte donnerten durch das drückende Schweigen der
Halle. „Ihr seid mit mir gegen die Südlinge gezogen und ihr selbst habt den
Krieg erlebt. Kennt ihr nicht den Tod? Habt ihr ihm nicht schon selbst ins
Gesicht gesehen? Und nun scheut ihr zurück vor ein wenig Blut und totem
Fleisch?“ Genau dies war der Grund gewesen, warum Chrysippos das Schweigen
vorgezogen hatte. Ihr Anführer hatte keinen Sinn für derlei Situationen, denn
keine Gefühle regten sich in ihm. Kalt wie ein Stein war Themistokles und genau
das war seine Stärke als Heerführer. Doch man durfte in einem solchen Moment
nicht darauf vertrauen, dass er Mitgefühl zeigen würde. „Schöne Soldaten seid
ihr mir“, hörte Chrysippos den Heerführer schnauben, „ihr solltet euch zu den
Weibern gesellen, denn euer Klagen kommt dem ihren gleich.“ Obwohl der Heermeister
hinter ihm stand konnte Chrysippos doch seine finstere Miene bildlich vor sich
sehen, ja, sie hatte sich förmlich in seine Gedanken eingebrannt. „Schafft die Leiber
nach draußen und verbrennt sie“, brummte Themistokles schließlich. „Verzeiht
Herr, aber sollten wir diesen Menschen nicht ein ordentliches Begräbnis zuteil
werden lassen?“ Chrysippos hatte sich bei seinen Worten umgewandt und sah nun
in ein paar dunkle Augen, die ihn böse anfunkelten. „Diesen“, während er sprach
hob er den Arm und deutete auf die menschlichen Überreste, „verdammten Piraten
willst du eine Bestattung zukommen lassen, Chrysippos? Frag sie doch einmal wie
vielen Atlantern sie ein ordentliches Begräbnis zuteil werden ließen als sie
ihre Schiffe verbrannten und sie in ein kaltes, nasses Grab schickten. Los,
frag sie.“ Seine Stimme war inzwischen zu einem unheilvollen Sturm angewachsen,
doch überraschend schwieg er plötzlich und wendete sich ab. Chrysippos spürte
wie seine Knie zitterten. So vieles hatte er schon erlebt, doch dem Zorn von
Themistokles ausgesetzt zu sein versetzte ihn ein jedes Mal von neuem in Furcht,
was er sich jedoch niemals anmerken ließ. Wer Furcht zeigte, der war in den
Augen des Heermeisters ohnehin kein rechter Manne. „Diese Piraten bekommen das
Begräbnis das sie verdient haben. Entfacht ein Feuer.“
Viele Stunden später war die Halle notdürftig vom Blut
befreit und frisches Stroh lag auf dem Boden. Und dennoch war der Gestank von
Tod und Verwesung nicht verzogen, wahrscheinlich würde er niemals gänzlich
vergehen. Themistokles stand an einem der Fenster und blickte nachdenklich auf
die Stadt hinab. Hie und da erkannte er das Glitzern einer Rüstung, deren
eherne Oberfläche das schwache Licht der Abendsonne reflektierte. Noch immer
durchsuchten die Soldaten einzelne Häuser, aber der Glaube daran noch etwas zu
finden war lange geschwunden. Leer und verlassen lag die Stadt nun zu seinen
Füßen. Etwas seitlich der Halle prasselte ein riesiges Feuer, in dem die Reste
der alten Welt vergingen. Ascheflecken stiegen in den Himmel empor, der sich
von Norden her zunehmend verdunkelte. Schwere Regenwolken zogen heran, als
sollte der Schmutz und die blutige Vergangenheit der Stadt in Kürze hinfort
gewaschen werden. Nun würde eine neue Zeit beginnen, eine Zeit des Friedens und
des Aufschwungs, die Zeit der Herrschaft der Atlanter. So zumindest stand es im
Sinne des Themistokles und dennoch konnte es den Heermeister nicht zufrieden
stellen. Die Sonne stand inzwischen weit im Westen und würde alsbald hinter den
grünen Hügeln versinken, wenn die Wolken dem nicht zuvor kommen würden. ‚Welch
passendes Bild’, dachte Themistokles bei sich und starrte weiter auf den
Horizont. Von Beginn an hatte dieses Unternehmen unter keinem guten Stern
gestanden, doch hatte es sich noch weitaus schlimmer entwickelt als befürchtet.
Langsam führte er einen tönernen Becher an die Lippen und nahm einen zaghaften
Schluck. Der schwere, unverdünnte Wein brannte in der Kehle und hinterließ ein
herrlich dumpfes Gefühl in der Magengegend, das einen grauen Schleier über die
Nöte und Schwierigkeiten legte. Doch mehr als eine Linderung konnte auch der
Wein nicht verschaffen, denn zu groß waren die Sorgen, als das man sie hätte
ertränken könnte. „Was bewegt dich, mein Freund?“ Aus weit entfernter
Dunkelheit drang die Stimme des Chrysippos an sein Ohr heran. So weit war es
also schon gekommen, dass seine Maske durchschaut wurde. Dabei war er doch
immer ein Meister darin gewesen seine Gefühle zu verbergen und absolute
Regungslosigkeit zur Schau zu stellen. Wie tief diese Enttäuschung doch saß, so
dass ihm nicht einmal mehr dies gelingen wollte. „Es ist eine Katastrophe“,
murmelte Themistokles mit heiserer Stimme und erntete dafür einen
verständnislosen Blick. Die beiden Männer standen allein in der verlassenen
Halle, so dass es möglich war auf eine vertraute Art und Weise miteinander
umzugehen, ohne dass sich einer daran störte. Vor den Soldaten geziemte sich
ein solch freundschaftlicher Ton einfach nicht. „Ich verstehe nicht was dich
bedrückt, Themistokles. Du hast deine Pflicht erfüllt und die Wünsche des
Königs erfüllt.“
Chrysippos erschrak als Themistokles langsam den Kopf hob
und ihn anblickte. Die Augen wirkten Trüb und das Feuer, das ihnen einstmals
innegewohnt hatte, war verloschen. „Sie haben uns die Stadt einfach
überlassen“, erwiderte der Heermeister daraufhin, doch schürte dies die
Verwirrung des Chrysippos nur noch mehr. „Stobaios jedoch wird erfreut sein,
denn du hast schließlich sein Reich vergrößert.“ Themistokles wandte den Kopf
wieder dem Fenster zu und begann leise zu lachen. „Gewiss, Stobaios“, beim
Namen des Königs stieß er die Luft aus, so dass es sich beinahe schon
verächtlich anhörte, „Stobaios hat es leicht, Freund Chrysippos, denn an seinen
Namen wird man sich erinnern, wenn man von der Eroberung des Nordens spricht,
doch unsere eigenen Namen werden bald in Vergessenheit geraten. Wer gedenkt
schon eines Feldherrn, der keine Schlachten geschlagen hat? Ruhm lässt sich
allein durch Siege erringen.“ Chrysippos atmete auf als er dies hörte.
Verletzter Stolz, das war wieder einmal alles worum es hier ging. „Dein Hunger
nach Ruhm scheint allmählich zu einer Gier zu werden, mein Freund“, meinte
Chrysippos schließlich. Wieder hob Themistokles den Kopf und blickte ihm ins
Gesicht, doch dieses Mal waren die Augen weder stumpf noch trübe. Unbändiger
Jähzorn loderte darin, doch Chrysippos zeigte seinen Schrecken nicht. „Nein, es
geht nicht um meinen eigenen Ruhm. Vieles mehr noch steht auf dem Spiel von dem
du nichts weißt.“ Themistokles Stimme klang ruhig und beherrscht, doch konnte es
jeden Moment zu einem Ausbruch kommen. Aus diesem Grunde war es nun auch besser
zu schweigen. „Es ehrt dich, Freund Chrysippos, dass du vom verlogenen Spiel
der Politik bisher nicht berührt wurdest, doch du sollst wissen, dass es nicht
Stobaios’ Wille war, der uns an diesen Ort befahl. Seine Berater, die ihn alle
Zeit umgeben… Sie sind wie Schlangen und hauchen ihm honigsüße Worte in sein Ohr,
so dass er nicht bemerkt wie sehr sie ihn vergiften und letzten Endes gibt er
ihren Wünschen statt. Sie wollten, dass wir nach dem Norden ziehen. Sie
allein.“ Noch immer zeigte Chrysippos keine Regung, sondern verharrte starr auf
seinem Platz. Diese Launen des Themistokles waren gefährlich und wenn er noch
dazu getrunken hatte konnte es schnell schlimm enden. „Mein Aufstieg und das
Gewicht meines Wortes beim König waren ihnen ein Dorn im Auge, denn sie dulden
Niemanden in ihren Reihen, Niemanden, der ihre Macht schmälern könnte und erst
recht nicht, wenn er aus der Provinz kommt.“
Der Zorn stieg in Themistokles auf, während er sprach und
alles wurde ihm ins Gedächtnis gerufen. Ein herrlicher Frühlingstag war es
damals gewesen, als er die königlichen Hallen von Poseidonis betreten hatte.
Ein blauer Himmel hatte sich über die Erdscheibe gespannt und der weiße Marmor
des Palastes glänzte in der Sonne. Der König wolle ihn sprechen, hatte man ihm
gesagt und voller Zuversicht war er vor den Thron getreten und voller Hoffnung
auf die Botschaft gewartet. Nach Norden solle er ziehen und seinem König zur
Ehre gereichen, indem er das Reich vergrößere. Er wusste was es zu bedeuten
hatte in diese trostlosen Landstriche entsendet zu werden. Seine Feinde am Hof
hatten von ihrem Einfluss gebrauch gemacht und ihn in die Verbannung geschickt.
Eine Verbannung unter dem Deckmantel höchster Würden freilich, doch dennoch
blieb es eine Verbannung.
„Welch fruchtloser Feldzug sollte dies denn sein“, ergriff
Themistokles nun von neuem das Wort, „gegen ein längst besiegtes Volk, gegen
Piraten, die seit vielen Jahren keine Gefahr mehr darstellen.“ Wie konnte
dieser verfluchte Chrysippos bei diesen Worten nur so ruhig bleiben? Weshalb
zeigte er keine Erregung? War er nur ein verfluchter Feigling, der sich
glücklich schätzte einer Schlacht entronnen zu sein? Oder, und das wog noch
viel schwerer, glaubte er ihm etwa nicht? Mit starker Hand schleuderte er den
Becher, welcher das Haupt des Freundes nur um wenig verfehlte, gegen die Wand,
so dass nichts blieb aus einige tönerne Scherben auf dem Boden. „Und nun hat
ein anderer diese Piraten unterworfen, eine Schar Hyperboreer womöglich, und
wir selbst sind nun die Herren einer toten Stadt“, längst war die Stimme nicht
mehr ruhig und beherrscht, sondern zu einem Schreien angewachsen. Und als hätte
ihn die Gewalt der eigenen Stimme aufgeweckt hielt Themistokles plötzlich inne.
Welch jämmerliches Verhalten dies doch war. Es gehörte sich nicht für einen
Heerführer sich im eigenen Mitleid zu suhlen wie ein Schwein im Schlamm. Mochte
die Situation so verfahren sein wie sie auch wollte, so musste er dennoch nun
Stärke zeigen. Gerade noch im rechten Moment erfolgte dieser Sinneswandel, denn
Augenblicke später pochte es an der Tür. „Tretet herein“, war alles was
Themistokles darauf entgegnete und beide Männer blickten gespannt auf das Tor,
das sich mit einem Ächzen öffnete. „Verzeiht mein Herr“, erklang die Stimme des
jungen Soldaten, der demütig sein Haupt senkte, „es befindet sich jemand am
südlichen Tor.“ Dies war die erste gute Nachricht dieses lausigen Tages und sie
versetzte Themistokles unmittelbar in helle Aufregung, die er jedoch zu
verbergen versuchte. „Wer ist es? Sprich rasch“, forderte er den Soldaten
ungeduldig auf. Womöglich waren es gar die Hyperboreer, die diese Gemetzel
vollführt hatten. „Es sind Echsen, Herr.“ Und schon war die Erregung des
Heerführers verschwunden, doch hatte sie sich nicht einfach aufgelöst, sondern
in rasenden Zorn verwandelt. Insgeheim bedauerte es Themistokles den Becher für
eine solche Nichtigkeit verschwendet zu haben, denn ein Wurf gegen den Schädel
dieses Einfaltspinsels erschien nun als eine ungeheure Verlockung. „Du wagst es
mich zu stören, nur weil sich ein paar Tiere vor den Toren herumtreiben?“ Ein
drohender Unterton von fürchterlicher Deutlichkeit lag in der Stimme des
Heermeisters, dessen Hände sich zu Fäusten geballt hatten. „Nein, gewiss nicht
Herr“, fuhr der verschreckte Soldat nun mit zitternder Stimme fort, „es sind
keine gewöhnlichen Echsen, denn sie gehen aufrecht auf zwei Beinen und tragen
Waffen.“ Das war in der Tat unglaublich und schien eher einer Fabel oder einer
Sage zu entspringen, doch dieser Knabe vor ihm erweckte nicht den Anschein als
würde er es wagen seinen Herren hinters Licht zu führen. „Sie wünschen euch zu
sprechen, Heermeister.“ Themistokles trat wieder an das Fenster und blickte auf
die Stadt, auf seine Stadt hinab. „Bringt meine Rüstung.“ Noch war die Sonne
nicht hinter den Hügeln versunken und auch die Wolken hatten es nicht vermocht
sie zu verdecken. War dies das Zeichen einer aufkeimenden Hoffnung?