Elisabeth Zieger

Meine erste Weichnachtserinnerung

Da war dieser vollbesetzte Kleinbus. Alles Kinder zwischen 6 bis 12 Jahren die fröhlich scherzend sorglos durcheinanderredeten. Ich erinnere mich nicht mehr an ihre Gesichter oder gar Namen. Nur einzelne Augen, Lachmünder, Muster von Schals und Mützen sind mir als flüchtige Bildfetzen im Gedächtnis geblieben.

Das kleinste Mädchen furchtbar stolz, mit strohblondem Kopf, wahrscheinlich eine der Jüngsten, durfte vorne auf dem Beifahrersitz sitzen und zugegeben, das war ich.

Ich lauschte auf die munteren Gespräche hinter mir, konnte jedoch den wirklichen Inhalt im Drunter und drüber unfertiger Wortgruppen nicht recht erfassen. Lediglich die Melodie der auf und ab wogenden Kinderstimmen klingt  mir heute noch erstaunlich genau im Ohr.

Ich schaute hinaus. Die Straße glitzerte frostig, dass es mir wie heimtückisches Blinzeln vorkam und Angst machte, da ich damals ohnehin jegliche Autofahrten verabscheute!

Ansonsten gab es natürlich ein paar Sterne, den Mond umraucht von schwarzblauen Wolkenfäden und den Schnee der atemberaubend rein und schimmernd schön und schauerlich kalt war, dass es mich ruhig machte zugleich aber auch mein Herz in begeisterter Erwartung klopfen ließ.

Wasserrinnen liefen übers Fenster und malten Linien gräulicher Schatten über die Gesichter. Hinten wurde es stiller. Wir froren. Man presste sich fester in die dicken Anoraks, dass es raschelte und knisterte. Ich hatte vergessen wohin wir fuhren. Merkte und hörte ja generell nichts, sobald etwas Wichtiges angekündigt wurde.

Mein Blick verlor sich im „Draußen“: Baum, Baum, Baum…Wir hatten den Wald erreicht. In engen Kurven den Berg hinauf arbeitete sich das Auto, die Scheinwerfer fraßen sich durch das plötzlich über uns hereingebrochene Dunkel als ihnen ein fremdes Leuchten entgegnete: Laternen mitten im tiefsten Winterwald! Als hätte es sich die ganze Zeit in den finsteren Schatten der hohen Fichten versteckt, stand mit einem Male ein mächtiges schlossähnliches Gebäude von welkem Efeu umrankt vor uns auf.  Der Wagen passierte ein romanisches Bogentor. Die mächtigen grauen Felssteine des Klosters schienen ihre gesamte Schwere auf die Schultern des Betrachters zu übertragen, reservierte Wichtigkeit ausstrahlend. Aus den kleinen schartenartigen Fensterchen drang eine fahle Helligkeit nach Außen. Schneeflocken wirbelten durch die frostklirrende Luft. Für einen Moment verschwamm das monumentale Bild im Dampf der aus meinem Mund quoll.

Staunend standen wir da, blickten auf und nieder. Betrachteten verwundert die Engelstatuen, wie sie beseligt lächelnd  im eiserstarrten Brunnen spielten; gleich unbemerkt erfrorenen Geistern. Eine große Tür hinter ihnen öffnete sich. Grelles Licht stach ins Auge! Raunen und Murmeln, das meine Faszination für ein paar Minuten ausgeblendet hatte, kehrte zurück und mir wurden die Noten in den steifen Fingern wieder bewusst. 

Knirschend den überfrorenen Schnee durchstapfend folgte ich in warme Innere. Ein unausgefüllter Vorraum, ein paar alte Gemälde, eine Tafel mit Psalmen, ein Kreuz sowie eine müßige Frau in weiß geleiten uns die ziemlich breite Treppe empor in einen ebenso breiten Flur. Medizinischer Geruch prickelte mir unangenehm scharf in der Nase. Auf kleinen Tischchen waren zwischen klinisch kahlen Wänden schmächtige Tannenzweige und ein wenig Weihnachtsdekoration platziert, während  einige Kerzen schamhaft gegen die kalten Röhrenlampen und die alltägliche Trostlosigkeit anzuleuchten versuchten.

Türen öffneten sich und der Medikamentgeruch nahm zu, mischte sich mit weiteren wenig identifizierbaren Aromen. Noch mehr der weiß gekleideten Frauen tauchten auf. Sie schoben Menschen in Rollstühlen auf den Gang hinaus. Einige kamen auch von selbst, an Infusionen geklammert oder auf Stöcke und seltsame Wägelchen gestützt. Sie schienen noch älter zu sein als das Gemäuer um sie herum, mit grauen Haaren und mangelhaftem Gebiss. Einige lächelten. Manche schauten ernsthaft und interessiert. Auch neugierig.

Auf jeden Fall waren sie mir unheimlich in ihren Nachthemden, wie Spukgestalten aus einer Gruselgeschichte: Ihre runzeligen Gesichter und die fleckige, gräulich transparente Haut fand ich mindestens ebenso anziehend wie auch abstoßend.

Die vielen interessiert wohlwollenden Blicke täuschen kaum über die teils erbärmlich mageren, verfallenen Gestalten hinweg.

Zaghaft spähte ich in eins der Zimmer vor mir. Ein dünner sehniger Arm ragte aus einem der Metallbetten auf, die noch weißer, noch kälter als der Schnee aussahen.

Das Zeichen unserer Chorleiterin! Wir sangen zuerst ein paar Choräle, dann bekanntere Weihnachtslieder, dass die Alten gütig lächelten und uns Kindern hier und da heimlich etwas zusteckten, für das wir uns auch dann bedankten, wenn wir es nicht mochten.

Stille Nacht war das letzte Stück und in Gedanken war ich schon daheim bei meinen Spielsachen. Ich blätterte die Noten zurecht und als ich nach getaner Pflicht stolz und zufrieden in die Runde schaute: Der Arm mir gegenüber zitterte! Tränen!!

Noch heute sehe ich sie weinen und wanken. Nach all den Jahren die, die meisten nun gewiss schon tot sind. Spüre die ewig wohlbekannten Zeilen in meinem Hals brennen, denke daran wie trübe blassblaue Augen feucht geworden waren und geleuchtet hatten und wie das Wasser über eingefallene Wangen rann, wie sich die Gesichter bewegten, ergriffen verzerrten, Lippen bebten.

Ein Mensch mit Arm hatte da hinten gelegen! Es waren alles Menschen, die alt und faltig um uns gestanden hatten und jetzt so unerwartet überwältigt zurück in ihre Metallbetten gebracht werden mussten.

Ich sehe ihr Weinen, den Schmerz der auch mir auf einmal so weh tut! Spürbar war die Schwere ihrer Sehnsucht, die Heftigkeit ihrer Erinnerungen. Erahnen ließen sich die früheren Kinder hinter den sonst matten Mienen, den gebrechlichen Leibern.

Heiße Tränen tropften von meinem Kinn, auf die Notenblätter. Farbe verschmierte.

Ich dachte noch an meine Großeltern, Eltern, Verwandten, an meine Lehrerin und meine Freunde, auch an Leute, die ich kaum kannte, an irgendwelche Kinder und Personen und Alten überall in der Welt, die Weihnachten zusammen feiern würden und nicht wussten wie traurig es hier ist, wie einsam, da wurden die Türen geschlossen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.12.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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