Enno Ahrens

Weihnachtliches Familientreffen

Nach längerer Abstinenz traf ich mich mit meinen älteren Brüdern Karl und Uwe am Heiligabend bei den Eltern wieder und meine Freude hob an wie ein gasgefüllter Luftballon. Leider haben Ballons die Neigung zu zerplatzen.

Mutter war noch am Putzen, während Vater ein Vogelhäuschen bastelte. Und zwischen Karl, Uwe und mir herrschte Einigkeit; wir wollten uns nicht gegenseitig beschenken. Der Duft von Gänsebraten steigerte meine Stimmung noch und Schneeflocken wie Wattebäuschchen schwebten gegen die Scheibe des Wohnzimmerfensters.

Dann wollte ich die Lichterkette über den Christbaum hängen. Aber Karl und Uwe hefteten sich an das Kabel und keiften einstimmig: „Wir legen die Lichterkette an. Schließlich sind wir in der Elektrobranche. Du kannst schmücken.“ Dazu hatte ich absolut keine Ambitionen. Doch ich gab nach. Dann rief Mutter zum Festtagsmenü.

Die Eltern hatten ihre Möhrendiätteller vor sich, und ich lechzte nach den prallen Keulen der Gans, leider pietätvoll, wie ich nun mal bin, einen Moment zu lange, denn im Nu hatten Karl und Uwe sich jeder einen Schenkel abgetrennt. Ich trat in den Hungerstreik und trank nur von dem Rotwein ein wenig.

Wie widerlich Karl schmatzte und diese lüsternen Augen dabei. Und wie abscheulich sah doch Uwes Jackett um den Halsausschnitt herum aus. Lauter Schuppen waren darauf gerieselt. Mutter schaute besorgt zu mir herüber und sagte: „Junge, nun iss doch. Es ist genug da.“ - Nein, es fehlte eine Gänsekeule.

Am Spätnachmittag, Mutter war noch am Backen, machte sich Vater einen Spaß und verkleidete sich als Weihnachtsmann mit den Sachen von früher. Die Knopfleiste am Mantel über seinen Bauch dehnte sich. Vater trabte hinaus in den Garten und polterte bald wieder niesend in die Wohnstube herein. Er drohte lachend mit der Rute: „Man pinkelt aber nicht in den Schnee.“ Uwe und Karl bezichtigten mich: „Enno muss es gewesen sein. Wir beiden haben ja nichts getrunken.“ „Soso“, explodierte ich.

„Es war ein Kaninchen.“ beruhigte Vater uns, entzündete die Kerzen, holte Mutter aus der Küche und sie gaben jeden von uns einen Hundertmarkschein. Sofort entspannte sich die Atmosphäre, bis Vater den Sack ausschüttete. Er meinte etwas verlegen: „Irgendetwas musste ich ja in den Sack stecken. Vielleicht kann sogar jemand von euch den Plunder gebrauchen.“ Eine wunderschöne Spieldose und eine angefressene Puppe präsentierten sich.

Ich überlegte, ob ich die Spieldose lieber in meiner Spiegelvitrine oder auf meiner Barsäule platzieren sollte, als sich Uwe ihrer bemächtigte. Diesmal protestierte Karl und ich befand mich plötzlich nicht mehr in der streitenden Minderheit. Und kühn brach es aus mir heraus: „Mir steht die Spieldose zu. Ihr habt die Gänsekeulen verzehrt!“ Karl lenkte ein, er sammle neuerdings solche Dosen, und so würde er bei einem Verzicht darauf am meisten leiden. Zudem behauptete er, Uwe könne nichts mit dem Spielzeug anfangen, er wolle ihn nur verärgern.

Die Kontrahenten bedienten sich eigensinniger Streitgepflogenheiten, mit dem Erfolg, dass Uwe sich wütend mit seiner Beute verabschiedete, und ich hatte nur noch einen Gegner, an dem ich den Frust über mein erlittenes Unrecht abreagieren konnte. Ich zwinkerte Mutter zu und wandte mich an Karl: „Ich überlasse dir die Puppe. Für dich wird es Zeit, Vater und Mutter endlich Enkelkinder zu bescheren, die damit spielen können.“

Ich wusste, dass Karl dieses Thema hasste, denn mit Frauen gab er sich nicht ab, weil er Ängste hatte, ihnen gegenüber zu versagen. Karls Schädel lief blaurot an. Er schmiss die Puppe fort, die Mutter ihm inzwischen in die Hand gedrückt hatte, stokelte hastig hinaus zu seinem Cabriolet und fuhr mit aufbrausendem Motor davon.

Mutter jaulte, und ich befürchte, erst wenn es Gänse mit drei Beinen gibt, treffe ich mich mit meinen Brüdern wieder.

*

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.06.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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