Hartmut Pollack

Altersdemenz

 
 
Altersdemenz
 
Seltsame, mich irritierende Dinge waren geschehen. Meine Schwester hatte mich angerufen. Es müsse über Mutters Altersaufenthalt entschieden werde. Ich solle sofort kommen. Sie selbst wäre überfordert. Ich hätte doch nach der Schule sicher ein paar Stunden Zeit.
Es war ein schlechter Arbeitstag. Ich war nicht bei der Sache und kam nicht zu den Kindern rüber. Mein Kopf arbeitete, mein Herz war nicht dabei. Ich sehnte das Arbeitsende herbei.
Das Auto trug mich die knapp achtzig Kilometer zum geplanten Treffen. Meine Frau hatte es abgelehnt, zu diesem Treffen mitzufahren. Ich kannte auch ihre Meinung zu meiner Mutter.
„Deine Mutter kommt mir nicht in unser Haus. Ich trage ihr die Sachen nicht hinterher. Ich kann sie nicht leiden. Was kümmert sie mich.“
Eine eindeutige Meinung.
Später dachte ich einmal, was du deinen Eltern antust, kommt im Alter auf dich selbst zurück. Das stimmt. Heute wohnt sie allein in ihrem Haus und schaut sich eine riesengroße Wohnung an.
Meine Gedanken wirbelten im Kopf. Unbewusst machte ich, zum Glück nur kleine Fehler beim Autofahren. Ich träumte.
Ein lautes Hupen, mehr ein Aufschrei eines Lastkraftwagens hinter mir weckte mich auf. In meinen Gedanken war ich zu langsam geworden und hielt den Verkehr auf.
Fast eine Stunde brauchte ich, ehe die Wohnung der Mutter erreicht war.
Meine Körperhaltung zeigte die Stimmungslage an. Ich hing durch, würde man sagen. Abgespannt und nervös wirkte ich.
Das Surren an der Eingangstür des Hochhauses zwang mich zum Handeln. Die Tür ging leicht auf, sie wurde fast ausschließlich von älteren Menschen benutzt. Der Aufzug nahm mir den Treppengang ab. Hier war doch fast alles altersgerecht gebaut. Wo lag das Problem ?
Noch in Gedanken wird mir die Wohnungstür geöffnet. Ich werde hinein gebeten.
Meine Mutter sitzt klein, fast winzig auf dem Sofa. Um sie herum sitzen meine Schwester, mein Schwager, etliche fremde Leute. Ich liebe diese alte Frau, sie ist meine Mutter. Sie wirkt so hilflos, so allein, so verloren. Ihre Augen sind unstet, sie versteht den Vorgang nicht.
Die fremden Leute stellen sich vor, ein Amtsrichter, eine Amtärztin, ein Hausverwalter. Kalt wirkt es, hier wird ein Leben amtlich verwaltet, denke ich in dem Moment.
Mutter hatte uns das Leben menschlich gestaltet. Es war ein Leben voll  mit Freundlichkeit, voller Liebe. Wie oft strahlten Mutters Augen, wenn sie mich sah. Wie liebevoll hatte sie meine Freunde aufgenommen. Welche Mühe hatte sie sich gegeben, um ihre drei Kinder gut aufzuziehen.
Ich habe später so oft bedauert, dass ich müde und ….. ja dieses „und“ weiß ich bis heute nicht …  zu diesem Treffen gefahren war.
Verlegen und unruhig schaue ich in die Runde.
„Wir haben heute eine wichtige Entscheidung zu treffen,“ sagt die Stimme meiner Schwester. „Karl kann das nicht mehr. Wir brauchen deine Hilfe.“
Hilfe, das Wort beeindruckt mich. Hilfe will ich gerne geben.
Ich bin das jüngste der drei Kinder, also helfe ich gerne. Nur ich fühle mich so unsicher, so zerschlagen. Ahnt mein Herz, dass ich einen Fehler machen werde ? Meine Seele kämpft gegen mich. Das weiß ich auch erst später.
Meine Mutter schaut mich hilflos an. Ich weiß, dass sie an Altersdemenz leidet. Sie weiß nicht, was hier geschehen soll. Warum schreit mein Herz nicht auf ? Ich werde doch auch einmal alt.
Der Hausverwalter erklärt: „Die alte Frau, (menno, sie meine Mutter) verliert ab und zu die Kontrolle. Das stört den Frieden im Haus.“
Fünf Köpfe nicken.
„Ich verliere ab und zu auch die Kontrolle.“
Doch dabei störe ich keinen anderen Menschen, bekomme ich zu hören.
Angepasstes und ruhiges Leben ist die Richtschnur unserer Gesellschaft. Außenseiter stören und müssen weggesperrt werden. Alte Leute werden zu Außenseitern, wenn sie störend empfunden werden.
Wo bleibt der Hinweis auf ihre Lebensleistung. Sie haben für diese Gesellschaft gearbeitet und sie mitgeschaffen.
Jetzt werden sie lästig.
Der Hausverwalter sagt, ich empfinde den Ton als frech: „Die alte Frau stört den Frieden im Haus. Sie muss hinaus.“
Hilfe suchen meine Augen bei meiner Schwester, bei meinem Schwager. Den Vater meines Schwagers hatten sie vor Jahren in ihrem Haus aufgenommen und bis zu seinem Tode betreut.
Unsere Mutter sollte nicht gut genug dafür sein?
Verständnislos schaue ich sie beide an.
„Ihr wohnt so dicht bei Mutti, Was soll das heute hier bringen. Ich verstehe das nicht mehr. Ich wohne viel weiter entfernt. Ihr habt doch so viel Gutes durch sie gehabt.“
„Karl kann das nicht mehr leisten. Wir können keine Verantwortung für Mutti übernehmen. Das musst du jetzt tun.“
Meine Unsicherheit wächst. Mit einer solchen Entwicklung habe ich nicht gerechnet.
„Die alte Frau (verdammt es ist Mutti) muss kontrolliert leben,“ erklingt die Stimme der Amtärztin. „Sie weiß allein nicht mehr, was sie tut.“
Wenn ich alt werde, muss ich also kontrolliert leben. Kontrolle geht über Freiheit. Ich muss mich anpassen, das ist kontrolliertes, freies Leben.
Schauer laufen über meinen Rücken. Ich weiß manchmal auch nicht, was ich tue. Muss ich auch unter Kontrolle ?
Der Amtsrichter stimmt der amtlichen Kollegin zu. Das Amt ist sich einig.
Was soll ich hier noch ?
Die Stimme des Amtsrichters klärt mich auf: „Ihre Schwester hat eine Betreuung der Mutter abgelehnt. Wir können also einen hauptberuflichen Betreuer bestimmen oder … (Pause) Sie sind bereit, die Betreuung Ihrer Mutter zu übernehmen. Ich werde auf Anraten der Ärztin eine Überweisung in eine geschlossene Anstalt anordnen. Als Betreuer haben Sie besondere Rechte. Wollen Sie das annehmen ?“
In meinem Kopf schlägt es ein.
Ich hatte mit allem gerechnet. Doch dies ohne Vorwarnung trifft mich hart.
Meine Schwester beruhigt mich, mein Schwager spricht mir gut zu. Er scheint meine Unsicherheit zu fühlen.
„Geschlossene Anstalt, ich begreife nicht.“
„Dort ist sie sicher aufbewahrt und hat ihre Pflege,“ erklärt mir die Ärztin.
Ich wünsche der Ärztin, dass sie auch im Alter geschlossen verwahrt wird.
Mein Kopf sträubt sich, dies Gespräch zu ordnen. Ich fühle mich schwach und überfordert. Wie soll ich es richtig machen ? Was soll ich machen ?
Sichere Aufbewahrung soll die Zukunft unseres Alters sein ? Früher hatten wir die Großfamilien. Vom Enkel bis zu den Großeltern waren alle in einer behüteten Umgebung. Trotz mancher Spannungen war es Familie.
Heute haben wir kontrollierte Aufbewahrung. Anonym unter vielen Unbekannten, sich nicht zurecht finden. Suchen nach den Resten der eigenen Identität, jedoch sicher kontrolliert und behütet aufbewahrt. Gänsehaut fühle ich, alles sträubt sich. So sehe ich mein eigenes Altern kommen. Das kann nicht das Ende meines Lebensweges sein. Ich sträube mich.
Versteh ich die Welt noch richtig ?
Unsere Eltern sorgten für uns, machten sich alle Mühen mit der Ausbildung, schafften den Grundstein unseres Lebens und sollen nun kontrolliert aufbewahrt werden.
Meine Schwester reißt mich aus meinem Denken: „Übernimmst du den Betreuer oder soll es ein Hauptamtlicher machen?“
„Ich übernehme Verantwortung,“ ist meine Antwort.
„Dann schreibe ich jetzt Ihren Betreuerausweis aus,“ lächelt der Richter.
„Aber Ihre Mutter muss in eine geschlossene Anstalt, das ordne ich an,“ die Ärztin.
Ich bin in der Minderheit und gebe nach.
Meine Schwester lächelt, mein Schwager auch, alle sind zufrieden, nur ich selbst nicht.
Keiner hat meine Mutter gefragt, sie nicht einmal bewusst angeschaut. Sie war nicht als Mensch anwesend, sie war menschliches Objekt. Es schien einigen doch unangenehm zu sein. Wie kalt kann unsere Gesellschaft sein.
Mutters Augen sind leer. Sie versteht es nicht. Sie hat auch vorher nicht verstanden, warum ihre Kinder im Alter nicht für sie da sind.
Ich selbst weiß auch nicht, weshalb ich es nicht zu einem Machtkampf um den Aufenthalt bei uns im Hause habe ankommen lassen. Klangen mir zu sehr diese Worte in den Ohren: „ Ihre Scheiße musst du aber wegmachen und das Essen auch für sie.“ Ich kann es nicht beantworten.
Nur eines wusste ich sehr schnell. Es war ein Fehler, diese Frau in eine geschlossene Anstalt wegzusperren. Dort konnte sie nicht lange überleben. Es war so fundamental gegen ihre Natur, dies ging nicht gut.
Diesen Fehler, sie in eine geschlossene Anstalt überweisen zu lassen, den ich noch heute bereue, habe ich später wieder gut machen können. Das war eine abenteuerliche Geschichte.
Doch heute sage ich immer noch. Ich habe mich in meinem Leben nie so geschämt wie in dem Moment meiner Zustimmung zur Einweisung in eine geschlossene Anstalt. Meine Mutter hatte es begriffen. Sie dankte es mir auf ihre Art.
Im Sterben haben mir ihre Augen zugelacht.
 
© pk 08 / 07

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Über den Tag hinaus zu schauen, heißt für mich, neben dem Alltag, dem normalen Alltäglichen hinaus, Zeit zu finden, um das notwendige Leben mit Gefühlen, Träumen, Hoffnungen, Sehnsüchten, Lieben, das mit Lachen und Lächeln zu beobachten und zu beschreiben. Der Mensch braucht nicht nur Brot allein, er kann ohne seine Träume, Gefühle nicht existieren. Er muss aus Freude und aus Leid weinen können, aber auch aus vollem Herzen lachen können. Jeder sollte neben dem Zwang zur Sicherung der Existenz auch das Recht haben auf romantische Momente in seinem Leben.

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