Dietmar Penkert

Nicht alle Engel haben Flügel

 
 
 
Es war ein Tag vor Weihnachten in einer großen Trabantenstadt. Das Weihnachts-Business und der Stress erreichten ihren Höhepunkt. Schnell und angespannt fuhr man noch in die Shopping Center und Kaufhäuser, um letzte (oder erste) Geschenke zu ergattern. Tausende bunter Lämpchen und Werbeschriften in Neon leuchteten an Geschäften und in Vitrinen.
 
Ein auf Hochglanz polierter schwarzer Porsche Cayenne schob sich in eine der Parklücken des riesigen Parkplatzes vor dem Einkaufszentrum DESIRES. Dort ging es schon geschäftig zu; Autos fuhren heraus, andere kamen an, einige drängelten sich vor den einen oder anderen wartenden Wagen, um bloß der Erste zu sein. Schließlich war Zeit doch Geld, und das vor allem an Weihnachten.
Eine Frau Anfang der Vierziger mit ordentlich nach hinten gebundenen blonden Haaren, einem teuren Modemantel, Jeans und dunkelbraunen Wildlederstiefeln stieg aus dem geräumigen Porsche. Sie hatte ein sehr gepflegtes Erscheinungsbild und sie gab sich souverän und selbstsicher. Ja, sie war eine knallharte und erfolgreiche Businessfrau, mindestens genauso knallhart und erfolgreich wie ihr Mann, der im Börsengeschäft tätig war. Eigentlich bräuchte sie gar nicht arbeiten, da sie mit einem zweitausend Quadratmeter Grundstück und Geldanlagen über zwei Millionen Euro genug hatten, um gut leben zu können. Doch die Arbeit brauchte sie einfach für ihr Image und ihr Selbstbewußtsein.
 
Die Frau öffnete die hintere Türe. Auf der Rückbank saßen ihre zwei Kinder, die sie zum einkaufen mitschleppte. Ihr Mann war ja noch im Büro. Das Mädchen war zehn Jahre alt und war ebenso schick und ordentlich angezogen wie ihre Mutter. Der Junge war dreizehn Jahre alt und war momentan in einer Contra-phase. Was schön oder harmonisch war, das war uncool und scheiße. Eigentlich war auch Weihnachten scheiße. Rap dagegen war cool.
„Nun steigt endlich aus, wir sind so schon spät dran!“, drängte die blonde Frau ihre beiden Kinder und war schon vor dem Einkauf recht gestresst. Sie war Immobilienmaklerin und hatte zwar heute ein gutes Geschäft mit einer großartigen Provision gemacht, war aber von dem Klienten angenervt, einem älteren Pärchen, das einfach was störendes an sich hatte (wahrscheinlich einfach deshalb, weil sie zu redselig und wohlgesonnen wirkten).
 
Die Frau, die ihre beiden Kinder förmlich hinter sich herzog verriegelte den Porsche mit dem Fernbediener und schritt zielstrebig in Richtung Einkaufszentrum, das schon von hundert Meter Entfernung hell aus der Nacht hervorleuchtete und zum Konsumieren einlud.
Vor dem Eingang war noch die Straße, die Fußgängerampel war gerade rot. Ein paar Meter links neben ihnen wühlte ein Obdachloser in einem Mülleimer vor einem Zeitungskiosk an der Ecke. Die blonde Frau würdigte diesen keines Blickes. Ihre beiden Kinder schauten in seine Richtung. Dieser merkte kurz auf und lächelte dem Mädchen entgegen, das ihn irgendwie nachdenklich beäugte. Die Mutter, die das bemerkte zerrte die beiden Kinder rasch weiter, nachdem zum Glück die Fußgängerampel endlich grün wurde.
„Kommt schon!“, rief sie ungeduldig.
„Frohe Weihnachten“, sagte der Obdachlose leise, was aber nur das Mädchen hörte. Der Obdachlose war vielleicht vierzig Jahre alt und trug einen grauen Sommerparka, der sicher nicht für solche kalten Wintertemperaturen gedacht war. Obwohl er einen filzigen Bart und schulterlange Haare hatte, war sein Gesicht nicht unbedingt das eines typischen ‚Penners’, dachte sich das Mädchen im Stillen. Zerfurcht von Falten der Verbitterung und Lebenshärte, strahlten seine Augen indessen einen merkwürdig liebenswerten Glanz aus. Das war der erste Eindruck.
 
DESIRES begrüßte seine Einkäufer mit zwei mächtigen künstlichen Weihnachtsbäumen mit heller bunter Weihnachtsbeleuchtung, die vermutlich schon alleine eine Million Watt benötigte. Nach dem Betreten durch die automatische Schiebetür führte der Teppich durch den wie von einem Fön beheizten Flur zu einer erneuten Schiebetür schließlich in die riesige Lounge. Auch hier überall Lämpchen, Beleuchtung, aufwendige Weihnachts- und Themendekos, animierte lebensgroße Weihnachtsmann-puppen und natürlich Infoständen und Beschilderungen, die einen durch das riesige Kaufhaus navigieren sollten.
Die Frau setzte die beiden Kinder im Erdgeschoß bei dem kleinen Kinderpark ab, wo sie sich während ihrer eigenen Einkäufe in den Modegeschäften vergnügen sollten. Sie gab den beiden fünfzig Euro in die Hand und meinte:
„Ich komme in einer Stunde wieder in die Lounge, ihr Lieben! Und bleibt beim Kinderpark, damit ich euch ja gleich finden kann!“
Folgsam nickten die beiden und begaben sich zum den aufwendig gestalteten Kinderpark, in welchem neben kleinen Karusellen, automatischen Schaukelpferden, Kleinkinderspielplatz und Videospiel-terminals auch kleine Buden mit Süssigkeiten und Getränken bereit standen (welche selbsverständlich ihren Preis hatten. Denn auch hier verzeichnete man gerade um Weihnachten blendende Umsätze). Ein kleines Paradies für die Kinder, die man hier abstellen konnte während seiner Tour durch die Salons und Geschäfte.
 
Die Mutter der beiden fuhr sodann die Rolltreppe aufwärts, wo die für sie bedeutenden Abteilungen zu finden waren. Es war sehr viel los an diesem Tag vor Weihnachten. Man sah vielerlei Frauen wie sie selber. Da hätte man den Eindruck gewinnen können, Spiegelbilder von sich selber zu sehen; gut gekleidete, adrette Frauen in Einkaufswahn und auch mit dem nötigen Geld zu kaufen was sie sich einbildeten. Wichtige Männer (ob sie wichtig waren oder sich wichtig vorkamen sei mal gleichgestellt in dieser Masse) oder auch mal Großfamilien, für die nichts herrlicher zu sein schien, als sich von dem allgegenwärtigen Konsumwahn mitreißen zu lassen und durch die verkaufsstrategisch perfekten Läden zu pilgern.
 
In einer Stunde hatte die blonde Businessfrau bereits achthundert Euro ausgegeben. Dabei war sie noch nicht mal fertig. Wie schnell doch die Zeit vergeht, wenn man in seinem Element ist!
Sie hatte einige Armani-Hemden für ihren Mann gekauft, zwei Handtaschen, zwei Paar Schuhe für vierhundert Euro (nun, sie wollte sie – sie kaufte sie), eine Bluse für die Tochter für achtzig Euro und fünf neue X-box-spiele für den Sohn. Den neuen X-box-terminal hatte ihr Mann schon für diesen besorgt, der kannte sich da besser aus.
Angespannt und pünktlich fuhr sie schließlich die Rolltreppe wieder zur Lounge ins Erdgeschoß, wo sie ihren beiden Kindern eine kurze Verlängerung ankündigen mußte.
Es dauerte eine Zeit, bis sie die beiden im Gewühle von Kindern sah. Die beiden standen gerade am Tischchen von einem Candy-stand. Jeder hatte zwei Tüten voll Bonbons und kandierten Nüssen in der Hand. Durch das Lärmgemisch aus elektronischen Computerspielsounds, geschulten Werbedurchsagen aus Lautsprechern, Kindergeschrei und seichter Kaufhausmusik rief die Mutter:
„Noelle! Leopold! Wollt ihr noch ´n Kinder-Kir-royal? Ich muß noch paar Sachen kaufen und komme in einer Stunde wieder, okay?“
Noelle, deren Mutter diesen Namen ausgewählt hatte da sie fand, er sollte sich abheben von den gewöhnlichen, nickte und verdrehte etwas die Augen. Doch geduldig wie sie war akzeptierte sie es.
 
Es war dann acht Uhr als ihre Mutter schließlich fertig war mit ihren Einkäufen. Sie hatte über tausend Euro ausgegeben an diesem Tag. In den Händen trug sie vier Einkaufstaschen, die meisten mit Modeartikeln, Schmuck und Schuhen, eine auch mit paar Lebensmitteln. Zum Beispiel Pralinen (vor allem für kurzfristige Verlegenheitsgeschenke), Süssigkeiten für die Kinder und Trüffel.
Gernervt holte die Mutter ihre beiden Kinder ab, die sich eigentlich recht gut im Kinderpark amüsierten. Die drei verließen das überhitzte Kaufhaus und gingen wieder in die kalte Nacht.
Bitter kalte Tage sollten es demnächst werden, hatte der Wetterbericht angekündigt.
Als sie über die Straße gingen fiel Noelle wieder auf, daß der Obdachlose von vorhin noch immer dort war und nun frierend auf einer Bank vor dem Kiosk kauerte. Der Mutter fiel das nicht weiter auf, und sie ging zielstrebig in Richtung Parkplatz, um rasch in den vorgeheizten Porsche Cayenne einsteigen zu können.
Hektisch wie sie gingen fiel schließlich etwas aus einer der prall gefüllten Einkaufstüten heraus, gar nicht weit weg von der Bank auf welcher der Obdachlose saß. Noelle bemerkte es erst nach einigen Metern, der Obdachlose auch. Noelle zögerte und hielt inne, worauf auch die Mutter merkte, daß ihre Tochter nicht nachkam.
Der Obdachlose stand schwerfällig auf und näherte sich dem Objekt, das aus der Tüte gefallen war. Es war eine kleine Packung mit kandierten Nüssen und Früchten. Der Obdachlose war zuerst an dem Tütchen angekommen und bückte sich, um es aufzuheben. Erst dachte Noelle, er wolle es an sich nehmen. Sie merkte nun, daß der Mann am ganzen Körper heftig zitterte.
Noelle trat näher. Ihre Mutter rief ihr streng zu:
„Noelle, ich möchte, daß Du sofort herkommst!“
Ihre Tochter beobachtete, wie der Obdachlose ihr aber nun das Tütchen ohne zu zögern reichte und mit leiser Stimme sagte:
„Das hast Du fallen lassen, mein Kind! Da hast Du es wieder“
Die Mutter ging schließlich zu dem Geschehen und wollte Noelle angewidert wegreißen, als sie entsetzt feststellte, daß der Obdachlose in Berührungsnähe mit ihrer eigenen Tochter gekommen war. Ihr Sohn Leopold beobachtete die Szene aus gewisser Entfernung mit gemischten Gefühlen. Um den Obdachlosen war ein unangenehmer Gestank, und Leopold hielt sich die Nase zu.
Noelle lächelte dem Obdachlosen zu und sagte vorsichtig: „Dankeschön“
Ihre Mutter zog Noelle nun angewidert weg und riß sie mit, um schnell von hier fortzukommen.
„Gesegnete Weihachten“, rief ihr der Obdachlose nach und wurde darauf von einem Hustananfall geschüttelt. Noelle drehte sich nochmal zu ihm um, konnte aber nichts erwidern, da ihre Mutter sie nicht unsanft am Arm mitschleppte.
„Ciao, Penner!“, rief ihr Bruder dagegen mit unverkennbarem Spott und kam sich durchaus cool vor. In dem Moment haßte Noelle ihn, und auch ihre Mutter.
„Sag mal, spinnst Du?“, fragte ihre Mutter Noelle scharf. „Was für Krankheiten Du dir einfangen könntest! Und dann noch der Gestank, ich bekomme noch Kopfweh davon!“
Der Obdachlose, der das alles noch hörte sah den dreien mit traurigem Blick nach und trottete dann wieder zu der Bank zurück, um sich dort im Schutz mit einigen Zeitungen als Decke niederzulassen. Einen anderen Platz kannte er nicht und war auch zu krank, um einen anderen aufzusuchen. Er sah sich noch einmal nach der Familie um, die Richtung Parkplatz schritt und beobachtete noch, wie die Mutter barsch ihrer Tochter das Päckchen mit Nüssen entriß und in den nächsten Abfalleimer warf. Die Hand wischte sie sich kurz darauf an einem Taschentuch ab.
Der Obdachlose lächelte selig. Einerseits über dieses Glück, aus dem Abfalleimer eine Festmahlzeit herausholen zu dürfen. Und andererseits auch über das Mädchen, das Noelle hieß. Ja, sie war etwas besonderes, dachte er bei sich und wischte sich einige Tränen aus seinem schmutzigen Gesicht.
 
***
 
Die Weihnachtstage gingen herum. Für einige schnell, für andere langsam. Für die einen friedlich, für die anderen turbulent und stressig. Danach wurde wieder abgebaut, aufgeräumt, zur Arbeit gegangen und sich wieder dem Alltag zugewandt. Das Kaufhaus, wie auch das DESIRES gestaltete die aufwendige Weihnachtsdekoration für kommende Silvesterdekoration um.
 
Am 27. Dezember fuhr wieder einmal der schwarze Porsche Cayenne auf den Parkplatz vor dem großen Einkaufszentrum. Es war ein schneereicher Nachmittag, aber die schräge Sonne kam zur Abwechslung mal wieder heraus.
Wieder einmal hatte die blonde Businessfrau etwas zu erledigen und ihre beiden Kinder dabei. Ihr Mann war anderweitig unterwegs, war mit seinem Mercedes SLK zu Kollegen gefahren.
„Ich gehe noch zu Franco ins Beauty-studio“, kündigte die Mutter an. „Und dann muß ich noch zur Bank und zu Herbert’s wegen Mamas Lodenmantel. Ihr könnt im Kinderpark spielen oder spazieren gehen. Aber um fünf treffen wir uns pünktlich vor der Rolltreppe im DESIRES. Und – Noelle – ich möchte nicht, daß Du irgendwas von Fremden annimmst und auch mit, daß Du mit denen sprichst!“
Noelle erwiderte neutral mit dem von ihr erwarteten OK. Mit ‚denen’ meinte ihre Mutter natürlich Obdachlose oder sonstige Menschen, die für sie ‚gefährlich’ sein könnten.
 
Während die Mutter ihre so wichtigen Angelegenheiten erledigte, begab sich Leopold sofort zu den Spielkonsolen im Kinderpark, um dort in die Cyberwelt zu versinken. Noelle kaufte derweil einige Süssigkeiten. Das Mädchen war während der Feiertage recht nachdenklich gewesen. Der Obdachlose ging ihr nicht aus dem Kopf. Die Situation war nicht richtig gewesen, dachte sie sich die ganze Zeit. Sie war zwar erst zehn Jahre alt, doch hatte schon eigene Vorstellungen von einigen Dingen. Und es war ihr nicht recht gewesen, wie ihre Mutter das Päckchen mit Nüssen wegwarf. Der Obdachlose hatte ihr das Tütchen nur zurückgeben wollen, weiter nichts. Die Mutter tat so, als sei der Mann ein Verbrecher.
Der Mann tat ihr leid, und sie empfand Mitgefühl. Ihre Mutter hätte das vermutlich als töricht empfunden und gesagt: Kind, diese Leute sind doch selber schuld. Jeder kann aus seinem Leben machen was er will. –Wirklich?
Noelle hatte einen Entschluß gefaßt. Sie ging aus dem Kaufhaus heraus. Es war schon am dunkeln. Zielstrebig ging sie dann über die Straße und sah sich nach dem Obdachlosen um. Es war niemand da. Doch dann rief jemand hinter ihr plötzlich:
„Die kleine Noelle“
Sie drehte sich um, und da stand der Obdachlose. Noelle nahm all ihren Mut zusammen und ging auf ihn zu.
„Sie wissen noch meinen Namen?“, wollte sie wissen. Sie empfand den armen Kerl nicht als ekelhaft, obwohl er natürlich schon heruntergekommen aussah und in alten fleckigen Kleider gehüllt war. Aber sie fand nicht, daß er stank oder dergleichen. Nicht einmal eine Alkoholfahne konnte sie wahrnehmen.
„Gewiß, kleine Noelle“, sagte der Obdachlose mit seiner leisen Stimme. „Das ist doch ein ganz besonderer Name. Hast Du gewußt, daß Nöel das französische Wort für Weihnachten ist?“
„Nein – das hab ich nicht gewußt“, erwiderte diese. „Hören Sie, ich wollte mich nur – naja – entschuldigen. Ich fand es nicht in Ordnung, wie meine Mutter reagierte. Ich kam nicht einmal dazu, Ihnen auch Frohe Weihnachten zu wünschen“
„Das weiß ich doch, junge Dame“, erwiderte der Obdachlose. Für Noelle wirkte dieser nicht wie ein Penner, wie ihr Bruder oder ihre Mutter es immer sagte. Es war sogar angenehm, mit diesem zu reden.
„Es ist sehr nett von dir, daß Du mit mir sprichst“, fuhr der Obdachlose fort.
„Warum nicht? Ich bin nicht so wie meine Mutter. Ich wollte, daß Sie das wissen. Sie hat immer sehr viel zu tun, wissen Sie. Da vergißt Sie manchmal, nett zu sein. Verstehen Sie? Aber ich weiß, daß es Ihnen nicht gut geht und daß Sie arm sind“
Der Obdachlose lächelte traurig, aber seine Augen strahlten irgendwie eine angenehme Ruhe aus, ja sogar Weisheit, fand Noelle.
„Wie heißen Sie?“, wollte sie wissen.
„Man nennt mich Bernie, das kommt von Bernhard“, sagte der Obdachlose. Noelle nickte und lächelte schüchtern. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann fragte Noelle und besann sich auf den Grund, warum sie Bernie aufgesucht hatte.
„Wie geht es Ihnen, Bernie?“
„Mach dir keine Sorgen um mich, kleine Noelle“, erwiderte Bernie ruhig. Zögernd holte Noelle etwas aus ihrer Manteltasche. Es war ein Päckchen mit kandierten Nüssen, ähnlich wie das, welches vor einigen Tagen aus der Einkaufstüte gefallen war und ihr die Mutter entrissen hatte, um es letztendlich wegzuwerfen.
„Das ist für Sie“, sagte sie achselzuckend. „Ich finde, das hätten wir Ihnen gleich schenken sollen. Und Sie haben sicher Hunger!“
Bernie, der Obdachlose sah etwas ungläubig auf das Päckchen und strahlte im Gesicht. Bernie nahm Noelles blasse Hand sanft in seine eigenen und sah ihr mit seinem ruhigen Blick in die Augen. Noelle hatte keine Angst. Ihre Mutter wäre rasend geworden, wenn sie das gesehen hätte.
„Du hast ein großes Herz, Noelle!“, sagte Bernie eindringlich. Fast so, als spräche ein Vater oder naher Verwandter. Oder ein Geistlicher. Es schien paradox und passte eigentlich gar nicht zu dem, was man von einem Obdachlosen erwartete.
„Das ist dein Herz“, fuhr er fort. „Und das kann dir niemand wegnehmen. Auch nicht deine Mutter oder dein Vater. Du bist etwas besonderes, kleine Noelle! Die Gabe, sein Herz zu öffnen, fehlt leider vielen Menschen. – Ich danke dir für deine Großzügigkeit, und möchte dir auch etwas mitgeben!“
Damit holte Bernie etwas aus seiner eigenen Tasche seines schmutzigen Mantels. Es war eine kleine Figur. Ein Engel, der gebastelt war aus Blechteilen, wie solches von Coladosen oder Konservenbüchsen. Der Engel sah hübsch aus und schien selbst gebastelt zu sein.
„Das ist für dich und soll dich an mich und unser Gespräch erinnern“, sagte Bernie und überreichte dem Mädchen die kleine Figur. „Merke dir, meine kleine Noelle, daß Du stets auf dein Herz hören solltest. Öffne dein Herz, und dir wird große Freude zuteil. Denn das ist der Schlüssel zu Liebe und zu Frieden“
„Dankeschön“, sagte Noelle und sah Bernie erstaunt an, denn so etwas hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Solche Worte hatte sie nicht einmal von ihren eigenen Eltern gehört. Dann sah sie kurz zum Kaufhaus herüber und bemerkte, daß sie schon eine geraume Zeit weg gewesen war.
„Ich muß jetzt gehen“, sagte Noelle.
„Ist gut, Noelle. Gott beschütze dich!“, sagte Bernie lächelnd und winkte ihr, als Noelle sich aufmachte, zum Einkaufszentrum zurück zu laufen. Um sechs Uhr sollten sie und ihr Bruder ihre Mutter treffen.
Sie war schon fast an der Eingangstür, da fiel ihr noch etwas ein. Bernie lebte auf der Straße, mußte frieren und hungern. Sie wollte ihn fragen, ob sie noch mehr für ihn tun könne.
Doch sie sah ihn nicht mehr. Bernie war verschwunden. Trotzdem ging Noelle zurück, sah sich um, doch weit und breit war Bernie nicht mehr zu sehen. Kurzerhand ging sie zu dem kleinen Kiosk herüber. Ein älterer Mann mit grauem Schnurrbart und Baskenmütze saß dort drin. Sie fragte diesen, und er hob den Kopf aus seiner Zeitung die er gerade las.
„Entschuldigen Sie bitte! Haben Sie hier gerade einen Obdachlosen gesehen? Er hat einen grauen dünnen Mantel an, einen Bart und schulterlange Haare. Bernie heißt er!“
„Ach den?“, fragte der Zeitungsverkäufer ungläubig. „Meinst Du wirklich den Bernie?“
„Ja, ich hab mich gerade unterhalten mit ihm“. Der Mann sah das Mädchen stirnrunzelnd an und meinte nach einer Weile:
„Es tut mir leid, Mädchen. Aber der arme Bernie ist vor drei Tagen erfroren! War zu krank“
Noelle starrte den Verkäufer verwirrt an.
„Nein nein, ich habe mich doch gerade mit ihm unterhalten!“, entgegnete sie eindringlich. Der Verkäufer hob die Schultern und beäugte das Mädchen skeptisch.
„Du hast doch da hinten eine ganze Weile alleine gestanden! Hab ich gesehen. Hast was in der Hand gehalten und bist dann weg gegangen“.
 
Noelle sagte gar nichts mehr und ging bekümmert weg. Langsam schlenderte sie den Gehweg entlang, an der leeren Bank vorbei und in Richtung Kaufhaus.
 
Vielleicht haben nicht alle Engel Flügel, dachte sie sich still und wischte sich Tränen aus den Augen.
 
Ende

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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