Marion Gantenberg

Das Engelchen am Fenster

Es war Heiligabend. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel. Sie legten weiße Hauben auf die Dächer und einen weichen  Teppich übers Land.

Maria lag mit ihrer neuen Puppe Sandy im Bett und wollte gerade einschlafen. Neben ihr schlief ihre jüngere Schwester Eva schon tief und fest.

Plötzlich klopfte es leise ans Fenster. Maria schreckte hoch, schaute zum Fenster, sah aber nichts als die durch eine Lichterkette leicht erhellte Dunkelheit. „Bestimmt habe ich geträumt“, dachte sie und kuschelte sich wieder in ihre warme Decke. Sie hatte gerade die Augen geschlossen, als es erneut klopfte. Was war denn das?

Um Eva nicht zu wecken, schlug sie die Decke zurück und stieg aus dem Bett.  Auf Zehenspitzen schlich sie leise zum Fenster. Sie schob die Gardine beiseite, drückte die Nase an die kalte Scheibe und sah hinaus. Viel war jedoch nicht zu sehen. Die dichten Schneeflocken ließen nur wenig vom Licht der Straßenlaternen auf die Straße fallen. Doch plötzlich glaubte Maria zu träumen. Sie sah ganz langsam von unten etwas Strahlendes zu sich herauf schweben. Sie blickte direkt in ein hübsches Mädchengesicht mit blauen Augen, umrahmt von blonden Locken.  Unwillkürlich trat Maria einen Schritt zurück, doch die Neugier siegte. Sie trat wieder ans Fenster und öffnete es einen Spalt breit. Kälte kam herein, und Maria fröstelte in ihrem Nachthemd.

Das blonde  Mädchen saß auf einem weißen Etwas.  Sein helles Kleid war über und über mit silbernen Sternen bedeckt, und auf dem Kopf hatte es einen Haarreif, der ebenfalls vor Sternen glänzte und strahlte. Das Mädchen hielt seine Hände vor den Mund und blies hinein. Maria sah, dass das Mädchen vor Kälte zitterte.

„Wer bist du? Was machst du hier?“, fragte Maria leise, um Eva nicht zu wecken.
„Ich erkläre dir alles. Doch kann ich erst zu dir herein? Mir ist so kalt“, sagte das Mädchen.
„Oh ja, natürlich“, erwiderte Maria und trat einen schritt zurück, um das Mädchen hinein zu lassen.
Und so schwebte das Mädchen wie auf einem fliegenden Teppich an Maria vorbei ins Zimmer. Dann hielt das weiße Etwas an. Maria  schloss das Fenster und ging auf das Mädchen zu. Beide sahen sich einen Moment lang schweigend an.
 
„Ich heiße Alana“, sagte das Mädchen, „und das hier ist Wolke sieben.“ Während sie das sagte, klopfte sie auf das weiße Etwas. Sie sah Maria an und fragte „Willst du dich nicht zu mir setzen?“

Zögernd trat Maria noch etwas näher, tastete nach der weißen Wolke. Man sah  Wolken doch nur im Sommer am blauen Himmel dahinziehen. Und nun sollte  eine Wolke in ihrem Zimmer sein? Doch dann griff sie danach. Sie fühlte sich so weich an. Alana streckte Maria die Hand hin, lächelte ihr aufmunternd zu und half ihr auf die Wolke. Noch immer glaubte sie zu träumen, doch da sprach Alana schon weiter:
„Du fragst, was ich hier mache. Ich bin einer der Engel, die dem Weihnachtsmann helfen, die Geschenke unter den Weihnachtsbaum zu legen. Du hast keine Ahnung, wieviel Arbeit das ist Du bist Maria. Ich erkenne dich an der Puppe, die dort im Bett liegt.“

Maria hörte Alana staunend zu. Sie wusste nicht, dass Engel dem Weihnachtsmann halfen. Aber es war einleuchtend. Wie sollte der Weihnachtsmann das alles auch allein schaffen?
„Warum bist du dann nicht beim Weihnachtsmann?“, fragte Maria. „Seid ihr schon fertig?“

Alana sah zum Fenster, als suche sie etwas. Dann schaute sie wieder zu Maria. „Ich weiß nicht, ob der Weihnachtsmann fertig ist. Ich bin zum erstenmal auf der Erde. Überall sieht es so feierlich aus. Den Heiligabend kenne  ich nur aus den Erzählungen der anderen Engel. Sie beschrieben mir die Schönheit der geschmückten Zimmer und Weihnachtsbäume. Als ich dann mit den Geschenken unter einem Weihnachtsbaum stand, wollte ich nur kurz das Zimmer dieses Mädchen, dass da wohnte, sehen. Oh, dieses Himmelbett! Ein Traum. Ich legte mich kurz darauf, und muss wohl sofort eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte, war der Weihnachtsmann weitergezogen. Ob er gemerkt hat, dass ich nicht da bin?“

Alana blickte erneut traurig zum Fenster.

„Sicher wird er das“, sagte Maria mitfühlend und nahm Alanas Hand. „Er wird erst alle Kinder beschenken, und dich dann suchen. Schließlich konnte er nicht warten, biss du ausgeschlafen hast.“ Sie lachte und da glitt auch ein Lächeln über Alanas Gesicht.

„Kann ich so lange bei dir bleiben? Draußen ist es sehr kalt.“
Maria rückte noch etwas näher an Alana heran. Da sie noch immer ihre Hand hielt, merkte sie, dass sie wärmer geworden war und Alana nicht mehr so zitterte.

„Natürlich kannst du hier bleiben. Du hast vorhin gesagt, dass du dem Weihnachtsmann hilfst. Erzähl mir doch ein bisschen vom Himmel.“

„Wie ich schon sagte, gibt es an Weihnachten immer sehr viel zu tun. Aber nicht nur dann, sondern das  ganze Jahr über. Die Sterne müssen geputzt werden, damit sie in der Nacht strahlen und den Menschen den Weg weisen.  Die Wolken werden geschüttelt, damit sie weich am Himmel liegen. Und dann ist da noch Frau Holle. Sie ist auch schon etwas älter und wir helfen ihr, die Betten zu schütteln. Du weißt ja, ohne Schütteln kein Schnee. In den letzten Jahren haben wir sehr schütteln müssen, bis mal etwas Schnee fiel. Und dann gibt es noch unseren Garten. Da bin ich am liebsten.“

Alana machte eine Pause. Gespannt hatte Maria ihr zugehört.  Nun ermunterte sie Alana weiter zu erzählen. „Das ist alles so spannend. Seid ihr viele Engel? Sehen alle Engel so aus wie du? Was macht der Weihnachtsmann im Sommer? “

„Stopp, Stopp!“, sagte Alana und lachte zum erstenmal herzhaft. Sie verstummte aber sofort, da vom anderen Bett Geräusche herüber drangen. Eva hatte sich auf die andere Seite gedreht, schlief aber weiter.

„Ja, wir sind viele Engel. Nein, nicht alle sehen so aus wie ich. Einige haben so schönes dunkles Haar und dunkle Augen wie du. Wieder andere sehen aus wie ich oder haben rotes Haar und lustigen Sommersprossen auf der Nase. Es gibt auch verschiedene Hautfarben. Je nachdem aus welchem Teil der Erde sie kommen. Sie sind schwarz wie Afrikaner, ein bisschen rot wie die Indianer oder dunkel wie die Türken. Dann gibt es Engel, die früher hier auf Erden geistig oder körperlich behindert waren. Aber im Himmel sind sie alle wieder gesund. Gott hält seine Hand über sie. Doch werden sie immer noch traurig, wenn sie zur Erde schauen.“ 
„Warum sind sie denn traurig, wenn der liebe Gott sie wieder gesund gemacht hat?“, fragte Maria erstaunt.
„Sie wissen noch wie es war, als sie auf Erden gelebt haben.  Nun sehen sie, dass sich in den Herzen der Menschen nichts verändert hat. Manche Erwachsene und Kinder sehen herablassend auf ihre farbigen oder behinderten Mitmenschen. Die Weißen denken oft, sie seien besser als die Farbigen. Andere wollen im Urlaub nicht mit einem behinderten Kind an einem Tisch sitzen. Und schau mal, wie jüngere mit alten Menschen umgehen! Das ist auch nicht viel besser.“

Während sie erzählt hatte, hatte sie Maria ernst angesehen. Dieser schoss die Röte ins Gesicht und beschämt senkte sie den Kopf. Sie wusste, was Alana meinte. Hatte sie nicht in der Schule vor den Ferien einen Streit mit Samira gehabt und sie dabei Mohrenkopf genannt, weil sie farbig war? Und ging  sie nicht oft mit den behinderten Kindern an ihrer Schule sehr oberflächlich um? Gerade wenn sie Hilfe brauchten, lief sie weg und dachte, soll es doch ein anderer tun.

Alana schob ihre Hand unter Marias Kinn und hob ihr Gesicht an.

„Maria, niemand kann etwas für seine Hautfarbe oder seine Behinderung. Ich weiß nicht, warum Gott manche Menschen leiden lässt. Vielleicht um andere zu prüfen? Ich habe dir doch von unserem Garten erzählt. Überall blühen wunderschöne bunte Blumen. Weißt du, wie langweilig nur weiße wären. Manche Bäume und Blumen sind krumm gewachsen. Und gerade die Vielfalt gibt dem Garten seinen Reiz. Geh auf die Kinder zu! Beschimpfe und ignoriere sie nicht, wenn sie auf deine Hilfe angewiesen sind.“

 Maria dachte an ihre Oma. Sie saß schon im Rollstuhl, seit Maria denken konnte. Die hatte sie doch auch lieb. Und Oma hatte auch gesagt, dass sie sich bei Samira entschuldigen müsse. Nie hatte sie darüber nachgedacht, wie Samira ihre Gemeinheiten getroffen haben mussten. Gleich nach den Ferien wollte sie sich entschuldigen. Sie hatte Alanas Botschaft verstanden. War Alana vielleicht nur gekommen, um ihr die Botschaft zu bringen?

„Nun lach mal wieder“, sagte Alana, als hätte sie Marias Gedanken lesen können und ließ ihr Kinn los.“ Wer erkennt, dass er falsch gehandelt hat, kann lernen, sein Wesen zu ändern. Heute ist ein besonderer Tag. Jesus kam nicht zur Welt, damit alle Menschen Geschenke bekommen. Er war ein Geschenk Gottes an die Menschen. Gerade für die schwachen und ausgestoßenen. Und er war ein  Symbol des Friedens. Das wird immer wieder vergessen. Aber ich muss noch deine letzte Frage beantworten. Du fragtest, was der Weihnachtsmann im Sommer macht. Willst du es noch wissen?“

Maria nickte. Alana lachte wieder. „Er schläft. Aber im Herbst muss  er an die Arbeit.  Dann ist Hochbetrieb in der Weihnachtswerkstatt. Er brummt zwar, wenn man ihn weckt, doch er liebt seine Arbeit. Was gibt es schöneres, als Kinderherzen glücklich zu machen? Nun muss ich aber mal nachsehen, ob der Weihnachtsmann mich sucht.“

Alana flog zum Fenster, wo Maria von Wolke sieben stieg. Es war ein tolles Gefühl zu schweben. Auch Alana stieg ab, und beide setzten sich auf die Fensterbank und schauten durch die Scheibe in die Nacht. Es hatte aufgehört zu schneien, und die Sterne strahlten vom Himmel.

„Sieh mal dort, auf der anderen Straßenseite!“, rief Maria, senkte dann aber schnell wegen ihrer schlafenden Schwester ihre Stimme. Ein großer Schlitten mit Etwas, dass wie ein rotes und viele weiße Wollknäuele aussah, stand auf der anderen Straßenseite, sechs Rentiere davor. Der Weihnachtsmann hatte also gewusst, wo sein Engelchen geblieben war. Alana war die Freude, ihn wiederzusehen, deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Er ist es, ja! Und der Schlitten ist, bis auf die anderen Engel, leer. Wir können gleich nach Hause fliegen.“
Plötzlich fiel eine Sternschnuppe vom Himmel. „ Du darfst dir was wünschen“, sagte Alana.
„Dann wünsche ich mir, nächstes Jahr den Weihnachtsmann kennenzulernen.“

Alana dachte, dass sich da vielleicht jetzt etwas machen ließe und öffnete das Fenster. Leicht wie eine Feder schwang sie sich auf Wolke sieben und wollte gerade hinausschweben, als Maria rief: „Warte einen Moment. Ich habe noch etwas für dich. Hier, nimm meine Mütze, meinen Schal und meine Handschuhe. Euer Weg ist noch weit, und kalt ist es auch.“

„Ich danke dir“, sagte Alana, nahm die Sachen und schwebte durchs Fenster dem Schlitten entgegen. Man hörte ein lautes „Ho-ho!.“ Das dicke rote Wollknäuel  und ein kleines weißes winkten, dann zog der Schlitten himmelaufwärts. Maria sah ihnen noch eine Weile nach.

„Mach das Fenster zu! Mir ist kalt“, hörte sie hinter sich Evas Stimme. „Nach was schaust du denn? War irgendwas? Ich glaube, ich habe Stimmen gehört.“

„Du hast geträumt“, sagte Maria und schloss das Fenster.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.05.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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