Andreas Rüdig

Die Zeitreise

Wir Menschen sind einmalig. Jeden von uns gibt es nur einmal. Von unserer Zeugung bekommt wir nichts mit. Wenn sich männliche und weibliche Zelle vereinigen, ist unser Bewußtsein noch nicht vorhanden. Dieses Bewußtsein, das unser Menschsein ja erst ausmacht, kommt erst später. Wieviel wir von unserer Geburt mitbekommen, kann ich nicht sagen. Erschreckt uns das Verlassen des warmen, geschützten Mutterleibes? Blendet uns das viele Licht, das wir nun zu sehen bekommen? Ich habe keine Ahnung.
 
Ich bin ich. Und nicht du. Ich heiße Sebastian. Ich lebe in der Zeit, die der Kalender anzeigt. An frühere Leben kann ich mich nicht erinnern. Kann ich ja auch nicht. Es gibt sie nämlich nicht. Das körperliche Leben begann mit dem Liebesleben von Mama und Papa. Und mein Geistesleben? Es beginnt im Kindergarten. Da beginnt meine Erziehung; ich lerne die ersten lebenspraktischen Dinge. Die Ausbildung geht dann in der Grundschuel, Gymnasium, Ausbildung, Studium weiter. Hier wird mein Charakter geformt. HIer gewinne ich meine Lebenserfahrung. Und dieser Erfahrung geb ich dann mündlich an meine Kinder weiter.
 
Oh, diese Kopfschmerzen. Sie sind unerträglich. Zuerst das Pochen, mit dem die Vene gegen den Schädelknochen haut. Und dann dieses helle Quadrat vor den Augen. Da es teilt sich, viertelt und achtelt, dreht sich, schnell, immer schneller, spiralförmig, röhrenförmig - und endet dann ganz unvermittelt in einer mittelalterlichen Burgkammer.
 
Mein Schlafgemacht ist nur wenige Quadratmeter groß. Mosaik bedeckt den Fußboden. Die Wände sind nicht mit Holz vertäfelt; man sieht die nackte Wand. Ich bin offensichtlich reich, denn das Fenster hat Glas und einen Fensterrahmen. In der Fensternische gibt es eine Bank. Ich besitze eine Holztruhe für meine Bekleidung und einen Schrank für meine Wertsachen. Ein kleiner Ofen versprüht Wärme. Sogar ein eigenes Bett steht mir zur Verfügung. Allerdings ist es nur eine Matratze, die mit Tierhaaren gefüllt ist und in einem Bettkasten positioniert ist. "Kikeriki!" Laut und durchdringend ist der Hahnenschrei. Der Vogel nervt. Ständig krägt er viel zu früh, wei weit vor dem Morgengrauen. Mit verquollenen Augen richte ich mich halb auf, taste nach meinem Holzschuh, finde ihn endlich und ziele auf den Hahn -
 
Ein lauter, spitzer Schrei holt mich in die Gegenwart zurück. Meine Schwester steht vor meinem Bett und reibt sich ihre Arm. "Sag mal, warum hast du mit dem Wecker nach mir geworfen," fragt sie mich mit leicht verärgerter, fast schon ungehaltenter Stimme. "Oh, entschuldige, ich habe gerade geträumt, da wäre ein frecher, ungezogener Hahn, der viel zu früh am Morgen kräht..."
 
Mir graut vor dieser Nacht. Da sind schon wieder diese Kopfschmerzen. Auch das Licht, dieses wirbelnde Licht, ist schon wieder da. Ob ich auch in dieser Nacht eine Zeitreise mache? Ich hoffe, diese Zeitsprünge geschehen nur nachts. Tagsüber kann ich sie nicht gebrauchen. Schließlich muß ich zur Arbeit, mich konzentrieren, darf keinen Fehler machen - bei Tag wäre eine Zeitreise ein Fehler.
 
Mein Bart ist zu lang. Ich stehe an einem Teich, blicke hinunter auf das Wasser und sehe mein Spiegelbidl Ich sehe schauderhaft aus. Ich müßte jetzt eigentlich meine Haare schneiden. Doch oh wehe - mir fehlen Kamm, Schere und Spiegel. Gibt es die im Mittelalter schon?
Irgendetwas stimmt mit meinem Geist nicht. Es hat sich nicht vollständig vom Körper gelöst. Sonst würde ich das Mittelalter nciht nur sehen, sondern mich in der Zeit auch auskennen.
Ein kleines Ruckeln und ich bin jetzt völlig im Mittelalter. In welchem Jahrhundert bin ich eigentlich? Verflixt - zuverlässige Kalender gibt es ja noch gar nicht. Ach Gottchen sprach Lottchen - jetzt muß ich mich mit den Sachen begnügen, die ich habe. Und das sind jede Menge Flöhe und Läuse. Ob mir die Magd da drüben helfen kann? Schließlich hat sie eine brennde Kerze in der Hand.
 
Diese blöde Magd! Sie kann mit Kerze und Feuer jedenfalls nicht umgehen. Sie hat mir meinen Bart angekokelt. Ich mußte hinaus in die Stadt und einen Bader aufsuchen. Sie wissen schon - Bader sind jene Leute, die in einem Badehaus arbeiten und dort auch für die Haarpflege zuständig sind.
Ich bin mit einem dieser Bader befreundet. Er hat mich wirklich perfekt rasiert. Beide Ohren sind noch dran. Schnittwunden hinterließ er auch nur wenige. Ich kann mich wieder zuhause blicken lassen...
 
Seelenwanderung gibt es nicht. Schließlich ist der Mensch Gottes Geschöpf, ein eigenständiges Wesen, philosophisches Individuum, eigenständige Persönlichkeit und einmalig in der Welt.
Was mit der Seele nach dem Tod des natürlichen Körpers geschieht? Darüber rätselten schon viele Theologen und Philosophen. Warum Lebewesen überhaupt sterben  und nicht potentiell unsterblich sind, können mir Biologen und Mediziner auch nicht sagen.
Warum Leute an die Seelenwanderung glauben? Weil sie dafür empfänglich sind, eine lebhafte Phantasie und riesige Neugierde besitzen und sich gerne reden hören. Habe ich einen Grund vergessen? Keine Ahnung.
 
"Sebastian!" Nur noch ganz leise höre ich die Stimme meiner Schwester. "Sebastian, wach auf. Es ist 7 Uhr. Steh auf, du mußt zur Arbeit."
Nein, tot bin ich nicht. Mein Herz schlägt noch. Mein Gehirn und meine Reflexe funktionieren noch. Ich verspüre auch noch Hunger und Durst.
Nur mein Geist, nun ja, wie soll ich sagen? Mein Geist hat sich vom Körper gelöst... Er verweilt heute im Mittelalter.. im 14. Jahrhundert, um genau zu sein... 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.05.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Wörterworte von Iris Bittner



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