Guido J.F. Gdowzok

Oh, Tannenbaum - Ein Familiengeheimnis wird entdeckt

 

Onkel Hein hatte den Kamin für weit genug befunden. Mir erschien er für einen Erwachsenen zu eng, besonders für einen Erwachsenen von den Ausmaßen des Onkels. Meinen Einwand wischte Onkel Hein mit einer unwirschen Handbewegung weg. Vor einigen Jahren war ich selbst einmal in den Kamin gekrochen, an den sich nach oben verjüngenden schwarzen Wänden emporgeklettert. Den Himmel hatte ich sehen können von dort, ganz leise die Stimmen auf der Straße erahnt, das Knattern eines Motorrades. Nach einem gründlich missglückten Abstieg, aufgekratzten Knöcheln und einer Ohrfeige vom Vater wegen meiner kohlrabenschwarzen, zerrissenen Hose, hatte ich den Schornstein seitdem gemieden.

Es war Weihnachten 1954 geworden, und ich gerade vierzehn Jahre alt. Nicht mehr Kind genug, um an den Weihnachtsmann zu glauben und noch gerade Kind genug, um auf Wunder zu hoffen. Im Gegensatz zu meinen beiden jüngeren Geschwistern, vier und sieben, die mit Mama in der Stube vor dem Kamin warteten, mit leuchtenden Augen, so wie auch ich sie vor jenem Tag im Mai 1945 gehabt haben muss, stand ich mit Onkel Hein draußen am Dach und hielt die Leiter. Onkel Hein, den ich nie Vater hatte nennen mögen, hatte ein Weihnachtsmannkostüm angezogen, dass Mama, mehr schlecht aus recht, aus alten Vorhängen genäht hatte. Weihnachtsmänner hatte der Bremer Norden vor dem Krieg nicht viele gesehen, nun gab es, dank der Besatzung, einige davon. Der gerade die Leiter bestieg, trug einen gemusterten Mantel und als Gürtel eine Kordel, die nun am großen Stubenfenster fehlte.

Mit dem eingestopften Kissen sah der Onkel fast so beleibt aus, vielleicht ein bisschen schlanker um die Hüften herum, wie Vater damals. Stattlich hatte Mama das immer genannt. Mühselig stieg Onkel Hein die Leiter hinauf. Ich hielt das ächzende Stück Holz, so gut ich konnte. Ich solle bloß nicht loslassen, knurrte Hein mit tiefer Weihnachtsmannstimme und versetzte mir einen Tritt, etwas unsanfter vielleicht, als er es getan hätte, wäre ich anders als meine beiden Geschwister nicht nur Mamas, sondern auch sein Sohnemann gewesen. Endlich hatte er die Kannte des Dachs erklommen und kletterte nun dort, wo die Holzbalken durch fehlende Dachziegel für seine großen Füße einen Tritt boten, in die Höhe. Am Kamin angekommen, schwänkte er den alten Kohlensack triumphierend, als hielte er ein Gipfelkreuz in den Händen. "Nun rein mit Dir", zischte es vom Dach. Ich gehorchte.

"Nun rein mit Dir", waren die letzten Worte meines Vaters, an jedem Tag im Mai 1945 im Bremer Norden, als plötzlich die Engländer vor unserer Tür standen. Vater hatte Mama und mich in die große Kiste im Keller gesperren wollen. Ich hatte geweint. Mutter hatte gesagt, es müsse sein. Wir müssten uns verstecken, wegen Papa. Wer wüsste, was sie mit uns täten, wegen Papa. Auch Papa hatte Angst und seine Uniform an. Als sie uns schließlich aus der Kiste geholt hatten, hatte sie mir Schokolade gegeben. Nein, ich hatte nicht gewusst, wo der Papa war. Die Schokolade hatte ich behalten dürfen. Ein paar Tage später hatte wir auch zurück in unser Haus gedurft. Vater war verschwunden, in Gefangenschaft, hatte Mutter gehofft. Oder war er davongelaufen? Ein paar Wochen hatten wir Vater gesucht. Einige Jahre gewartet. Kein Wunder war geschehen. Onkel Hein war zu uns gekommen.

Als ich die Stube betrat, strahle Mama. Als ich klein war, hatte sie Vater auch so angestrahlt. Seit ein paar Jahren strahlte sie Onkel Hein an. Vielleicht sogar ein bisschen mehr als früher den Papa. Oh, Tannenbaum, begannen wir zu singen. Wie mit Onkel Hein vereinbart, ließ ich die Tür laut ins Schloss fallen. Das war sein Zeichen. Es scharrte und kratzte im Kamin. Ganz leise, kaum hörbar. Meine Halbgeschwister strahlten, Mama hielt sie im Arm. Ich stand etwas abseits. Dann plötzlich dumpf "Hilfe! Ich kann nicht ... Hilft mir keiner?" Es scharrte und kratze. Das Strahlen schwand, der Gesang verstummte. Wie in banger Erwartung drückte Mama ihre Kinder noch etwas fester an sich, in allen Augen stand nun Furcht. Es gab einen Krach, eine Staubwolke, Onkel Hein brach aus dem Kamin hervor. Er kam nicht allein. Mit ihm kamen einige Knochen, ein Schädel, der vertraut aussah, und einige kohlrabenschwarze Fetzten Stoff. Vaters Uniform. Vater war aus der Gefangenschaft zurück.

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