Pierre-André Hentzien

Unser Weichnachtstraum

Der erste Schnee fiel Mitte Dezember, und es war kalt - so kalt, daß sich Eisblumen an den Fenstern bildeten die nur ein kleines Stück der Scheibe frei ließen, durch das man das bunte Treiben auf dem kleinen Marktplatz beobachten konnte.
Ich drückte mir die Nase an der Fensterscheibe platt um auch ja nichts zu verpassen.
Was es dort alles zu sehen gab: Stände mit Weihnachtsbäumen jeder Größe und Preislage; mit Christbaumschmuck für jeden Geschmack, Holzspielzeug, eine Blechtrommel, die herrlichsten Süßigkeiten: Plätzchen, Zuckerwatte und Lebkuchen.
Es gab so viel zu sehen und ich zählte alles laut auf.
“Komm David, wir wollen essen“, sagte meine Mutter und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. “Zieh bitte die Gardinen zu. Es muß ja nicht jeder sehen, daß es wieder mal nur Suppe gibt!“, fügte sie verbittert hinzu.
Vor ein paar Wochen war mein Vater mit einer anderen Frau durchgebrannt und seit dem hatte sich unser Leben grundlegend verändert.
Nicht nur, daß wir uns finanziell sehr einschränken mußten - nein, auch daß meine Mutter ihr gesamtes Selbstvertrauen gänzlich verloren zu haben schien machte mir sehr zu schaffen.
Ich war elf Jahre alt und immer noch sicher, daß mein Vater am Weihnachtsabend, schwer beladen mit Geschenken, vor der Haustür stehen würde.
Ich dachte oft an meinen Vater; auch in jenem Moment als ich mich an den Tisch setzte um meine Kartoffelsuppe zu essen.
“Du Mama, glaubst du das Vater wieder kommt?“, fragte ich sie.
“Ich weiß nicht David, und wenn ich ehrlich bin ist mir das auch egal!“
Sie weinte wieder, wie so oft in letzter Zeit.
Ich konnte sie verstehen, denn auch ich war sehr traurig, aber ich vermied es vor meiner Mutter zu weinen.
Weniger weil ich zu stolz war meine Trauer zuzugeben, sondern vielmehr um ihr nicht noch zusätzlichen Kummer zu machen.
Ich dachte daß sie keine Zukunftspläne mehr machte; sich aufgegeben hatte.
Nach dem Abendessen wusch meine Mutter das Geschirr ab und ich las in meinem Lieblingsbuch.
Ich hatte Tom Sawyer und Huckelberry Finn schon viele Male gelesen und doch entdeckte ich immer wieder Textabschnitte die ich bis dahin nicht verstanden hatte.
Als meine Mutter den Abwasch beendet hatte setzte sie sich an den Küchentisch und schlug ihr Wirtschaftsbuch auf, in dem sie alle Ausgaben und Einnahmen feinsäuberlich aufgeführt hatte.
“Du David“, sagte sie nach einer ganzen Weile, “dieses Jahr wird es wohl kein großes Weihnachtsessen geben. Wir haben gerade noch 50 $ für diesen Monat, und ich muß noch die Strom- und Gasrechnung bezahlen.“
“Was soll´s“, entgegnete ich, “wir müssen ohnehin auf unsere Linie achten.“
Ich versuchte gelassen zu wirken, aber scheinbar gelang es mir nicht so ganz, denn meine Mutter stand auf und kam um den Tisch herum auf mich zu.
Sie drückte mich ganz fest an sich und flüsterte mir zu: “Was sollte ich nur ohne dich anfangen?“
Und nach einigen Augenblicken fügte sie hinzu: “Wir werden es schon irgendwie schaffen, hm!?“
Es hörte sich wie eine besorgte Frage an, so als ob sie meine Zustimmung erwartete, aber ich schwieg.
Tränen standen mir in den Augen und ich wollte nicht, daß mich meine Mutter weinen sah.
“Ich werde jetzt ins Bett gehen, Mama, denn ich muß morgen wieder früh raus.“
“Dieses verdammte Zeitungsaustragen, es bringt nichts ein. Wenn wir doch bloß mehr Geld hätten, dann könntest du mit deinen Freunden ins Kino gehen, so wie sie es alle am Samstag tun!“
Meine Mutter regte sich immer auf wenn sie daran erinnert wurde, daß ich jeden Tag, außer Sonntags, Zeitungen austrug, um ein bißchen Geld dazu zu verdienen.
Während sie sprach hatte sie sich zum Fenster gewandt und ihr Blick schien förmlich die Vorhänge zu durchdringen.
“Ich brauche nicht ins Kino zu gehen, ich habe doch meine Bücher“, erwiderte ich und drückte meiner Mutter einen Kuß auf die Wange.
“Gute Nacht Mama, und mach dir keine Sorgen. Du wirst sehen, eines Tages wird Vater wieder vor der Tür stehen und dann wird alles wieder gut.“
“Gute Nacht mein Junge“, sagte sie abwesend.

Ich ging auf mein Zimmer, zog mich aus und legte mich ins Bett.
Sekunden später war ich eingeschlafen.

Als ich am nächsten Morgen vom Zeitungsaustragen zurück kam schlief meine Mutter noch.
Ich machte das Frühstück und weckte sie vorsichtig.

“Ben!? Oh, entschuldige David, ich dachte dein Vater wäre zurück gekommen.“
Meine Mutter blinzelte verschlafen.
Sie mußte sehr spät ins Bett gegangen sein, denn auf dem Nachttisch lag ein Stapel Papier, auf dem sie hin und her gerechnet hatte.
“Beil dich“, sagte ich, “sonst wird der Kaffee kalt!“
“Kaffee!?“, rief sie erstaunt, “ aber der ist doch schon seit drei Tagen alle!“
“Mr. Edwards hat mir einen Dollar Trinkgeld gegeben, und davon habe ich Kaffee und Brötchen gekauft“, erwiderte ich.
Wir frühstückten und waren, trotz aller Sorgen, guter Dinge.

Ein paar Tage später sagte meine Mutter ganz unvermittelt: “Du David, ich habe einen Schulfreund von früher wieder getroffen. Er heißt Scott Williams und möchte mit uns gerne das Weihnachtsfest verbringen. “Einen Moment lang schwieg sie um nach dann rechten Wörtern zu suchen, dann fuhr sie fort: “Weißt du, er ist auch so alleine wie wir, und da wäre es doch nett, wenn wir zusammen feiern würden, oder?“
“Ach Mama, ich weiß nicht. Ich glaube nicht, daß es Papa gefallen würde, wenn du irgendwelche fremden Männer in die Wohnung lassen würdest!“, erwiderte ich.
“Versteh´ doch David“, antwortete sie, “ich habe es satt mich an Illusionen zu klammern. Vater wird nicht wieder kommen, und selbst wenn wüßte ich nicht, ob ich ihn noch ertragen könnte. Er hat alles in den Schmutz gezogen, als er sich mit dieser anderen Frau einließ.“
Ich war sehr wütend über das was sie sagte, denn es war die Wahrheit und die tat weh.
Ich David Slater, der Sohn von Ben Slater, wollte immer so sein wie er, und nun war dieser Traum nichts weiter als Schmerz für mich.
Ich schrie: “Was weißt du denn schon von Männern? Männer müssen halt so sein, aber du bist einfach zu weich, eine alte Heulsuse!“
Mir taten meine Wörter mehr weh als ihr, und sie wußte wohl wie es in mir aussah, denn anstatt mich weg zuschicken nahm sie mich auf ihren Schoß und sah mir lange in die Augen.
“Sei ehrlich“, fing sie an, “wie oft hat dich dein Vater wegen Nichtigkeiten geschlagen? Wie oft hat er Versprechungen gemacht, von denen er ganz genau wußte, daß er sie nie würde halten können!?“
Eine Weile schwieg sie, dann fuhr sie fort: “Ich glaube, daß das noch nicht einmal das Schlimmste war. Viel schlimmer ist gewesen, daß er so wenig für uns beide empfunden hat.“
Ich senkte den Blick, denn auf einmal wurde mir klar, wie mein Vater uns all die Jahre über behandelt hatte.
“Ich weiß, daß die Wahrheit schmerzlich ist David. Ich selber habe mir sie nicht eingestehen wollen. Aber mir ist klar geworden, daß dein Vater nie wieder zu uns gehören kann!“
Ich schämte mich, weil mein Traum, so zu sein wie mein Vater, ein Selbstbetrug gewesen war.
Wir schwiegen.
An diesem Abend sprachen wir nicht mehr mit einander - was zu sagen war, war gesagt worden....
Doch der Schmerz blieb.

Am nächsten Tag durchstreifte ich ziellos die verschneiten Straßen unserer Stadt.
Dieser vertraute, kleine Ort erschien mir plötzlich völlig fremd und abweisend.
“Wohin willst du eigentlich?“, dachte ich bei mir, “zu wem könntest du gehen?“

>>Mir fiel nur ein Mensch ein, bei dem ich gerne gewesen wäre.
Obwohl ich nicht einmal seinen Namen kannte, war ich sicher, daß er mir einen Rat geben konnte.
Seit einigen Wochen kannte ich diesen Mann der mein Freund geworden war.
Er war so ganz anders als mein Vater; nett, fast liebevoll.
Er hatte keine Kinder, weil seine erste große Liebe wegen eines anderen zerbrochen war - so hatte er es mir zumindest erzählt.
Endlicher ein Erwachsener der mich ernst nahm, mit mir redete und nicht versuchte mich in eine Rolle zu zwängen, die ihm gefallen hätte.
Es war eine Vertrautheit zwischen uns, in der sogar Namen überflüssig zu sein schienen.


Ich wußte, daß ich ihn liebte, aber ich schämte mich dieses Gefühls, weil man überall erzählt, daß so etwas unnormal sei.
Wir redeten viel und ich wollte unbedingt, daß er meine Mutter kennenlernte, aber er sträubte sich dagegen.
„Ach komm schon“, hatte ich ihn gebeten, “sind wir nun Freunde oder nicht?“
„Wie kannst du nur daran zweifeln“, hatte er mit einer etwas erschrockenen Mine erwidert, “natürlich sind wir Freunde, und daran wird auch niemand etwas ändern. Aber ich habe meine erste große Liebe wieder getroffen. Vielleicht kann ich sie zurück gewinnen und das möchte ich durch nichts gefährden, das mußt du verstehen!“
Ich war ganz traurig geworden und fing fast an zu weinen als ich zu ihm aufsah.
“Werden wir auch wirklich Freunde bleiben? Ich will dich nicht verlieren“, stammelte ich hervor.
“Das wirst du auch nicht, niemals“, hatte er erwidert, “ich schwöre, daß das nicht passiert!“
Wir hatten noch eine Weile in seinem kleinen Elektrogeschäft gesessen bis ich nach Hause mußte.
“Sehen wir uns zu Weihnachten?“, hatte ich bedrückte gefragt.
“Das glaube ich nicht. Ich bin nämlich schon eingeladen!“
“Na gut, dann also bis nach den Feiertagen“, hatte ich ihm im Hinausgehen zugerufen.
“Ja, bis bald!“
Ich hatte noch gehört, wie er vor sich hinsprach: “Ich wünschte du wärest mein Sohn, das wünschte ich wirklich!“
Und ich hatte bei mir gedacht: “Das wünschte ich mir auch!“

Man verschone mich bitte mit Benotungen, ohne eine entsprechende Kritik abzugeben (egal ob positiv oder negativ!).
Ich finde es feige eine 6 zu vergeben, nur weil man einer persönlichen Abneigung zuspricht, aber nicht den "Arsch in der Hose hat", derlei auch kurz zu begründen!
Und für all jene, die dies' dennoch so handhaben: Arm, wer ein Gesicht hat, das der Courage nicht erlaubt sich zu zeigen!
Pierre-André Hentzien, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.12.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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