Gerhard Kemme

Engel-Einsatz Weihnachten 2010

Bereitschafts-Warteräume der ganzen Welt strahlen ihre eigene Colaautomaten-Neon-Stimmung aus. Nur vier Engel saßen Heilig-Morgen am Frühstückstisch. Der erste Auftrag tönte aus der Sprechanlage: “Ober-Engel Theophil, sofort zum Freihafen, Alabaster-Kai!“ Flink klomm Theo die Leiter zur Ausflugsluke hinauf und ordnete auf dem Dach-Startplatz seine Flügel. Der Heilige Morgen wehte ihm frisch, aber sonnig durch das Gefieder. Schachbrettförmig ordneten sich die Straßen, Häuser, Plätze und Parks der City unter ihm. Winzige Menschenpunkte in emsiger Betriebsamkeit strömten noch in die Kaufhallen und zerrten Paketberge zu den Bussen. Mitten im Hafenbecken hatte ein rostiger Bananen-Dampfer an den Duckdalben festgemacht. “Warum quengelt er?“, rief der Kapitän fragend zur Familie an der Pier hinüber. “Der Lütte hat Bananenhunger im Leib“, antwortete der Vater bittend. Engel Routine, das Netz voller Apfelsinen und Bananen schwebte er vom Schiff zum Kai. Die Mutter nahm den Benjamin auf den Arm und der Ober-Engel packte das Obst in die Karre. Alle lachten und selbst die Wasserschutzpolizei zwinkerte. Der Engel-Betriebsfunk nervte erneut: “Theo, du musst vor Rückkehr noch zur geschlossenen Station.“ Ein vierstöckiger Betonklotz am Stadtrand ließ schon von weitem erkennen wes´ Geistes Kinder hier lebten und litten. “Stadt-Psychiatrie“, strahlte das Leuchtschild über dem Eingangstrakt. Wie ein Geldbote passierte der Cherub die Besucherschleuse und lief zur Abendrunde in den weihnachtlich dekorierten Gemeinschaftsraum. Alle saßen dort ruhig und besinnlich. Nur Sheila stampfte hin und wieder mit dem Fuss auf. “Sie leidet momentan an übersteigertem Konsumrausch. Der ganze Geschenketrubel hat sie zur Kleptomanin gemacht“, diagnostizierte die Therapeutin. “Haben, haben! Nur einen goldenen Armreif, Jadeschmuck, Parfum von Chanel.“ Engel Theophil strich über den Touch-Screen seines Notebooks und zauberte eine animierte Geschenkpräsentation auf die Projektionswand der Station. Wundervoll verschnürte Geschenkpakete strömten konzentrisch auf die per Kamera ins Bild projizierte Sheila. Pflegerinnen nahmen die Patientin in den Arm, und ein Wunder: Sheila lachte wieder strahlend. Endlich konnte Theophil sein Schaumbad in der hochbeinigen Badewanne nehmen. Das weiß-güldene Gefieder war von einem dünnen Rußfilm aus den Schornsteinen überzogen worden. Die Abendrunde fönte emsig sein Gefieder trocken. Dann spielten alle Halma und tranken etwas Matetee. “Zentrale an Engel Nummer acht, kommen! Wir benötigen in der Trabantensiedlung dringend eine Unterstützung, drittes Stockwerk!“ Theophil schwebte auf den Balkon der Familie Schönfeld. Aufgeregte Stimmen klangen durch die Balkontür. Immer wieder schepperte es. Zusammen mit einem Engels-Kollegen beobachtete er die “Bescherung“. Das Weihnachtsgeschenk der Tochter, ein Roboter, war vom Bruder versehentlich in den Kampfroboter-Modus geschaltet worden und der Robot demolierte die Einrichtung mit wuchtig knallenden Karatetritten. Beide Engel sprangen vor und hielten Roboter Rasputin fest. Vater und Mutter öffneten die Rückenklappe des Spielkameraden und klickten von “Kampf“ auf “Spiel“. Das Jungkarnickel des Bruders traute sich jetzt auch wieder hoppelnd aus der Deckung hervor. “Theo, jetzt ist auch für dich Feierabend“, ließ ihn die Zentrale in Ruhe. Er kriegte noch die letzte U-Bahn und fuhr zum Kleingartengelände, wo er im Vereinshaus überwinterte.

Wie bei einer Collage plazierte ich Erinnerungen, Erlebnisse und Erfahrungen auf grossformatigem Papier: 1955, als Sechsjähriger, pilgerte ich mit meinem Vater am 24. in den nahen Freihafen und bewunderte den Alten wie er dem Schuppen-Vize oder auch Matrosen von Schiffen Bananen "abschnackte". Spannend war dann die Kleinschmuggelei durch den Zoll.

Bereitschafts-Warterei darauf, dass "was kommt", zog sich dann durch eigene Beamten Dienstzeiten.

Weihnachts-Psychiatrie unterbrochen von einem Gottesdienst-Besuch gehörte 1998 ebenfalls zum Erfahrungsumfang.
Gerhard Kemme, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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