Wolfgang Lörzer

Kindheitsträume

                                                                                                                         Es sinkt auf meine Augenlider
                                                                                                                         ein gold'ner Kindertraum hernieder.

                                                                                                                         (Theodor Storm)

Montagmorgen. Ich sitze verschlafen im Büro. Es ist nichts los. Kein Telefonanruf, kein Arbeitsauftrag, der
mich aus meiner Montagmorgenlethargie reißt. Meine Gedanken kreisen um das bevorstehende Weih-
nachtsfest, fliegen mal hier- und dorthin und verweilen schließlich in meiner Kindheit.

Ich erinnere mich an eine Weihnachtsaufführung im Kindergarten. Ich muss damals knapp fünf Jahre alt gewesen sein. In dem Stück sollte ich einen Schäfer spielen. Für diese Rolle hatte man mir eine Geige besorgt. Das Dumme war nur, dass die Geige keine Saiten hatte. Ich sprach darüber mit meinem Freund Harry, der mir versicherte, dass ich auf der Geige spielen könnte, wenn sie Saiten hätte.

 Also ging ich zu Tante Hanne, unserer Erzieherin, und fragte sie, ob die Geige noch Saiten bekomme. Aber Tante Hanne erklärte mir, dass das nicht ginge. Ich sollte das Abendlied "Wer hat die schönsten Schäfchen" singen und dabei mit dem Bogen über die nicht vorhandenen Saiten streichen. Das sei besser so. Schließlich sei ich ja kein richtiger Geiger und würde das Geigen nur spielen. Ich war sehr enttäuscht.

Nachts träumte ich, wie ich mit dem Bogen zart über die Saiten meiner Geige strich. Dabei erklangen all die Melodien, an die ich mich erinnerte. Ich war mir sicher: Wenn man eine Melodie kennt, kann man sie auch spielen. Tagsüber war ich sehr nachdenklich. Wer könnte mir noch rechtzeitig vor der Aufführung Saiten beschaffen und sie aufziehen?

Der Tag der Aufführung kam und meine Geige hatte keine Saiten. Jetzt musste es auch ohne gehen. Ich sang und strich den Bogen über die Geige, während ich durch die Schar meiner Schäfchen schritt. Und dabei hörte ich ganz deutlich wie im Traum den Klang meiner Geige. Jeder im Raum musste es hören.


Zwei Jahre später saß ich als Erstklässler im Blockflötenunterricht bei Herrn König. Da begriff ich ziemlich schnell, dass es nicht reichte, eine Melodie im Kopf zu haben, um sie dann auch auf der Flöte spielen zu können. Außerdem kannte ich die meisten Melodien, die ich spielen sollte, gar nicht. Entweder griff ich den falschen Ton, oder aber ich spielte ihn zu kurz oder zu lang. War der Ton zur Abwechslung doch einmal richtig, hatte ich zu stark gepustet oder das Loch nicht richtig zugehalten, so dass ich im wahrsten Sinne des Wortes allzu oft auf dem letzten Loch pfiff. Flöten war ein anstrengender Vorgang und machte keinen Spaß. Nachts träumte ich davon, dass mich meine Mutter vom Blockflötenunterricht abmelden würde. Aber erst zwei Jahre später wurde dieser Traum Wirklichkeit. Als ich auf mein flehentliches Bitten hin kurz vor Weihnachten abgemeldet wurde, war das ein richtiges Weihnachtsgeschenk.

Als ich neun Jahre alt war, schenkte mir meine Mutter zu Weihnachten eine Mundharmonika. Ich erinnere mich deshalb so gut daran, weil dieses Geschenk zusammen mit der Theaterkarte für das Weihnachtsmärchen
alle anderen Geschenke in den Schatten stellte. Noch am Heiligen Abend beschäftigte ich mich ausgiebig mit dem Instrument. Ich versuchte Melodien zu spielen, was mir in bescheidenen Ansätzen auch gelang.
Am Ende der Feiertage spielte ich schon einige Lieder und überraschte meine Familie damit. Ich machte die beglückende Erfahrung, einfach so drauflos spielen zu können.

Ein Jahr später spielte ich in der Adventszeit auf meiner Mundharmonika Weihnachtslieder. Onkel Emil hatte die Idee, ich sollte meine Mundharmonika zur Weihnachtsfeier der Landsmannschaft Ostpreußen mitnehmen. Ich weiß nicht, ob Onkel Emil mit den Veranstaltern gesprochen hatte. Auf jeden Fall fragte während der Veranstaltung ein Herr auf der Bühne, ob nicht ein Kind etwas vorsingen oder vorspielen wolle. Meine Mutter, Tante Ruth und Onkel Emil ermutigten mich, und so ging ich entschlossen mit meiner Mundharmonika auf die
Bühne. Dort spielte ich das Lied, das ich am besten konnte: "Süßer die Glocken nie klingen." Ich erinnere mich noch daran, dass die paar hundert Menschen im Saal applaudierten und mich später Leute anerkennend
auf mein Spiel hin ansprachen. Ich war selig.

Dieses Ereignis begleitete mich bis in meine Träume, so dass ich nachts von donnerndem Applaus geweckt wurde. Ich wollte mich gerade vor dem Publikum verbeugen, da bemerkte ich, dass ich aufrecht in meinem Bett saß und der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte. Ach war das schön, von einem gelungenen Auftritt zu träumen!

A propos, gelungener Auftritt. Da habe ich eine Idee. Ich würde doch zu gerne wissen, ob ich nach 45 Jahren
immer noch "Süßer die Glocken nie klingen" spielen kann. Ich kaufe mir eine Mundharmonika und versuche es. Ich bin ganz sicher, dass es klappt. Am 24. Dezember sind wir bei meiner Mutter und ich werde sie mit meinem Spiel auf der Mundharmonika überraschen. Gelungene Überraschungen sind doch immer noch die schönsten Geschenke.

 (Berlin, den 28. November 2004)

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