Brigitte Kemptner

Sven und der Nikolaus

Sven und der Nikolaus
 
Der fünfjährige Sven ist oft sehr traurig darüber, dass er keinen Papa hat und wünscht sich deshalb auch einen zu Weihnachten. Mit seiner Mama, die arbeiten gehen und Geld verdienen muss, lebt Sven in einer kleinen Wohnung. Aber es gibt zum Glück noch Oma und Opa, die im gleichen Mietshaus wohnen und auf Sven aufpassen, wenn Mama nicht zuhause ist.
 
Heute fällt allerdings der Kindergarten aus. Svens Mama hat sich einen freien Tag genommen, um mit ihrem Jungen auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Sven war noch niemals dort gewesen und freut sich sehr darauf.
 
Auf dem Weg zu dem Platz, wo der Weihnachtsmarkt aufgebaut ist, plappert Sven recht fröhlich drauf los. Schon von weitem dringen ihnen Musik und Stimmen entgegen. Dann sind sie am Ziel und mischen sich auch gleich unter all die Menschen. Sven bekommt ganz große Augen, als er die vielen Verkaufsstände und Buden sieht, die mit bunten Lichtern dekoriert sind. Er bestaunt den riesengroßen Christbaum mitten auf dem Platz. Überall duftet es herrlich nach Weihnachten, findet Sven. So, wie in Omas Küche, wenn sie Plätzchen und Lebkuchen bäckt. 
 
Neben dem Christbaum steht ein bunt bemaltes Kinderkarussell mit lustigen Autos, das sofort Svens Aufmerksamkeit erregt. „Schau doch mal, Mami! Darf ich auch damit fahren?“, fragt der Fünfjährige hoffnungsvoll. Dabei greift er in seine Jackentasche und befördert einen Fünfeuroschein hervor. „Den hat mir Oma geschenkt“, sagt er mit strahlenden Augen. Mama kauft auch gleich eine Karte und wenig später sitzt der kleine Mann in einem Auto und dreht bei fröhlicher Weihnachtsmusik ein paar Runden.
 
Nach der Karussellfahrt marschieren sie weiter an den Ständen vorbei, an denen es Spielsachen, Weihnachtsartikel, Kleider, Kerzen, Schmuck, Lebensmittel, Töpfe und Pfannen zu kaufen gibt. Sven betrachtet sich alles sehr genau, doch das Spielzeug hat es ihm am meisten angetan. An einem Essstand bekommt er eine Tüte Pommes, die er heißhungrig aufisst. Für den Rest von Omas Geld kauft er sich noch ein paar Süßigkeiten. 
 
Und dann treffen Sven und seine Mama auf den Nikolaus, der mit dickem Bauch und einem langen weißen Bart auf die Kinder wartet, um sie zu beschenken. Aus blauen Augen schaut er Sven an. „Ho ho ho hooooo!“, ruft er ihm freundlich zu und lächelt. „Nun, kleiner Mann, möchtest du auch einmal in den Krabbelsack schlüpfen und dir etwas daraus hervorholen?“
„Wenn ich darf“, antwortet der Fünfjährige ohne Scheu.
„Dann kriech ruhig hinein“, fordert ihn der Nikolaus auf. Sven tut es und kommt kurz darauf mit einem Päckchen wieder zum Vorschein. Er hält es seiner Mutter entgegen. „Schau mal, Mami. Was da wohl drinnen ist?“
„Lauter Überraschungen für kleine neugierige Kinder habe ich dort eingepackt“, antwortet der Nikolaus anstelle der Mutter.
„Hast du denn deinen Wunschzettel ans Christkind schon geschrieben?“, will der Mann weiter wissen.
„Ich kann doch noch nicht schreiben, Nikolaus“, erwidert der Kleine.
„Aber dann weißt du sicher, was du dir vom Christkind wünschst, oder?“
Sven senkt den Kopf. „Ich wünsch mir nicht viel. Mami sagt, wir haben wenig Geld und außerdem habe ich ja nur einen einzigen Wunsch.“
„Dann hoffe ich, dass ihn dir das Christkind erfüllt“, meint der Nikolaus.
„Ja, ich wünsch mir nämlich einen Papa, so einen wie mein Freund Felix vom Kindergarten ihn hat. Der ist sehr lieb.“
 
In diesem Augenblick fasst Mama nach Svens Hand. Sie kennt die Sehnsucht ihres Sohnes nach einem Papa, aber das ging den fremden Mann hier nichts an. „Komm, mein Schatz. Wir müssen weiter. Die anderen Kinder wollen auch noch zum Nikolaus. Fröhliche Weihnachten“, wünscht sie noch und zieht den Buben mit sich fort.
„Ein frohes Fest!“, ruft der Nikolaus ihnen hinterher.
 
Am nächsten Tag geht Sven wieder in den Kindergarten und erzählt seinem Freund Felix vom Weihnachtsmarkt. „Einen Nikolaus haben wir dort sogar getroffen und ich durfte mir aus seinem Krabbelsack etwas nehmen.“
„Was denn?“, fragt Felix.
„Ein Auto war in dem Päckchen.“
Felix nickt und meint: „Wir gehen am Sonntag auf den Weihnachtsmarkt, für Oma und Opa noch ein Geschenk kaufen. Mama sagt, dort kriegt man ja alles.“
„Alles?“, fragt Sven hellhörig. „Etwa auch einen Papa?“ Felix schüttelt den Kopf. „Einen Papa bestimmt nicht, aber das Christkind könnte dir sicher einen bringen. Hast du den Nikolaus nicht gefragt? Der weiß doch über alles Bescheid. Und der hat ein dickes Buch, da steht viel drin. Das hat mir Oma erzählt.“
 
Sven dachte an den Nikolaus vom Weihnachtsmarkt. Vielleicht konnte der dem Christkind im Himmel von seinem Wunsch erzählen.
 
Als die Oma Sven am Mittag abholt, ist der Himmel grau bedeckt. „Es gibt sicher heute noch Schnee“, sagt sie. „Dann kann Opa dich morgen mit dem Schlitten abholen, möchtest du das?“ Oja, sicher will Sven das, aber zuerst muss er etwas ganz anderes erledigen und davon erzählt er Oma besser nichts.
Nach dem Mittagessen macht Opa ein Schläfchen auf dem Sofa und Oma näht ein paar abgerissene Knöpfe an. Sven sitzt eine Weile in der Küche am Tisch und malt. Wenig später verlässt er aber unbemerkt die Wohnung.
 
Draußen schneit es bereits, doch Sven, in seinem warmen Anorak mit übergezogener Kapuze, stört das nicht. Er geht auch brav auf dem Fußweg und überquert  die Straßen nur auf Zebrastreifen. „Doch wo ist der Weihnachtsmarkt?“, fragt sich der Fünfjährige nach geraumer Zeit und bekommt nun etwas Angst. Da begegnen ihm zum Glück ein paar Mädchen, die er nach dem Weg fragt. Zu seiner größten Freude müssen die Kinder am Marktplatz vorbei und nehmen ihn mit.
 
Dann ist Sven endlich am Ziel. Suchend läuft er zwischen den eilenden Menschen umher. Er muss unbedingt den Nikolaus finden und ihn … „Pass doch auf, Bengel, wo du hinläufst. Haste denn keine Augen im Kopf?“ Ein großer, dicker Mann steht vor Sven und schaut ihn böse an. Der Junge ist, ganz in Gedanken versunken, gegen den Kerl gestoßen. Dabei schwappt etwas von dem heißen Kaffee über, den der Mann in der Hand hält. Verbrannt hat sich aber niemand. Der Dicke will gerade noch einmal losbrüllen, Sven stehen bereits die Tränen in den Augen, als eine andere Stimme ertönt: „Jetzt nur mal sachte, mein Freund. Lassen Sie den Kleinen in Ruhe. Er ist ja ganz verängstigt und sucht sicher seine Mutter. Und außerdem ist doch gar nichts passiert, oder?“ Da schaut Sven genau in die blauen Augen des Nikolaus und verbirgt sich gleich hinter dessen langem roten Mantel.
„Schon gut, schon gut“, meint der Dicke und verschwindet eilig.
„Kannst wieder aus der Deckung hervorkommen, Junge!“, ruft Nikolaus und als Sven vor ihm steht, erkennt er den Bub, der sich zu Weihnachten einen Vater wünscht, sofort wieder. Da es inzwischen stärker schneit, zieht Nikolaus ihn in den Schutz eines Zeltes, wo auch sein Krabbelsack für die Kinder liegt.
„Wie heißt du denn?“ will Nikolaus nun von ihm wissen.
„Sven“, gibt der Junge bereitwillig Antwort.
„Und wo ist deine Mama?“
„Arbeiten“, antwortet Sven wahrheitsgetreu. „Ich bin ganz allein zu dir gekommen. Kannst du nicht das Christkind bitten, mir einen Papa zu schenken?“
„Ho ho, wer sagt denn, dass ich das Christkind überhaupt sehe?“
„Tust du das denn nicht?“, fragt Sven und der Nikolaus sieht, wie der Junge mit den Tränen kämpft.
„Natürlich sehe ich das Christkind“, meint Nikolaus ganz schnell, bevor der Kleine losweint. „Aber es kann dir keinen Papa bringen.“
„Warum?“
„Weil man Menschen nicht einfach verschenken kann.“
„Und warum nicht?“, möchte Sven wissen.
„Weil Menschen einen eigenen Willen haben und selbst bestimmen wollen, zu wem sie gehören oder wen sie gerne haben. Stell dir vor, Sven, das Christkind würde deine Mutter holen und zu einem anderen Kind bringen, das sich eine Mama wünscht? Würde dir das gefallen?“
Sven schüttelt heftig den Kopf.
„Nein, ich möchte meine Mami behalten.“
„Siehst du und deshalb kann dir das Christkind auch keinen Papa schenken.“
„Und wie bekomme ich dann einen?“ fragt er traurig.
„Du musst viel Geduld haben und warten. Aber du kannst dir wünschen und ganz fest daran glauben, dass eines Tages ein Mann kommt, der dich und deine Mama sehr lieb hat und dein Papa werden möchte.“
Sven denkt nach.
„Ja, das will ich auch und jeden Abend bete ich zum lieben Gott“, antwortet er kurz darauf und seine Augen leuchten dabei.
 
Dem Nikolaus ist es ganz eigentümlich ums Herz gewesen, während er mit dem Jungen gesprochen hat. Noch niemals in seiner Nikolaus-Laufbahn musste er einem Kind erklären, warum das Christkind keine Väter bringen kann.
„So, Sven, nun darfst du dir noch ein Geschenk aus dem Sack holen und dann bring ich dich nach Hause. Dort weiß bestimmt niemand, wo du bist.“
„Ich bin einfach von Oma und Opa fortgelaufen“, erklärt er dem Nikolaus.
„Aber du weißt sicher, dass man das nicht tun darf? Deine Familie macht sich doch große Sorgen um dich.“
„Ja, ich mach es auch nie wieder“, verspricht Sven.
Der Nikolaus gibt seinen Krabbelsack der freundlichen Imbissbuden-Besitzerin in Obhut und fragt Sven nach der Straße, in der er wohnt. Dann gehen beide Hand in Hand durch den Schnee davon.
 
Abends, als die Aufregung um Svens Verschwinden längst vorüber ist und er wohlbehütet in seinem Bett liegt, denkt er noch immer an den freundlichen Nikolaus. Nur schade, dass das Christkind ihm seinen sehnlichsten Wunsch nicht erfüllen kann. Aber er nimmt sich vor, jeden Abend zu beten, damit er eines Tages doch noch einen Papa bekommt.  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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