Irene Beddies

Die Überraschung

 
  


Therese schloss die Haustür auf. Wieder brannte kein Licht im Treppenhaus. Das war nun das vierte Mal, dass die Lampe im Erdgeschoss zertrümmert war und einen Kurzschluss verursacht hatte. Wer das wohl immer machte? Jugendliche wohnten doch nicht im Haus.
   Therese seufzte. Immerhin musste sie nicht die hässlichen Schmierereien an den Wänden sehen, als sie sich nach oben in ihre Wohnung tastete. Sie zählte in Gedanken die Stufen mit bis zum nächsten Stockwerk.
   Das Schlüsselloch zu ihrer Wohnung fand sie fast sofort, ohne lange fummeln zu müssen, und schloss auf. Aus ihrer kleinen Küche kam ihr der Duft von den Gewürzplätzchen entgegen, die zum Auskühlen auf der Arbeitsplatte standen.
   Sie knipste das Licht an, legte ihren Mantel ab, streifte die Schuhe von den Füßen und ging in die Küche. Hier schaltete sie die Lampe über dem Herd an und packte ihre wenigen Einkäufe aus: Milch, ein Päckchen Schwarzbrot, einen großen Becher Joghurt und einen Kohl. Auf den Kohl mit Kartoffeln und Kümmel freute sie sich schon jetzt. An Fleisch war nicht zu denken, ihre Rente reichte nur für das Nötigste.
 
   Therese hatte keine Familie. Ihre wenigen Freundinnen wohnten in anderen Städten und waren nur über das Telefon zu erreichen, wenn es ihr gar zu einsam wurde. In der Adventszeit vermisste sie menschliche Zuwendung ganz besonders.
   Zu dumm, sie hatte die Post vergessen mit herauf zu nehmen. Mit ihrer Taschenlampe stieg sie vorsichtig nach unten zum Briefkasten. Vielleicht war dort eine Werbebroschüre, mit der sie sich beschäftigen konnte, ehe sie zu Bett ging. Es gab zu viele kuriose Sachen zu bestaunen in den bunten Seiten solcher Heftchen.
   Sie nahm einen großen Umschlag aus dem Kasten, einen Werbeprospekt und einen Brief. Nanu, wer konnte ihr geschrieben haben? Hoffentlich war es keine Rechnung. - Das konnte nicht sein, überlegte sie beim Hinaufgehen, sie hatte nichts gekauft, was sie nicht gleich bezahlt hatte.
  In ihrem Wohn-Schlafzimmer setzte sie sich neugierig an den Tisch, nahm ihre Lesebrille und studierte zuerst den Briefumschlag. Er war mit einer schönen Sondermarke zur Weihnachtszeit beklebt und zeigte eine ihr unbekannte Handschrift.
Hastig riss sie den Brief auf, gegen eine Enttäuschung innerlich gewappnet, sollte auch darin nur Reklame sein.
Es war ein richtiger Brief.
 
   „Liebe Therese“, stand darin, „du kennst mich wahrscheinlich nicht, aber ich weiß von dir und habe dich lange beobachtet. Du scheinst mir würdig zu sein, dass dir ein heimlicher Wunsch zu Weihnachten erfüllt wird. Du brauchst nichts weiter zu tun, um eine Überraschung zu erleben, als deine rote Geranie ins Küchenfenster neben die Kaffeemaschine zu stellen. Du kannst mir vertrauen.“  
Keine Unterschrift.
   Sollte das ein übler Trick sein? Wollte jemand ihr böse mitspielen? Wer konnte sie unbemerkt beobachtet, an ihr überhaupt ein Interesse haben?
   Sie wusste nicht, was sie denken und tun sollte. Es waren nur noch wenige Tage bis zum Fest, viel Zeit zum Überlegen blieb nicht.
   Sie rief ihre Freundin Gerda in Düsseldorf an und erzählte ihr von dem Brief. Gerda hörte ihr jedoch kaum zu, sondern erzählte, was sie alles für die Enkelkinder gekauft hatte. Für Enkelkinder, von denen sie stets behauptete, dass sie sich gar nicht um sie kümmerten. So waren Großeltern nun einmal. Sie dachten nur an ihre Sippschaft, selten aber an ihre Freunde und deren Bedürfnisse.
   Enttäuscht griff Therese zu dem großen Umschlag. Wie vermutet, steckte darin eine Glanzbroschüre - von einem Autohaus. Was die sich wohl dachten, einer alten Frau  einen solchen Katalog zu schicken? Da war der Werbeprospekt interessanter, er kam von einem Baumarkt.
 
   Therese stellte sich beim Betrachten der Bilder vor, wie sie ihre Wohnung mit den Dingen aus dem Baumarkt verschönern könnte: mit einer neuen Tapete, einem Regal für ihre Schuhe im winzigen Flur und Übertöpfen für ihre vier Geranien. Beim Gedanken an die Blumen fasste sie den Entschluss, dem Brief des Unbekannten zu folgen. Sie nahm die einzige noch blühende rote Geranie und stellte sie ins Küchenfenster.
   „Was soll  mir schon passieren! Bei mir kann man wirklich nichts holen“, murmelte sie vor sich hin, „ich habe selbst gerade genug zum Leben. Vielleicht passiert ja etwas Angenehmes. - Neugierde ist auch ein schöner Zeitvertreib.“
 
   Am Heiligabend wartete Therese insgeheim darauf, dass es vielleicht klingeln und ein Bote ihr etwas bringen könnte. Aber kein Bote kam. Eine Bekannte aus Köln rief an, um ihr ein frohes Fest zu wünschen. Ansonsten geschah nichts.

   Therese brühte sich einen Tee auf und setzte sich mit ihren Plätzchen vor den kleinen Fernseher, um den späten Gottesdienst zu sehen. Sie stellte den Ton jedes Mal lauter, wenn die bekannten Weihnachtslieder gesungen wurden.
   So bekam sie nicht mit, dass just zu dieser Zeit im Treppenhaus  ein Rumoren anfing. Schließlich nahm sie es wahr und wurde sehr ärgerlich. Konnten einen die Rowdies nicht wenigstens am Heiligen Abend in Ruhe lassen! Sie wagte nicht, die Tür zu öffnen, um zu sehen, was vorging. Sollten sich die Nachbarn mit dem Problem beschäftigen! Sie als Rentnerin war dazu nicht mehr berufen.
 
   Am nächsten Morgen wollte Therese zur Kirche gehen. Dick eingemummelt mit Wollmütze, Schal und Fäustlingen betrat sie das Treppenhaus. Fast erschrak sie, so hell leuchtete es. Sie sah sich misstrauisch um. Nicht nur waren neue Lampen in den Stockwerken angebracht, die Wände erstrahlten in nahezu grellem Gelb. Kein Schmutz an den Wänden, keine Scherben mehr auf den Stufen! Verwirrt blickte sie in die strahlende Helle.
   Unten im Eingang lümmelte ein junger Mann am Geländer und rauchte eine Zigarette. Er hatte Sonntagskleidung an. Als er sie höflich grüßte, blieb sie vor Staunen stehen und stotterte ihr „Guten Tag“. Der junge Mann fing an zu grinsen, rief ihr „Frohes Fest“ zu und hob den Zeigefinger an seine Baseballkappe.
Seine Hand war nicht ganz sauber. Am Zeigefinger klebte gelbe Farbe.

© I. Beddies

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.12.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Buch von Irene Beddies:

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Irene Beddies hat in diesem Band ihre Märchen für Jugendliche und Erwachsene zusammengestellt.
Vom Drachen Alka lesen wir, von Feen, Prinzen und Prinzessinnen, von kleinen Wesen, aber auch von Dummlingen und ganz gewöhnlichen Menschen, denen ein wunderlicher Umstand zustößt.
In fernen Ländern begegnen dem Leser Paschas und Maharadschas. Ein Rabe wird sogar zum Rockstar.
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