Christa Astl

Zwei Kinder verirren sich



 
 
Das Lieserl und der kleine Konradl leben bei ihrem Großvater, seit die Eltern bei dem schrecklichen Unwetter mit der Überschwemmung ums Leben gekommen sind.
In dem kleinen Häuschen am Waldrand haben sie es gut, sie können den ganzen Tag draußen spielen, Beeren, Pilze und Kräuter sammeln und sind die meiste Zeit sehr glücklich. Nur an den langen, dunklen Winterabenden, wenn sie in der warmen Stube sitzen müssen, werden sie sehr traurig, weil sie an die Mutter denken müssen.
Wenn es im Haus vom Brotbacken so gut gerochen hat, setzte sich die Mutter zu den Kindern vor den Herd, sie sangen die schönsten Lieder, und die Kinder lernten die Flöte spielen.
Doch jetzt macht ihnen auch die Musik keine Freude mehr, im dunklen Winkel des Zimmers sitzen sie beisammen, halten sich an den Händen und weinen. Der Großvater meint es wohl gut mit den Kindern, aber trösten kann er sie nicht.

Eines Morgens steht der alte Mann nicht von seinem Lager auf. Das Lieserl muss einheizen, die Ziege melken und die Milch herein tragen. Doch der Großvater will nichts essen und nichts trinken. Ein rauer Husten quält ihn, seine Stirn ist ganz heiß. Lieserl erkennt sofort, dass er sehr krank ist. „Wir müssen jemand holen, der unseren Großvater gesund machen kann!“, sagt es zu ihrem Bruder. Der schaut sie ganz verzagt an, denn das weiß auch er schon, Hilfe zu finden war in ihrer Einöde nicht leicht.
Doch Lieserl bereitet sich inzwischen schon zum Weggehen vor. Sie holt noch ein paar Decken, mit denen sie den Großvater liebevoll zudeckt und stellt ihm eine Flasche Wasser neben das Bett. Leise schlüpften sie aus dem Haus.
Lieserl hatte von einem Hirten gehört, der die verletzten Tiere und auch die kranken Menschen heilen konnte, und diesen Hirten wollen sie suchen. Ein wenig kannte sie ja die Weideplätze und so dachte sie, sie könnte sich wohl durchfragen.

Noch ist kalter Morgen, Nebel webt weiße Schleier zwischen den Bäumen durch, der Weg ist kaum zu erkennen. Die Fäuste tief in die Hosensäcke vergraben, die Wollmütze weit über die Ohren gezogen, so folgte ihr der kleine Bruder. Sie gehen und gehen, plötzlich stehen sie vor einer Felswand. Im dichten Nebel haben sie die Orientierung verloren und waren statt aufs offene Feld zu den Bergen gelangt. Konrad ist müde und beginnt leise zu jammern. „Wir müssen umkehren, wir haben uns verirrt“, sagt da seine Schwester. Er aber will nicht umkehren, nicht mehr weitergehen, nur rasten. Lieserl setzt sich zu ihm, legt ihren Arm um seine Schulter, trocknet seine tränenverschmierten Wangen, bis er einschläft.
Auch das Lieserl war eingeschlafen, denn als die Kinder erwachen, herrscht tiefe dunkle Nacht. Kein Weg, kein Steg ist mehr zu erkennen. So sitzen sie nun, traurig, einsam, verzagt, mit ihrer Angst und Sorge um den Großvater, der ganz allein und krank zu Hause liegt.
Da beginnt der Konradl laut zu schreien, dass es durch den stillen, nächtlichen Wald hallt: „Hilfe, helft uns doch!“ Eine Weile bleibt es still. Doch plötzlich antwortet eine tiefe Männerstimme: „Wo seid ihr denn?“ – „Hier sind wir!“ antworten die Kinder. Der Mann geht den Stimmen nach, kommt näher und näher, bald steht er vor ihnen. Es ist genau der Mann, den sie gesucht hatten, der Hirte, der in der vorigen Nacht vor dem Engel, der die freudige Botschaft von der Geburt des Heiligen Kindes verkündet hatte, davongelaufen war, die ganze Nacht gerannt und am Morgen dann vor der Höhle, in der das Kind zur Welt gekommen war, zusammengebrochen ist.
Er hat das Licht und das Heil der Welt gefunden und war ein anderer geworden.

Er nimmt die verirrten Kinder an der Hand, führt sie sicher hinunter ins Tal und geleitet sie zum Hause ihres Großvaters. Der wälzt sich unruhig in Fieberträumen im Bett hin und her. Der Hirte, der früher einmal Arzt gewesen war, kniet neben ihm nieder. Aus seiner Tasche holt er ein Fläschchen und gibt dem alten Mann davon zu trinken. Mit zarten Händen kühlt er ihm behutsam die Stirn und betet dabei zu dem göttlichen Kind und zu seinem allmächtigen Vater im Himmel. Und wirklich, der Alte wird ruhiger, das Fieber weicht, bald liegt er in erholsamem, ruhigem Schlummer.
Die beiden Kinder liegen erschöpft und aneinander gekuschelt in der anderen Ecke des Zimmers. Zärtlich streicht der Arzt ihnen über die vom Schlaf geröteten Wangen und verlässt leise das Haus.
 
 
ChA Jan. 2008

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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