Jeden Tag gehen sie zum See hinunter, der Alte und seine Frau, Mag die Sonne scheinen, mag es regnen oder schneien, der Weg zum See ist festes Tagesritual.
Sie gehen immer am Spätnachmittag den Weg hinunter, vorbei an kleinen, sauberen Häuschen, mit gut gepflegten Gärten und im Winter bereits in aller Früh von Schnee und Eis befreiten Gehsteigen. Der geteerte Weg endet an einem Schild, das nur noch Fußgängern ein Weiterkommen erlaubt. Begleitet von halbwüchsigen Fichten und erwachsenen Kiefern, führt dann ein Pfad sehr kurvenreich hinunter zum See.
Es ist Mitte Mai, die Natur platzt aus allen Nähten, und wieder gehen der Alte und seine Frau den vertrauten Weg. Sie halten sich an den Händen, halten sich in letzter Zeit fester als zuvor, reden dafür fast überhaupt nicht mehr miteinander. Nach 50 Jahren Ehe verstummen die Worte mehr und mehr, aber die kleinen Gesten werden wichtiger. Sie weiß, dass ihm etwas überhaupt nicht gefällt, wenn er sich mit der rechten Hand über die nur noch spärlich vorhandenen Haare fährt. Früher hätte er statt dieser Geste eine Fluchlitanei vom Stapel gelassen. Er weiß, dass ihr etwas missfällt, wenn sie die Unterlippe über die Oberlippe zieht. Früher hätte sie wenigstens gesagt: "Also so etwas geht doch wirklich nicht!"
Sie erreichen den See, setzen sich auf eine Bank, ihre Bank, schließen die Augen, geben ihre zerfurchten Gesichter der Sonne preis, erinnern sich an Kinder- und Jugendtage. Sie öffnen wieder die Augen, dösen vor sich hin, haben dabei ihre Hände zeitweise wie betend, jeder für sich, im Schoß verschränkt, dann suchend und findend nach denen des Partners gestreckt.
Sie stehen auf, machen sich auf den Rückweg, den kurvenreichen Pfad hinauf. Als sie den Teerweg erreichen, kommt ihnen ihre Nachbarin, eine junge Frau, entgegen, an ihrer Hand die kleine Tochter.
"Hallo", sagt die junge Frau."Was für ein schöner Tag heute! Geht es Ihnen gut?"
"Ja", sagt der Alte. "Vor allem geht es meiner Frau wieder viel, viel besser!"
Der Alte hat keine Frau mehr. Sie ist vor zwei Jahren gestorben.
Die Nachbarin wünscht alles Gute. Am Ende des geteerten Weges, da, wo der Pfad beginnt und sich der Blick auf den See fragmentarisch öffnet, streichelt sie den Kopf ihres Kindes.
Ihre Hand greift ins Leere.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.04.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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