Irene Beddies

Vorbereitungen für den Weihnachtsbraten



 
Am Nachmittag, als alle bis auf Paolo schon zu Hause waren, läutete es an der Haustür. Mira stürzte als erste hin und öffnete. In der Dämmerung stand dort ein Mann und hielt etwas Eingewickeltes an einem Bindfaden in die Höhe.
„Ist  deine Mutter da?“, fragte er. „Ich bringe nämlich…“
Weiter kam er nicht, denn Berta tauchte hinter ihrer Schwester auf und rief ganz laut:
„Der Weihnachtsmann ist da!“
Der fremde Mann sah nicht wie der Weihnachtsmann aus, an den Mira sowieso nicht glaubte. Er hatte keinen Bart, geschweige denn die roten Klamotten an.
 „Weihnachtsmann, was bringst du mir?“, fragte inzwischen die kleine Berta ohne Scheu.
„Ähem…ich bringe zwar etwas zum Weihnachtsfest, aber das gebe ich lieber deiner Mutter“, erklärte der Fremde.
„Mama, Mama, der Weihnachtsmann will dir etwas geben!“, schrie Berta so laut sie konnte ins Haus.
Mama kam  endlich auch an die Tür. „Ach Sie sind’s“, ließ sie sich hören. „Es ist gut, dass Sie so frühzeitig kommen, da habe ich mehr Zeit, mich auf das Erlebnis vorzubereiten.“ Dabei zwinkerte sie dem Mann zu.
Er übergab ihr das seltsam geformte Paket und verschwand eilig.
 
Die Mädchen folgten der Mutter in die Küche. Sie packte das Paket aus und… den Kindern stockte der Atem. Auf dem Tisch lag eine nackte Gans. Ihr Kopf war etwas blutig, denn sie hatte eine Wunde am Hinterkopf. Ihre Füße hingen seltsam schlaff über die Kante der Arbeitsplatte.
„Mama, was ist das?“, wollte Berta wissen.
„Das ist unsere Weihnachtsgans. Wir wollen sie am ersten Weihnachtstag braten, wenn Oma und Opa zu Besuch kommen.“
Mira machte ein bedenkliches Gesicht. „Letztes Jahr hatte der Braten aber keinen Kopf und keine Füße, warum ist es dieses Jahr anders?“
„Ja, Mädchen, da habe ich mir einen Weihnachtswunsch erfüllt. Als ich noch ein Kind war, gab es die Gänse nicht anders zu kaufen von den Bauern. Damals musste Oma sie auch noch selbst rupfen. Das allerdings wollte ich mir ersparen, deshalb habe ich sie rupfen lassen. Ich will dieses Jahr noch einmal die Aufregung genießen, eine Gans auszunehmen. Dafür war ich früher zuständig, denn alle anderen ekelten sich davor.“
„Aber Mama“, ließ sich Mira vernehmen, „das ist gemein, die arme Gans.“
Mama lachte: „sie ist doch tot. Wenn wir sie wie sonst gekauft hätten, wäre sie doch auch ausgenommen worden.“
„Ich will das aber nicht sehen“, sagte Mira entschieden.
„Das brauchst du auch nicht. Zugucken kann, wer will, wer nicht will, braucht nicht.“
 
Berta aber, die kleine Neugierige, wich ihrer Mutter nicht von der Seite.
Zuerst suchte sie zusammen mit Mama die Stellen, an denen die Federkiele der großen Federn nicht richtig aus der Haut gezogen waren. Mama entfernte sie mit einer Pinzette. Dann nahm sie die Gans auf den Balkon, zündete einen Stapel zerknüllte Zeitungen an und schwenkte die Gans darüber. Das roch gar nicht gut, nicht wie ein Braten. „Ist die Gans gleich fertig?“
„Ja, Liebes, sie hat dann auch noch die winzigen Flaumfederchen verloren, die dich sicherlich beim Essen gestört hätten.“
 
Dann ging es wieder in die Küche. Mama nahm ein scharfes Messer und trennte zuerst die Füße der Gans ab. Sie zeigte Berta, an welchen Sehnen man ziehen konnte, um die Füße zu krümmen und wieder gerade zu biegen. Das war ein interessantes Spielchen für Berta.
Dabei entging der Kleinen, wie die Mutter der Gans den Kopf abtrennte. Auch hier zog die Mutter spielerisch an den Sehnen, die den Schnabel öffneten. Sie lächelte leise, ließ den abgetrennten Kopf aber schnell im Abfalleimer verschwinden, ohne dass Berta etwas bemerkte.
Als sie das scharfe große Messer wieder in die Hand nahm, war Berta ganz Aufmerksamkeit. Sie sah genau hin, wie Mama vorsichtig die Gans am Bauch aufschlitzte. Darin sah es gruselig aus. Es war zwar nicht sonderlich blutig da drinnen, aber lange weißliche Schläuche kamen zum Vorschein.
„Was ist das, Mama?“
„Das sind die Därme. Du weiß ja, dass man jeden Tag auch mal Groß machen muss, dass das Essen, was man gegessen hat, wieder hinten herauskommt. Vorher muss es durch alle diese langen Gänge. Das ist bei mir und dir genauso. Auch wir haben diese Därme im Bauch. Sieh mal genau hin, wie sie sich schlängeln.“
„Darf ich die mal anfassen?“
„Lieber nicht. Du musst jetzt auch ein wenig zur Seite rücken falls ich daneben steche. Du willst doch nicht das, was da drin ist, auf dein T-Shirt oder ins Gesicht kriegen? Wenn du besser sehen willst, stell dich auf den Küchentritt.“
Berta holte sich den Tritt aus der Ecke und stellte sich darauf. Atemlos und mit einem wohligen Schauder sah sie zu, wie die Mutter der Gans beherzt, aber vorsichtig in die Bauchhöhle griff und langsam die Eingeweide herausholte. Die Mutter erklärte ihr, wie die verschiedenen Teile hießen, wozu die Gans sie gebraucht hatte. Sie schnitt sie vorsichtig voneinander ab und legte sie in eine Schüssel. Berta berührte die Teile leicht mit dem Finger. Eines war recht hart, andere weich.
 „Die muss ich nachher gut waschen. Den Magen muss ich noch aufschneiden und das letzte Fressen herausholen. Alle diese Teile gibt es übermorgen am Heiligabend in einer Suppe.“
Nun war nur noch das Gedärm halb in der Bauchhöhle. Die Mutter trennte es besonders sorgsam heraus und warf es sofort weg. Dann löste sie das reichlich vorhandene Fett aus dem Innern. „Das wird unser Gänseschmalz“, erklärte sie. Zum Schluss trennte sie Flügel und Hals von der Gans. Dabei benutzte sie eine große Schere, die seltsam geformt war und die Berta noch nie gesehen hatte. Als die Flügelknochen brachen, gab es ein Geräusch.
Als alles fertig war, packte die Mutter die Gans in eine größere Papiertüte und brachte sie auf den Balkon.
„Da bleibt sie frisch bis sie gebraten wird. Du kannst ab und zu nachschauen, ob nicht ein Vogel am Papier pickt und sich ein Stück von dem Fleisch holt.“
„Mama, kannst du nicht etwas drüber tun, damit die Vögel die Gans nicht finden?“
„Ach du meine Güte, daran hätte ich selbst denken können! Im Keller ist ja noch die große alte Eisenschüssel. Du bist ein ganz gewitztes Schätzchen.“
 
 
© I. Beddies

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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