Irene Beddies

Weihnachtsvater


 
 
Wassertropfen fielen aus ihren Haaren, die das Handtuch nicht halten konnte.
Wie Tränen tropften sie auf die unbeschriebene Weihnachtskarte.
Nina fror in ihrem Nachthemd, obwohl sie ein Wolltuch um die Schultern gelegt hatte.
Wie sollte sie schreiben?
„Lieber Papa“? „Lieber Vater“? „Lieber Herr Montag“?
Sie kannte ihren Vater nicht, hatte aber endlich herausgefunden, wer er war. Mutter war so böse geworden, dass Nina ausgezogen war. Nun wollte sie den ersten Brief an den unbekannten Vater unbedingt schreiben. Es schien ihr leichter, ihn zu Weihnachten zu verfassen, denn die Weihnachtsgrüße würden einen großen Teil des Textfeldes einer Karte ausfüllen.
 
Lieber Herr Montag,
wundern Sie sich nicht über die Karte.
Ich habe endlich herausgefunden, dass ich Ihre Tochter bin.
Meine Mutter wollte es mir nie sagen.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest und ein glückliches Neues Jahr,
Ihre Tochter Nina Eckstein
 
Sie steckte die Karte in einen Umschlag, denn der Briefträger sollte nicht sehen, was ihren Vater kompromittieren könnte. Seine Familie, falls er eine hatte, natürlich auch nicht. Den Absender schrieb sie besonders deutlich.
 
Die Woche bis Weihnachten verging, ohne dass eine Antwort kam. Was hatte sie eigentlich erwartet? Warum sollte Herr Montag sich mit einer unbekannten Tochter in Verbindung setzen? Und doch hoffte sie, dass er irgendein Lebenszeichen von sich geben würde.
 
Am Heiligabend spät kam ein Anruf. Ihre Mutter bat sie mit tränenerstickter Stimme, sofort zu kommen. Einen Grund nannte sie nicht.
Nina, obwohl sauer auf die Mutter, machte sich Sorgen. Mutter hatte noch nie geweint! Also setzte sie sich in ihr Auto und raste los.
 
Als sie ins Wohnzimmer trat, saß ihre Mutter Anna im Sessel und schluchzte noch immer. Ihr gegenüber saß ein fremder Mann…oder doch nicht? Dunkel erinnerte sich Nina an zwei Fotos. Als etwa Zweijährige saß sie auf dem Schoß eines Mannes, den Mutter als Onkel Olaf bezeichnete.
War Onkel Olaf plötzlich aufgetaucht?
Der fremde Mann stand auf, trat auf Nina zu und gab Ihr die Hand.
„Onkel Olaf?“, begann sie fragend.
„Olaf Montag“, stellte sich der Mann vor, „nicht dein Onkel, dein Vater.“
Schreck, Freude und Beklemmung, ja fast Bestürzung machten sich in Nina breit. Ihr Vater hatte sie als kleines Kind im Arm gehabt, er hatte sie offenbar anerkannt und lieb gehabt. Sie war nicht… Fragend sah sie die Mutter an.
„Lass es mich erklären“, sagte Herr Montag, Vater. „Ich will es zunächst kurz machen.
Anna und ich waren verheiratet. Wir bekamen dich, und alles war in Ordnung. Dann kam ein Augenblick, in dem ich deine Mutter betrog. Sie ließ sich sofort scheiden. Das Sorgerecht wurde natürlich ihr zugesprochen. Es war die Gesetzeslage damals.
Lange habe ich nach euch gesucht, aber nie gefunden. Sie hatte schnell einen anderen geheiratet, wie sie mir vorhin erzählte. Der adoptierte dich. So waren der Name Anna Montag und der Anna Koller, wie sie als Mädchen hieß, nicht aufzufinden. Als der Mann nach einem Jahr starb, behielt Anna den Namen Eckstein. Irgendwann gab ich die Suche auf. Deine Karte hat mir den Weg gewiesen.“
„Aber…“
„Ich wollte dich nicht erschrecken. Annas Adresse war leicht im Telefonbuch zu finden. Ich wusste ja nun ihren Namen. Ich rief sie gestern an. Ich wollte nichts gegen ihren Willen tun. Auch nach all den langen Jahren will ich nur ihr Bestes.“
 
Jetzt fing Nina an zu weinen, ob vor Aufregung oder Rührung wusste sich nicht.
 
„Na na, zwei weinende Frauen sind eigentlich zu viel. Darf ich euch in den Arm nehmen?“
Anna und Nina ließen es zu. Es ging alles viel zu schnell.
 
 
 
© I. Beddies
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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