Irene Beddies

Heiligabend mit dem Karpfen


 
 
Henning konnte seiner Familie nicht mehr das bieten, was er ihr früher ermöglicht hatte. Er war Hartz IV- Empfänger, seine Frau war krank und konnte nicht arbeiten.  Die beiden Kinder, Ella und Berni, mussten auf vieles verzichten.
Heiligabend rückte immer näher. Die Kinder hatten jedes eine lange Wunschliste. Sie erhofften sich, dass wenigstens ein oder zwei der Geschenke auf dem Gabentisch liegen würden, die ihnen gefielen.
„Was wünschst du dir denn?“, fragte Henning seine Erika.
„Ich wünsche mir nichts, kaufe lieber den Kindern etwas Schönes.“
Henning taten ihre Worte in der Seele weh, aber genau dasselbe hatte er für sich längst ebenso entschieden.
 Wo blieb da noch Weihnachtsfreude?
 
Am nächsten Morgen erzählte ihm Erika von Weihnachtsfesten nach dem Krieg, als ihre Oma auch nur mit wenig auskommen musste. Doch immer hatte es, nach den Erzählungen ihrer Mutter, am Heiligabend ein Festmahl gegeben, denn ein befreundeter Fischer hatte stets einen Karpfen gebracht. Henning stellte sich vor, welch eine Freude die Oma gehabt haben musste, wenn sie den Kindern zumindest ein besonderes und reichliches Essen auf den Tisch stellen konnte.
 
In der nächsten Nacht grübelte er lange über die Erinnerung seiner Frau.
Am Morgen bestieg er sein Fahrrad und fuhr aus der Stadt zu einem abgelegenen Ort. Dort waren Fischteiche eines Angelvereins.
Er beobachtete, wie die Angler, wenn ein dicker Fisch angebissen hatte, ihn vorsichtig vom Haken befreiten und in einen Eimer mit Wasser steckten.
 
Auf dem nächsten Wochenmarkt ging er zu einem Fischstand und fragte nach Karpfen. Sie waren unerschwinglich teuer, aber das hatte er schon vermutet. Er fragte, wie die Fische im Becken bis Weihnachten am Leben blieben. Der Fischhändler belehrte ihn, dass die Karpfen erst einmal in frischem Wasser einige Tage leben müssten, um ihren eventuellen Modergeschmack loszuwerden. Sie brauchten nichts zu fressen – oder nur wenig Fischfutter, abhängig davon, wie schnell die Kunden ihm die Karpfen aus den Fingern reißen würden.
 
Zwei Nächte später schlich Henning aus der Wohnung, setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr zu einem der Teiche. Er hatte keine Angel, wohl aber eine Schnur mit einem Haken. Den warf er einfach ins Wasser, in der Hoffnung, sein Unterfangen würde gelingen. Und tatsächlich, ein Fisch biss an. Er kämpfte hartnäckig, aber schließlich schaffte Henning es, ihn in seinen Eimer zu bekommen.
Frohgemut fuhr er nach Hause. Unter der Lampe löste er ihm mit klammen Fingern den Haken aus dem Maul und setzte ihn dann in die halbgefüllte Badewanne. Zufrieden legte er sich ins warme Bett.
 
Am nächsten Morgen weckte ihn ein Panikschrei aus dem Badezimmer. Was war denn  los? Seine Frau stand mit beiden Händen vor dem Mund und starrte in die Badewanne. Der Karpfen schwamm eine Runde nach der anderen, sehr zur Begeisterung der Kinder, die nun auch herbeigeeilt waren.
„Warum ist ein Fisch in der Wanne?“, wollte die ewig neugierige Ella wissen.
„Das ist unser Weihnachtskarpfen, den gibt es Heiligabend zum Abendbrot.“
Erika sah ihn strafend an, sagte in Gegenwart der Kinder aber nichts.
„Dürfen wir nachher mit ihm spielen?“, wollte der kleine Berni wissen.
„Mit Essen spielt man nicht“, rügte Henning in strengem Ton, „das wisst ihr doch.“
Die Enttäuschung der beiden Kleinen war groß.
 
Drei Tage später betrat Henning unvermutet das Bad. Die Kinder hielten ihre Hände in die Badewanne und berührten den Karpfen. Es sah aus, als streichelten sie seinen schuppigen Körper. „Guck mal, Papi, Kuno ist ganz lieb zu uns.“ O je, jetzt hatten die Kinder dem Tier auch schon einen Namen gegeben!
Noch drei Tage, dann musste er den Karpfen heimlich schlachten. Aber Erika war energisch dagegen. „Du nimmst den Kindern alle Weihnachtsfreude, wenn du ihren Freund tötest“, sagte sie ernst. „Sie haben sich schon so an ihn gewöhnt. Sie planen irgendetwas, tun geheimnisvoll und freuen sich unbändig auf Heiligabend.“
„Na gut“, murmelte Henning ein wenig erleichtert. Er war froh, dass er nicht Hand an den Fisch legen musste, denn genau kannte er sich im Schlachten von Fischen nicht aus.
 
Aus der Küche roch es verführerisch nach Zimt und Äpfeln, als er den Tannenbaum mit Hilfe der zappeligen Kinder geschmückt hatte. Was es wohl zu essen gab? Erika hatte den Küchentisch liebevoll gedeckt, mit Tannengrün geschmückt und trug nun eine Schüssel auf. Es gab Milchreis mit Apfelstücken darin, reichlich mit Zimt und Zucker bestreut.
Ella und Berni schlangen das Essen hinunter und mussten sich gegen ihre Gewohnheit unbedingt die Hände waschen. Nach einer Weile riefen sie die Eltern ins Bad.
 Auf dem Badewannenrand stand eine Reihe brennender Teelichte. In einer Ecke hatten sie ein kleines Marmeladenglas mit Tannenzweigen aufgestellt. Daneben lag eine Tüte mit Fischfutter. Die Kinder stimmten „O Tannenbaum“ an.
Henning griff heimlich nach Erikas Hand und drückte sie. Er hatte Tränen in den Augen, deshalb sah er seine Frau nicht an.
„Das ist das Schönste dieses Jahr“ quetschte er mühsam hervor, „frohe Weinachten uns allen.“
Die Kinder merkten gar nicht, wie er ihnen über die Haare strich.
 
 
© I. Beddies



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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