Christina Telker

Mitten im Winter



Lange ist es her, dass der alte Bert, man nannte ihn den Einsiedler, hier im Walde wohnte, und doch erzählen sich die Menschen immer noch von ihm. Eine Generation gab die Geschichte an die andere weiter.

Sein Leben lang hatte er im Walde gearbeitet. Als Köhler kannte er jeden Baum und jeden Strauch. Die Tiere des Waldes hatten keine Scheu vor ihm. Jeden Winter war er in den Wald gegangen, um die Futterraufe zu versorgen, die er für die Tiere gebaut hatte. So entdeckte er eines Tages, als es ihn weiter als sonst in den Wald zog, ein kleines Haus. ‚Das wäre etwas für meine alten Tage‘, dachte er so bei sich. Seit dem zog es ihn immer wieder zu diesem Platz. Er erkundete, was es mit dem Haus auf sich hatte und erfuhr, dass die Besitzer vor langer Zeit verstorben waren und es keine Erben gäbe. Eines Tages würde der alte Kasten verfallen, meinten die Leute im Dorf. So fasste sich Bert ein Herz und sprach beim Dorfschulzen vor. Dort war man froh, dass der Alte sich dieses Gebäudes annehmen wolle und händigte ihm gerne die Schüssel aus. Nun konnte Bert die Besichtigung kaum noch erwarten und machte sich am nächsten Samstag auf den Weg. ‚Was würde ihn wohl erwarten? ‘, überlegte er immer wieder. Viele Fragen stellte er sich in dieser Zeit, so vergingen die Tage bis zum nächsten Wochenende wie im Fluge.

Wie staunte er, als er beim Betreten des Hauses feststellen musste, dass es bis auf den Staub, der sich auf die Möbel gesetzt hatte, wunderbar erhalten und geschmackvoll eingerichtet war. ‚Da brauche ich meine alten Möbel gar nicht mehr mitschleppen‘, gingen seine Gedanken. Er besah sich den kleinen Keller und den winzigen Schuppen und war ebenfalls von allem sehr angetan. Er freute sich schon auf die Abende bei Kerzenschein. Der Herd und der Ofen waren ebenfalls in sehr gutem Zustand. Alles was er sah, stimmte ihn fröhlich. So machte er sich in der kommenden Woche auf den Weg zum Schulzen, um den Vertrag zu unterschreiben. Nun war er stolzer Hausbesitzer. Von nun an gab es kein Wochenende mehr, an dem der Alte nicht in seinem Haus verbrachte. Zuerst einmal wurde geputzt und gewienert. Dann ging er daran, es sich nach seinen Vorstellungen einzurichten. Schon nach wenigen Wochen hatte er sich eingelebt. Abends saß er vor der Tür und erfreute sich an der Natur.

Viele Jahre lebte Bert nun schon in seinem Waldhaus. Ab und zu schauten Wanderer bei ihm vorbei, die gerade hier entlang kamen. Sie waren verwundert darüber, wie man so abgeschieden leben konnte. Kamen sie jedoch mit dem alten Mann ins Gespräch, waren seine Zufriedenheit und seine stille Heiterkeit so ansteckend, dass sie gerne zum Kaffee blieben und beim Waldhaus eine Pause einlegten. Wieder einmal stand der Winter vor der Tür, eine Jahreszeit, in der die Besuche der Wanderer seltener wurden, bis sie ganz ausblieben. Bert störte das nicht, er war mit sich und der Natur im Einklang. So wunderte er sich, als es eines Winterabends an seine Tür klopfte. Als er öffnete stand ein durchgefrorener Handelsmann vor ihm. Er hatte sich im aufkommenden Nebel verlaufen und war froh, plötzlich mitten im Wald ein Licht zu sehen. Erst konnte er es kaum glauben, dann erkannte er jedoch, dass es keine Täuschung war. Beherzt ging er darauf zu, war es doch die einzige Möglichkeit an diesem Abend noch eine Obhut zu finden. Gerne lud ihn der alte Mann ein sein Gast zu sein. Schnell brühte er einen heißen Kräutertee und bewirtete seinen Gast mit Essen und Trinken.
Am nächsten Morgen, als die Sonne den Wald erhellte, erklärte Bert seinem Gast, den Weg in das nächste Dorf. Zum Abschied schenkte ihm dieser ein paar Samenkörner mit den Worten: „Pflege und bewahre sie, so wirst du deine Freude daran haben und ein Wunder sehen.“ Bert bedankte sich und legte die Samenkörner in einen leeren Blumentopf. ‚Im Frühjahr werde ich sie neben meiner Bank vor dem Haus aussäen. Mal sehen was daraus wird‘, nahm der Alte sich vor und vergaß bald die Worte des Gastes.

Der Frühling zog ins Land, wie freute sich Bert an dem Gesang der Vögel, daran wie nach und nach der Wald erwachte und sein grünes Kleid anlegte. Jetzt konnte er auch wieder auf seiner Bank im Freien sitzen. Als er sich so umsah, dachte er plötzlich an die Samenkörner, die sein winterlicher Besucher ihm geschenkt hatte. Schnell holte er sie und legte sie in die Erde, neben seiner Bank. ‚Hier könnte ruhig etwas Grün entstehen, ich bin schon gespannt was sich daraus entwickelt‘, dachte der Alte.
Die Monate vergingen, der Frühling ging in den Sommer über, der Wald stöhnte unter der Hitze und Trockenheit. Immer wieder einmal streifte der Blick des alten Bert die Stelle neben seiner Bank, wo er den Samen der Erde übergeben hatte. ‚Nichts, nichts‘, dachte er. ‚Mit Freude und Wunder war wohl nicht viel‘, meinte er so zu sich selbst, ‚aber manchmal klappt es halt nicht mit dem Samen. Das konnte der Händler ja auch nicht wissen".
Der Herbst zog ins Land und färbte den Wald mit all seinen Farben. ‚Gibt es denn etwas Schöneres, als die Jahreszeiten so hautnah zu erleben‘, freute sich der Alte, wenn er seine täglichen Spaziergänge unternahm. Nie bereute er den Entschluss sich hier niedergelassen zu haben.

Wieder war es Winter geworden. Der Samen war längst vergessen. Weihnachten stand vor der Tür. Hierfür bereitete der Alte den Waldtieren stets ein besonders reichhaltiges Mahl. Auch sie sollten diesen Heiligen Abend als etwas Besonderes empfinden. Abends trat er vor die Haustür, um in die Sterne zu sehen, die bekanntlich in dieser Nacht ganz besonders schön erstrahlen. Aber was war das? Hatte er etwas liegen lassen als er das Futter für die Tiere vorbereitete. Da lag doch etwas im Schnee. Bert bückte sich, um genauer hinzusehen. Und was entdeckte er? Ein Wunder war geschehen! Zu der Zeit, wo die Natur schlief, alle Pflanzen sich zur Winterruhe begeben hatten, blühte neben seiner Bank im Schnee eine Blume. Sie sah so schön in ihrer leuchtend weißen Blüte mit ihren grünen Blättern aus, dass der Alte nur sprachlos staunen konnte. Nie hatte er eine solche Blume gesehen. Das Geschenk seines winterlichen Gastes war für ihn zu einem Weihnachtsgruß geworden. „Da du am Christtag erblüht bist, werde ich dich ‚Christrose‘ nennen“, sprach Bert zu der Blume. Lange konnte er sich an der Blüte der Blume erfreuen. Als der Frühling wieder ins Land zog, legte sie sich schlafen. Aber der Alte wusste, zur nächsten Weihnacht würde sie ihn wieder erfreuen und dafür war er seinem Gast stets dankbar.

In den folgenden Jahren schenkte der Alte den Menschen, die ihm besonders am Herzen lagen ein paar Samen. So breitete sich die Christrose aus und war bald in vielen Gärten zur Weihnachtszeit zu sehen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.09.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Meine Gedanken bewegen sich frei von Andreas Arbesleitner



Andreas ist seit seiner frühesten Kindheit mit einer schweren unheilbaren Krankheit konfrontiert und musste den größten Teil seines Lebens in Betreuungseinrichtungen verbringen..Das Aufschreiben seiner Geschichte ist für Andreas ein Weg etwas Sichtbares zu hinterlassen. Für alle, die im Sozialbereich tätig sind, ist es eine authentische und aufschlussreiche Beschreibung aus der Sicht eines Betroffenen.

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